Wir sind ein Kanalufer entlanggerannt, quer über die Piazza delle Erbe, dann unter den Arkaden der schlafenden alten Palazzi hindurch, und schließlich an einem vertrauten Ort gelandet, der für mich immer Zuhause war: der Brunnen vor der Kirche, der große graue Platz mit den Tauben, wo Mama mit mir als Kind immer hinging, die Umrisse der Loggia del Lionello im Lichtschein der Laternen.
Jetzt, mitten in der Nacht, erkenne ich sie kaum wieder, diese leere, unbekannte Stadt.
Mein Instinkt hat mich in die Altstadt geführt. Hier ist alles beleuchtet, sicherer. Hier fühle ich mich am wohlsten, und hier wollten meine freigelassenen Beine mich und Jemand hinbringen.
In diesem milchigen leichten Dunst erscheint die Welt gleich besser, oder vielleicht auch nur ein bisschen weniger gemein.
Wir setzen uns ganz hinten in die offene Säulenhalle der Loggia, in eine dunkle Nische. Hochgezogene Beine, Arme auf die Knie, Rücken an die Wand.
Aus dem Keuchen wird wieder Atmen. Neben mir einige Hustenstöße. Müdigkeit, die mit der Entspannung kommt. Auf dem Uhrturm beginnen die zwei bronzenen Bärtigen, an der zwischen ihnen aufgehängten Glocke die Stunde zu schlagen.
In der Stille, die alles einhüllt, folgt auf jedes metallische Gong ein Echo.
Vier Mal Gong. Vier Echos. Ich bin noch nie bis vier aufgeblieben. Normalerweise schlafe ich um diese Zeit tief und fest.
Ich ziehe die Wasserflasche aus meinem Rucksack und reiche sie Jemand, der trinkt. Dann gieße auch ich einen großen Schluck in mich hinein, und nach dem ersten gleich noch einen.
So bleiben wir, ohne zu sprechen, versunken in die Merkwürdigkeit dieser neuen Situation. Es ist nicht wirklich Unbehagen. Nein, nur Verwunderung. Was mache ich hier mitten in der Nacht mit einem völlig Fremden? Nicht nur Fremden: einem Illegalen.
Aber wenn ich an diesen vergangenen Tag denke, den längsten meines Lebens, stelle ich fest, dass es darin keine Logik gibt. Nichts ist mehr an seinem Platz, nach diesem unvorhergesehenen Lauf der Dinge. Von einem bestimmten Moment an begann sich plötzlich alles in einem immer wilderen Tempo zu drehen, wie im Tanz dieser Derwische, die ich einmal im Fernsehen gesehen habe.
Dann kann man genauso gut einfach loslassen. Sich dem Leben ergeben, wie es kommt.
Dein Kopf platzt gleich? Lass ihn platzen. Umherschießende Gedanken? Schieß mit ihnen umher.
Mein Sumo-Gleichgewicht ist längst hinüber.
Jetzt muss ich Improvisation lernen.
So früh am Morgen habe ich meine Stadt noch nie gesehen. Ich betrachte sie mit neuen Augen.
Den weißen und rosa Stein der Loggia, die rhythmische Anordnung der Säulen und Öffnungen in den Bögen und Fenstern, den Portikus am Fuß des Schlosses, die pflanzenumwucherte steinerne Treppe an der Seite des Schlosshügels. Ein umschlungenes Paar geht vorbei. Eine Katze streift um eine Säule und markiert ihr Territorium mit einem zufriedenen Spritzer. Im letzten Stock eines Gebäudes geht ein Licht an und wieder aus. Eine schlaflose Taube fliegt vom Balkon eines Hauses auf.
Dann höre ich die Stimme von Jemand. Er spricht Englisch. Überraschung.
»Thank you … for your help.«
»Woher kommst du?«, frage ich. Ich spreche auch nicht schlecht Englisch.
»Ich komme aus Kabul.«
Ich drehe mich um und schaue ihn an.
Die zottelige Mütze reicht ihm bis unter die Ohren. Jemand zieht sie noch weiter runter. Ein Schal um den Hals, die Windjacke zwei Größen zu groß, die Hände in Wollhandschuhen, alte, durchgelaufene Turnschuhe.
Im Dämmerlicht und diesem Michelin-Männchen-Look lässt sich kaum erkennen, wie alt er ist.
