Es regnet, es ist kalt und der Wind geht.

Ich kenne den Jungen nicht, der mich führt, und ich weiß nicht, wohin er mich bringen wird.

Aber er rennt, und ich renne ihm nach.

 

Die Kraft kommt aus den Füßen.

Bis jetzt haben sie mich nie im Stich gelassen.

Und während ich renne, denke ich an eine Schlacht.

Oma Nadira hat mir oft von ihr erzählt, der alten Schlacht von Maiwand.

Vielleicht sollte mir diese Geschichte neue Kraft geben, wenn mir schien, als würde das Leben Krieg gegen uns führen.

Der Sieg in jener Schlacht ist einer jungen Kriegerin zu verdanken. Der Tochter eines einfachen Hirten. Einer Frau wie vielen: Malalai.

Ihr Vater und ihr Verlobter kämpften mit dem Sohn des Emirs gegen das britische Heer, und sie war ihnen gefolgt, um denen nahe zu sein, die sie liebte. Sie verteilte Wasser an die Kämpfer, kümmerte sich um die Verletzten.

Dann jedoch sieht es schlimm aus: Die Afghanen scheinen einer Niederlage entgegenzugehen.

Aber Malalai will nicht aufgeben. Sie beschließt zu handeln.

Doch es ist schwer zu entscheiden, wie sie helfen kann, die junge Tochter eines Hirten, die mehr über Lämmer weiß als über das Leben. Vielleicht ist es ihr Instinkt, der sie leitet, vielleicht die Verzweiflung. Sie wickelt sich in eine Fahne und wirft sich ins Kampfgeschehen, während sie laut ein Landai singt, ein Lied der

Und ihre Stimme steigt hoch und höher.

Es ist eine reine und starke Stimme, lauter als das Klirren der Klingen, lauter als die gebrüllten Befehle, lauter als das Schreien und Klagen und lauter auch als ihre Angst und all die Angst um sie herum.

Sie hören ihr Landai, die afghanischen Krieger. Und sie finden zurück zu Kampfgeist und Mut.

Sie schärfen ihre Waffen und werfen sich in die Schlacht, immer und immer wieder.

Und mit der Hilfe des Allmächtigen gelingt es ihnen, die Briten zu schlagen.

Aber Malalai wird getroffen.

 

An dieser Stelle der Erzählung ließ Oma eine Stille eintreten, die das Vorher und das Nachher der Geschichte voneinander trennte wie eine weiße, leere Zeile auf einer Buchseite.

 

Aber Malalai wird getroffen und stirbt.

Vielleicht tragen die Krieger, von Mitgefühl bewegt, ihren leichten Körper auf eine blühende Lichtung. Vielleicht aber liegt ihr blutiger Körper im Blut anderer Körper, und keiner kümmert sich um sie inmitten der Menge der Verwundeten.

Das hat Oma nicht erzählt. Ich weiß es also nicht.

Was ich weiß, ist, dass Dichter und Sänger seit damals und immer noch die Geschichte der stolzen Malalai erzählen. Von ihrer Liebe zu ihrem Mutterland. Von dem großen Opfer ihres Lebens.

Aber wer weiß, ob diese Geschichte wahr ist.

Ob das wirklich alles so war.

Oma sagt, dass gewisse Legenden dazu dienen, das nang, das Ehrgefühl, aufzublasen.

Und Stolz zu blinder Anmaßung eines Menschen gegen andere Menschen, oder eines Volkes gegen andere Völker.

Vielleicht hat Oma Nadira recht, aber diese Legende gefällt mir.

 

Der Tag der Schlacht war ein besonderer Tag für Malalai. Es war der Tag, an dem ihre Hochzeit stattfinden sollte.

Vielleicht erwartete sie diesen Tag ungeduldig, seit sie ein Kind war.

Vielleicht trug sie das schöne grüne Kleid, das jede Braut trägt, und den Schleier, der gerade nur ihr Gesicht bedeckte, und unter dem Schleier sahen ihre Zöpfe hervor, die Strähne für Strähne mit Harz aus duftenden Pflanzen gesalbt worden waren. Und ihre Handteller waren mit Hennamalereien geschmückt, vollkommen wie Stickereien.

Es war ein besonderer Tag für sie.

 

Heute ist ein besonderer Tag für mich.

Heute werde ich vierzehn Jahre alt.

Drei Jahre mehr als die gelogenen elf, die ich zu sein vorgebe.

Wenn Oma Nadira hier wäre, wäre sie sehr früh aufgestanden, um mir wie an jedem Geburtstag alle meine Lieblingsgerichte zu kochen: frittierten Reis mit Rosinen und Karotten, Mantu mit Hackfleisch, Bolani mit Auberginen. Und Huhn mit viel roter Sauce, dieser etwas scharfen, die Zunge und Lippen verbrennt und einen am Ende viel Tee trinken lässt.

Als Nachtisch eine ganze Schale voll Ferni.

Aber Oma Nadira ist nicht hier.

 

Kein Ferni für meinen Geburtstag. Kein Reispudding.

Doch heute ist trotzdem ein guter Tag, denn jemand hilft mir und bringt mich vielleicht in Sicherheit.

Nur schade, dass mein Hals in Flammen steht.

Und eisige Schauer über meinen Rücken laufen.

Nur schade, dass ich einfach nicht mehr kann.