Ich habe nicht lange geschlafen.
Was mich geweckt hat, weiß ich nicht.
Eine Art Stöhnen. Eine Stimme. Ein Wimmern, das immer lauter wird. Aziz spricht im Schlaf. Er wirft sich herum, bewegt die Hände, wiederholt immer dasselbe Wort. Ich gehe zu ihm. Verstehe aber nicht, was er sagt.
Er schreit und wacht plötzlich auf. Seine Augen sind weit aufgerissen und starr.
»Geht es dir nicht gut?«, frage ich alarmiert.
Er antwortet nicht, starrt mich immer noch an. Jetzt richtet er sich auf. Sein Blick ist abwesend, verstört. Er wiederholt immer wieder dasselbe Wort in einer fremden, unbekannten Sprache.
Also komme ich noch näher und setze mich neben ihm auf den Boden.
»Aziz, geht es dir nicht gut?«, frage ich noch einmal.
Minutenlang blickt er sich um, als fiele es ihm schwer, sich zu erinnern, wo er ist.
Dann endlich sieht er mich an. Und scheint mich aus einer unendlichen Entfernung scharf zu stellen.
Jetzt ist auch sein Englisch wieder da, und wir können uns verständigen.
»Ich habe Angst.«
»Angst wovor?«
Stille. Erneutes Abtauchen.
»Ganz ruhig. Hier bist du sicher.«
»Ich habe Angst«, wiederholt er störrisch.
Er ist verschwitzt. Scheint zu zittern. Also greife ich einfach nach seiner Hand. Einer dermaßen heißen Hand, dass man einen Hotdog darauf wärmen könnte. Aber die Berührung unserer Hände scheint eine mächtige Wirkung auf ihn zu haben, als hätte irgendetwas in ihm nur auf ein Zeichen gewartet, um sich endlich jemandem anzuvertrauen, die Angst abzuschütteln und zu sprechen.
Oder vielleicht, wer weiß, ist es nur das Fieber und die Schwäche, die es bewirkt. Das kann ich nicht wissen.
Ich weiß nur, dass er zu erzählen beginnt. Und nachdem er begonnen hat, scheint er nicht mehr aufhören zu können. Es ist wie mit der Katastrophe des Vajont, von der uns die Prof erzählt hat: als eine ganze Bergflanke vom Monte Toc abrutschte, in den künstlichen Stausee stürzte und den See verdrängte, sodass Millionen Tonnen Wasser über die Staumauer hinausschossen und in einer einzigen mörderischen Welle alles überschwemmten und mit sich rissen.
Vielleicht war meine Hand der Monte Toc.
Die Staumauer ist Aziz’ Vergangenheit.
Das wild gewordene Wasser ist sein Schmerz.
Manchmal verstehe ich kein Wort. Manchmal bricht eine andere Sprache durch. Aber nicht immer spricht die Stimme. Auch die Stille kann sprechen. Oder der Blick, das Zittern des Körpers, Gesten, die andere Gesten zum Leben erwecken, oder das gefaltete Foto, das Aziz aus einer Tasche in seinem Schlafsack hervorzieht: eine lächelnde junge Frau.
Sie hat dasselbe Lächeln wie Aziz.
Und so verstehe ich alles und sehe es vor mir, und ich sehe es mit einer Klarheit, die keine noch so hohe Auflösung je irgendeinem Film geben könnte.
Die Raserei bärtiger Männer, die im Namen ihrer Wahrheit eine Schule stürmen, Lehrerin und Schülerinnen schlagen. Grenzen, die im Dunkeln überquert werden. Nächte in Viehpferchen. Hunde, die zum Zuschnappen abgerichtet sind. Das Gefängnis in Bulgarien. Ein zusammengekauerter Junge im Kofferraum eines Autos, auf einer Straße voller Schlaglöcher. Seine unendliche Beschämung, weil er vor Übelkeit und Angst gekotzt hat und deshalb nicht aussteigen will. Reisegefährten, die umkehren, weil sie vor Erschöpfung aufgeben. Der Hunger. Und, noch schlimmer, der Durst. Schlepper, die dir ein wenig Wasser für ein Vermögen verkaufen, sodass sich die Ersparnisse von Jahren im Laufe weniger Wochen – puff! – in Luft auflösen.