Aber er sieht wirklich sehr jung aus.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Aziz. Du?«
»Mattia. Wie alt bist du?«
Er zögert.
»Zwölf … bald zwölf.«
Er ist tatsächlich noch ein Kind. Stille.
Was gibt es noch zu sagen? Was haben wir beide gemeinsam? Worüber könnten wir sprechen?
Vor uns auf ihren Podesten glänzen die Statuen von Herkules und Cacus mit Lichteffekten auf ihren regennassen nackten Körpern. Muskeln und Speck, prall und protzend. Schönheitsideale verändern sich, hat uns Turchetti in einer Stunde erklärt: Für uns ist diese Üppigkeit nur Fett, in der Antike stand sie für Kraft und Gesundheit.
Da fällt mir etwas ein, woran ich gleich hätte denken können.
»Hast du Hunger?«, frage ich Aziz.
Er nickt. Kompliment. Du bist wirklich einzigartig, Mattia. Und jetzt, wo du es weißt, was willst du jetzt machen? Hast du irgendetwas, das du ihm anbieten kannst, du großes Gastro-Genie? Dann aber erinnere ich mich, dass es in der Stadt einen Supermarkt gibt, einen einzigen, der auch nachts geöffnet ist. Ich stehe auf. Nehme den Rucksack.
»Ich bin gleich zurück«, sage ich. »Rühr dich nicht weg. Warte hier auf mich.«
Er starrt mich ängstlich an, mit erschrockenen Augen, und zieht wieder an dieser Mütze, die ihm niemals jemand klauen würde. Vielleicht ist das eine Macke, oder eine Art Tick. Ich ahne, was er denkt: dass ich ihn loswerden will, dass ich ihn hier sitzen lasse.
Vertrauen ist das einzige menschliche Lebenselixier, hat mein Opa einmal gesagt: Es nährt alle zwischenmenschlichen Beziehungen, aber es muss seinerseits genährt werden. Einverstanden, aber dafür habe ich keine Zeit. Und Geduld noch weniger.
Also nehme ich mein Handy und drücke es Aziz in die Hand.
»Das bleibt bei dir. Ich verlasse mich auf dich!«
Er starrt mich an. Scheint verblüfft. Dann versteht er wohl. Er lächelt. Und nickt.
In drei Sätzen springe ich die Treppen hinab, schon renne ich wieder auf der Straße und unter den Arkaden der Via Mercatovecchio, weiche mit langen, kreativen Schritten den Pfützen und meiner Müdigkeit aus.
Danach fliege ich im Sauseschritt zur Basis zurück, in meinem Rucksack neuen Proviantnachschub und neue Nahrung für das Vertrauen. Wir teilen alles durch zwei: das belegte Brot, die Kekse, die Äpfel, die Chipspackung. Die Köpfe gegen die Wand gelehnt, schweigsam vor Hunger, unsere Handschuhe neben uns abgelegt, am Rand einer Treppenstufe.
»Bist du allein hier?«, frage ich kauend. Wir haben fast alles verputzt.
Wenn mein Bauch voll ist, erscheint mir die Welt besser.
Er zögert. Hört auf zu essen. Dreht sich nicht zu mir um. Lässt den Kopf hängen.
»Mein Vater ist bei mir«, sagt er langsam. »Und mein Onkel. Aber sie müssen erst … ankommen.«
Das scheint mir nicht ganz klar, aber ich beschließe, nicht nachzufragen. Der entscheidende Punkt ist ein anderer. Ich würde das wirklich gern alle fragen, die hierherkommen:
»Warum bist du nicht zu Hause geblieben?«
Er schaut mich an. Wieder verblüfft.
»Ich konnte nicht. Dort ist Krieg. Terror.«
Ich mache die Chipspackung leer, indem ich mir den Rest in den Mund kippe.
Seltsam, wie leichtherzig man manche Fragen stellen kann, während man Chips knabbert und Coca-Cola nachgießt.
»Und deine Mutter? Bleibt sie in Kabul?«
Seltsam, wie manche Antworten ein leichtes Herz in einen Klumpen verdutzter Scham verwandeln, deinen Arm in der Luft hängen lassen, die Coladose vor dir wie eine Minidrohne, die den Heimweg vergessen hat.
Es gibt keine richtige Art, bestimmte Dinge zu sagen. Daher muss man sie entweder schnell sagen oder gar nicht.
Aziz sagt es schnell. Es sind nur wenige Worte.
