Es ist fast vier Uhr morgens, und ich schreibe dir, Mattia.

Es ist schon das fünfte Mal, dass ich es versuche, aber diesmal habe ich beschlossen, bis zum Ende durchzuhalten, diese Gedanken nicht noch einmal im Altpapier zu entsorgen. Ich weiß, es wird ein unvollkommener, ungenauer und verspäteter Brief werden, voller Schuldgefühle und Auslassungen, Zögern und Fehler. Aber auch das Leben ist so.

Es ist nicht einfach, einem Sohn das zu schreiben, was ich dir zu sagen habe, die eigenen Schwächen und Beweggründe offenzulegen und endlich so ehrlich zu sein, wie ich jetzt sein will.

Wo soll ich anfangen, Mattia?

Laut und deutlich höre ich deine Stimme. Du würdest sagen: Bei der Wahrheit.

Denn in deinem Alter, das weiß ich wohl, gibt es nur Wahrheiten und Lügen. Genauer: Wahrheit oder Lüge. Gegensätze, die immer absolut daherkommen. Wie auch alles andere: Liebe oder Hass, grauenhaft oder supertoll, Akzeptanz oder Ablehnung, Makellosigkeit oder totaler Dreck, Gipfel des Paradieses oder Abgrund der Hölle. Kein Verständnis für Grautöne, null Toleranz für Abstufungen.

Kein Raum für das Fegefeuer.

Aber das Leben, glaub mir, Mattia, ist vor allem Fegefeuer. Seltene Höhenflüge und ein paar Abstürze, die wehtun. Und dazwischen, in unsicherem Gleichgewicht, nur wir und unser Voranschreiten, manchmal schlingernd, manchmal stabil, ein wenig gestützt durch die ebenso unsicheren Schritte derer, die du liebst und die auch taumeln, die dich lieben und die schlingern wie du. Es

Wenn du hier wärst, hier vor mir, hättest du vielleicht längst schon die Ohren zugeklappt, mir wie immer Absurdität und Kulturschikane vorgeworfen und mich auf deine Art ermahnt: Nerv nicht. Komm zur Sache.

Also versuche ich das jetzt. Ich versuch’s, und wenn ich brutal sein muss.

Deine Mutter und ich haben uns kennengelernt, als wir genauso alt waren wie du jetzt. Fünfzehn, Mattia, zwei Kinder. Sitznachbarn im Gymnasium. Geheiratet haben wir mit 24, gleich nach dem Studium. Du warst gewollt, dann herbeigesehnt, und als du endlich geboren wurdest, fühlten wir uns bereichert, du hast unser Leben perfekt gemacht. Das waren gute Jahre. Nein, mehr: glückliche Jahre. Und die kann uns keiner nehmen.

Was dann bloß passiert ist, fragst du?

Es ist passiert, was nach dem Ende des Märchens passiert. Etwas ganz Einfaches und Kompliziertes, unvorhersehbar und absehbar: Das Leben ist passiert, Mattia.

Das Leben geht weiter, und du gehst mit und kannst nichts dagegen tun.

Du kannst die Richtung wählen, kannst dir natürlich ein Ziel aussuchen, entscheiden, wie du dich verhalten willst, während du vorwärtsgehst, aber alles andere kannst du nicht kontrollieren: die scharfen Kurven, die Ungewissheit bei jedem Schritt, die kraftraubenden Steigungen und tückischen Abstiege, die brennende Sonne und den Regen, die Abgründe aus Schmerz und ob du den Weg halten kannst, wenn du dich vom Schmerz erholt hast.

Und dasselbe gilt für die Liebe. Die mächtigsten Gefühle gehorchen keinem Befehl.

Ich kann es nur so sagen, ohne Ausreden und mildernde Umstände: Deine Mutter und ich lieben uns nicht mehr.

Reicht das? Kann sein. Wahrscheinlich reicht es vielen. Aber mir hat es nicht mehr gereicht.

