Heute Nacht höre ich der Nacht zu.

Sie spricht mit verschiedenen Stimmen, hier unten.

Ich drehe mich wieder und wieder herum. Die Stirn tut weh, mir ist heiß. Und der Schlaf kommt nicht. Noch nicht.

Stattdessen kommen die Erinnerungen. Nahe und ferne Erinnerungen.

Als ich zwölf Jahre alt wurde, hat Oma Nadira mir Bücher geschenkt und einen wunderschönen Pirhan aus Leinen und Seide: eine bodenlange Tunika.

Aber sie hat verlangt, dass ich ihr drei Dinge verspreche.

 

Das erste Versprechen war: Ich werde studieren.

 

Man kann alles studieren, sagt Oma. Die Vergangenheit, die Kunst, den Himmel, die Natur. Die Menschen, ihre Kulturen, die Worte, die die Kulturen beeinflussen, die Ideen, die die Worte beeinflussen.

Werde niemals müde zu lernen, Aziz. Hör nie auf zu studieren.

Wer nicht studiert, weiß nicht, dass er nichts weiß. Nur im Studium gibt es Auseinandersetzung, und nur durch Auseinandersetzung wirst du wachsen.

 

Das zweite Versprechen war: Ich werde mich erinnern.

 

Wir sind angefüllt mit Erinnerung, sagt Oma. Wir sind wie ein Tandur zum Brotbacken.

Die Erinnerung ist das Brot des Herzens: Wir müssen sie hüten und an einem warmen und sicheren Ort verwahren.

 

Aber es war das dritte Versprechen, das mir am schwersten fiel.

Denn dieses Versprechen würde mich verändern, meine Natur ändern, einen anderen Menschen aus mir machen und aus meinem ganzen Leben ein anderes Leben.

Darum fühlte ich, als Oma mich darum bat, mein Herz wanken.

Würde ich das wirklich schaffen? Oma wartete auf eine Antwort.

Meine Antwort ließ auf sich warten.

Mama war seit einem Jahr tot. Diese Entscheidung konnte nur ich treffen.

Ich dachte an viele Dinge, in jenem Moment: all die Dinge, die ich würde tun können, wenn ich Ja sagte.

 

Frei durch die Straßen gehen.

Mit allen sprechen beim Herumgehen.

Allen ruhig in die Augen schauen, während ich spreche oder ihnen zuhöre, ohne den Blick senken zu müssen.

Und laufen. Springen. Klettern.

Mit dem Fahrrad bergab sausen.

Einen Drachen in den Himmel steigen lassen, Gedanken in die Welt setzen.

Eine Baseballkappe tragen.

Sogar Fußball spielen.

Mein Herz voller Mut fühlen.

Ja, mein Herz voller dil, für ein Leben ohne Angst.

Und schließlich würde ich auch noch studieren können.

Für Oma, für Mama und für mich.

 

Es waren wirklich viele Dinge. Vielleicht mehr, als ich mir je erträumt hatte.

Sie hielt die Schere in der Hand.

Aber sie wartete geduldig. Sie wartete.

 

Sie wartete auf mein drittes und letztes Ja.