»Meine Mutter wurde getötet.«
Seine Mutter wurde getötet.
Der ganze Rest ist nichts als Lärm. Wo, wann, wie: nebensächlich. Hintergrund ohne Bedeutung. Sogar das Warum zählt wenig.
Seine Mutter wurde getötet.
Jedes Detail ist Ketzerei, vor einer Wahrheit wie dieser.
Ich schaue Aziz an. Aziz schaut mich an.
Vor der Ungeheuerlichkeit dessen, was er gesagt hat, finde ich kein einziges Wort, das in diesem Moment Sinn ergäbe, in diesem exakten Augenblick der Nacht, auf dieser versteckten Treppenstufe, in dieser Vertrautheit, die gerade erst entstanden ist wie eine frische Blüte nach dem Gewitter.
Also nehme ich seine Hand. Und drücke sie fest. Das ist alles.
Aziz zuckt leicht zusammen. Wie es wilde Katzen tun, wenn sie unsicher sind, ob sie vertrauen oder davonlaufen sollen, wenn du sie ungelenk streichelst und mit erfundenen Namen rufst. Aber seine Hand rührt sich nicht. Sie bleibt meiner anvertraut. Meinem Griff ausgeliefert, zusammengedrückt.
Seine Augen werden feucht und bleiben an mir haften, für einen Moment, der mir ewig erscheint und angefüllt ist mit einer so großen Stille, dass Milliarden und Abermilliarden von Worten darin Platz fänden.
Dann zieht sich diese Hand langsam zurück. Mager und kalt fühle ich sie durch meine gleiten, sich ihr zögerlich entziehen.
Einen Augenblick bleibt er so unbeweglich, dass er aussieht wie eine Statue mit Windjacke, dann zieht er sich diese hässliche Mütze herunter bis über die Ohrläppchen, als wäre sie ein mittelalterlicher Helm, der ihn vor der Welt beschützen kann.
In meinen Gedanken taucht eine Erinnerung auf: der Tag, an dem Opa Arturo starb.
Als Papa es mir sagte, war ich gerade aus der Schule gekommen. Und ich musste mich sofort hinsetzen, weil die Küche um mich herum anfing sich zu drehen, sich in Punkte und Linien und Lichter aufzulösen, in Farbprismen zu wirbeln. Formen, die zu anderen Formen wurden, ein Fieber aus Flächen und Löchern, Welt ohne Achse, aus dem Gleichgewicht.
Aber mein Opa starb an einem Herzinfarkt, nach einem friedlichen, langen Leben.
Wie findet eine Welt ihre Achse wieder, in der deine Mutter getötet wurde?
Ich schaue hoch. Ins Weite. Der Regen hat alles sauber gewaschen. Der Platz vor der Loggia liegt da wie ein leerer Ring, umgeben von Schatten und allerersten Morgenlichtern.
Dann reicht ein Nichts, um mich auf die Erde zurückzuholen und in der Gegenwart aufschlagen zu lassen.
Die Sirene eines Rettungswagens, die die Stille durchbohrt. Die zwei Bärtigen, die mit ihren lang gezogenen, altertümlichen Gongs fünf Uhr schlagen. Ein Roller, der beim Vorbeifahren an einer Kante und einer Laterne entlangschrammt. Ein Polizeiauto, das langsam über den Platz schleicht, auf seiner städtischen Kontrollrunde.
Ich drücke mich instinktiv flach an die Wand unserer Schatten und Schutz bietenden Nische.
Ich fühle, dass Aziz neben mir dasselbe macht. Still und unbeweglich sitzen wir nebeneinander, bis das Auto weg ist.
Wir bleiben noch ein bisschen so hocken.
Dann springe ich auf die Füße. Zeit zu gehen. Alles, was ich bis jetzt gemacht habe, war schon riskant genug. Jetzt muss ich sofort zurück, heim in meinen Bunker. Und ciao.
»Ich muss gehen«, sage ich zu Aziz, »und ich kann dich nicht mitnehmen.«
Er antwortet nicht, keinen Mucks, protestiert nicht. Keine sichtbare Reaktion.
»Ich habe meine eigenen Probleme«, füge ich also hinzu und kratze eine Wange, die nicht juckt.
»Ja, ich weiß.«
Er scheint wirklich zu verstehen.