Weil ich Isabella getroffen habe.

Ich will dir nicht von ihr erzählen, will dir nicht auf diesem Blatt noch mehr Gelegenheit für deinen Groll liefern, das verdient sie nicht. Vielleicht wirst du irgendwann – ich sage, vielleicht –, wenn du sie schließlich kennenlernst, feststellen, dass sie eine tolle Frau ist. Aber dafür ist es zu früh. Viel zu früh, das weiß ich.

Ich kann sie mir vorstellen, Mattia, all die Fragen, die du mir stellen willst. Also versuche ich, dir zu antworten.

Wir haben uns vor einem Jahr verliebt. Sie ist jünger als ich, aber nicht viel. Ich weiß nicht, ob ich euch je verlassen hätte, wenn es nicht dieses Kind gäbe. Aber dieses Kind ist da, und ich will ernsthaft versuchen, ihm all die Liebe zu geben, von der ich weiß, dass ich sie dir immer gegeben habe.

Siehst du, ich habe es versucht, ich habe dir alles erzählt. Aber das ist nur meine Wahrheit. Denn jeder von uns lebt sie für sich, die Wahrheit seines Lebens. Jeder hat seine eigene Wahrheit, so wie jeder sein eigenes Leben hat. Ich könnte dir noch viel schreiben, aber ich stelle mir vor, dass es nicht viel ändern würde an dem, was du jetzt fühlst: Wut, Schmerz, sehr viel Enttäuschung. Ich weiß, dass du hinzufügen würdest: Hass. Ein Wort, das man oft benutzt, in deinem Alter. Aber das ist ein Missverständnis, Mattia.

Das ist kein Hass, was du fühlst. Es ist nur der ungelöste

Lass nicht zu, dass dich Unnachgiebigkeit nachtragend macht wie einen allzu strengen Richter. Du bist noch zu jung, Mattia, um der Verlockung des Grolls zu erliegen.

Genug jetzt, hier höre ich auf. Mehr ist es nicht. Nein, etwas habe ich noch.

Ich habe es für deinen 15. Geburtstag geschrieben, aber da war unsere Familie schon in der Krise, und ich habe nie den Mut aufgebracht, dir diese Verse zu geben.

Jetzt kannst du damit machen, was du willst: dich bemühen, sie zu lesen und zu verstehen, oder sie beiseite legen, um sie vielleicht irgendwann zu lesen, wenn du sie verstehen kannst und willst.

Ich kann dir nur sagen, dass ich sie mit der ganzen Liebe eines Vaters geschrieben habe, der sich schuldig fühlt und der mit seinem Sohn so ehrlich sein will, wie es ihm möglich ist, in seiner ganzen Menschlichkeit: einer Menschlichkeit aus Fehlern und Schwächen, Egoismus und Widersprüchen, Mut und Feigheit.

 

Notizen für unvollständige Zehn Gebote

 

Erstens: Lerne mit geschlossenen Augen zu sehen
und die ganze Bandbreite zu hören, die Töne im Exil
an den Rändern des Klangs.

Zweitens: Stimme immer deine Schritte
mit denen ab, die zurückbleiben, dein Herz
mit dem schwächsten der Herzen.

Drittens: Vergeude deine Fehler nicht.
Press den Groll heraus, dann
destilliere geduldig einen Teil Mensch
und zwei Teile Demut, mindestens.

Fünftens: Verprasse nicht deine Zeit.

Sechstens: Kleide dich in Erinnerung
wie in eine Haut unter deiner Haut:
Oft mag sie dir Ballast sein, aber
viel öfter wird sie dich schützen.

Alles andere musst du allein entdecken.
Du wählst Tempo und Richtung, den Wechsel
zwischen den Nebeln der Ebene und hohen Horizonten,
der Vertikalen.

Doch auch wenn es nicht hoch fliegt, das Leben:
Versuch ihm nicht allzu sehr wehzutun.

 

Ich habe dich lieb

 

Papa