»Du weißt?«
»Keiner ist nachts draußen, im Winter. Das heißt. Keiner außer den Illegalen.«
Tatsächlich. Er ist nicht dumm. Es tut mir zwar leid für ihn, aber na ja. Ich bin der Letzte in der ganzen Stadt, der ihm helfen könnte.
»Viel Glück«, sage ich zu ihm und werfe den Rucksack über eine Schulter.
Er nickt langsam. Es sieht aus wie eine Art Verbeugung.
»Viel Glück auch dir.«
Ich gehe los. Dann erinnere ich mich an etwas. Ich krame im Vorderfach des Rucksacks. 20 Euro sind noch da. Zehn reiche ich Aziz. Er nimmt sie nicht. Er schaut mich an. Jetzt sieht er ernst und würdevoll aus, und mit diesem ernsten und würdevollen Ausdruck macht er seine Augen ganz schmal, als wollte er mich aufmerksamer, klarer in den Blick nehmen, Abstand und Hindernisse überwinden, um mich aus der Nähe zu betrachten.
»Nein«, sagt er dann mit fester Stimme. »Nein. Ich bin kein Bettler. Aber danke für dein Essen.«
Falsches Signal? Zu plumpes Angebot? Verstoß gegen afghanische Benimmregeln? Oder ein Mix aus allem?
Ich habe keinen blassen Schimmer. Wenn ich ihn beleidigt habe, tut mir das leid, amen. Damit ist es aber auch gut. Ich winke noch einmal und bin weg.
Auf der obersten Stufe der Seitentreppe drehe ich mich zu ihm um.
Er bewegt sich nicht. Er ist nicht mal aufgestanden. Er sieht noch verlorener aus als vorhin.
Kleines alarmierendes Sdeng in der Magengrube. Noch ein Sdeng.
Auf keinen Fall. Gar keinen Fall. Gar gar keinen Fall. Ich kann nichts weiter für ihn tun. Es gibt ja auch noch die Caritas, richtig? Und die Polizei, Aufnahmezentren, Betreuer aller Art, die Kaserne, in der die anderen Afghanen leben, das Krankenhaus, falls ihm was fehlt.
Ich renne die Stufen hinunter.
Ich muss los.
Mit der Hand am Geländer halte ich an. Es ist feucht. Eisig kalt. Ein Stück weiter drüben scheißt eine Taube. Langsam gehe ich eine Treppenstufe wieder hoch.
Mattia, mach keinen Quatsch.
Ich gehe wieder runter.
Gut so. Bravo. Jetzt geh.
Meine Füße gehen wieder hoch. Eine Treppenstufe, zwei, drei.
Mattia, was du da machst, ist Quatsch. Riesig wie das Empire State Building. Rasend wie ein Jumbo Jet.
Aziz sitzt an die Wand gelehnt. Den Kopf zwischen den Armen, die Arme auf den Knien, schaukelt er ganz langsam vor und zurück. Ich glaube, er murmelt etwas. Vielleicht betet er. Vielleicht spricht er mit sich selbst. Ich glaube nicht, dass er mich bemerkt, bis ich neben ihm stehe und ihn an der Schulter berühre. Er zuckt zusammen, sieht erschrocken hoch.
Ich setze einen Machoblick auf, Typ echt europäischer Rambo.
»Okay. Du kannst mitkommen. Aber nur für heute Nacht, hast du verstanden?«
Er lächelt. Er hat ein ansteckendes Lächeln.
»Aber nur für heute Nacht. Ich habe verstanden.«
Macht steigt einem sofort zu Kopf. Ich antworte mit einem trockenen Kopfnicken, so Hugh Glass in The Revenant. Auch ich bin ein abgebrühter Einzelkämpfer in einer feindlichen, abgefuckten Welt. Auch ich habe persönliche Rache zu nehmen, konsequent bis zum bitteren Ende.
»Und sieh zu, dass du hinter mir bleibst. Ich habe keine Zeit zu verlieren, klar?«
Aziz antwortet angemessen knapp mit einem Nicken.
Dann gehen wir gemeinsam los, mit schnellem Schritt. Er muss ein bisschen traben, aber er folgt mir.
Noch immer verlassene Straßen, Dunkelheit um fünf Uhr morgens Ende Februar, ein halb voller Fahrradfahrer auf dem Heimweg, Kälte, die immer noch nicht nachlässt.
Und da Fortuna immer blind ist, das Pech aber Augen wie ein Scharfschütze hat, fängt es jetzt wieder an zu regnen.