Der Gewehrkolben eines Soldaten, der eine Holztür einschlägt.
Ein Fehler, ein tödlicher Schuss.
Eine Frau, die stirbt. Deine Mutter.
Ich dachte, ich weiß, was Schmerz ist.
Ich dachte, ich hätte schon alles durchgemacht in diesen letzten Stunden: Trauer, Angst, Verrat, Wut, die um dich vibriert wie die Mähne eines Löwen, Furcht vor Ablehnung, Ungerechtigkeit, die dich Rache! brüllen lässt, dir ungeahnte Waffen in die Hand gibt und dich mit dem Blick eines Scharfschützen ausstattet.
Ich dachte, ich weiß, was Schmerz ist.
Ich dachte, ich hätte ein Monopol auf Großes Menschliches Leid. Dabei war ich nur ein Dummkopf, der es gewohnt ist, Ansprüche zu stellen. Liebe einzufordern. Urteile zu fällen.
Vielleicht brauchte ich, um mein Leben zu kapieren und damit zurechtzukommen, ein anderes, unbekanntes Leben. Unbekannt, aber aus der Nähe besehen.
Eines mit weniger Glück als meines.
Ich schaue Aziz an. Er liegt mit geschlossenen Augen da. Die Unruhe ist verschwunden. Er ist ganz unbeweglich. Jetzt, wo er alles erzählt hat, scheint er wirklich fertig zu sein.
Wie befreit von der Erinnerung, von Angst und Druck entleert.
Ich lege eine Hand auf seine Stirn. Sie ist heiß. Wirklich richtig heiß.
Worauf wartest du eigentlich noch, Mattia?!
Wer weiß schon, wie man sich um einen Kranken kümmert? Außerdem trage ich wohl kaum ein Erste-Hilfe-Set mit mir herum!
Gib ihm wenigstens zu trinken.
Richtig. Da ist noch ein bisschen Wasser. Aber er hat einen verfluchten Durst, das reicht nicht.
Streng dein Hirn an, Mattia. Du hast oft genug Fieber gehabt. Was hat deine Mutter gemacht?
Sie hat mich abgedeckt, um mich atmen zu lassen. Sie hat mir das Pyjamaoberteil ausgezogen. Sie gab mir Paracetamol und machte mir kalte Umschläge auf der Stirn, den Handgelenken und vielleicht auch auf der Brust. Einfach kaltes Wasser, richtig?
Ja, einfach kaltes Wasser. Dazu muss man kein Facharzt sein, oder? Los, mach endlich! Das kriegst du auch hin.
Es ist kein Wasser mehr da.
Sind wir hier in der Wüste?
Nein, natürlich nicht, aber …
WILLST DU DICH ENDLICH BEWEGEN ODER NICHT?!
Ich sammle die Flasche und die Getränkedosen auf.
»Bin gleich wieder da«, sage ich zu Aziz. Aber er hört mich gar nicht. Er scheint jetzt zu schlafen.
Es kann die Sorge sein, oder der Schlafmangel, oder die Absurdität dieser Situation, in die ich mich gebracht habe: Jedenfalls sehe ich mich jetzt von außen.
Was sich da bewegt, ist mein Avatar. Und die Welt um ihn herum ist eine virtuelle Welt. Wirklichkeitsgetreu, aber irreal, glaubwürdig, aber ausgedacht: eine neue Episode von Black Mirror.
Ich düse durch den Gang. Komme in dem kleinen Park heraus. Wie spät kann es sein? Ich weiß es nicht. Ich habe mein Handy nicht mitgenommen.
Der Ort ist mir vertraut, aber heute Morgen kommt er mir verändert, unbekannt vor.
Die Zeit ist eine durchgedrehte Variable. Das erste Licht des Morgens erzeugt flüssige Reflexe wie in einem Aquarium, und alles in diesem Aquarium wiegt hin und her.
Nur ein alter Mann steht am Ende des Parkwegs, in einen grauen Mantel eingemummelt, und führt seinen Hund Gassi. Sonst sehe ich niemanden.
Ich renne zum Brunnen, fülle die Flasche und die Dosen, winke dem entgeisterten Alten zu und dematerialisiere mich als perfekter Avatar, indem ich davonschieße.
Und schon bin ich wieder in meinem geheimen Gang.
Ich renne, ohne stehen zu bleiben, als wäre ich kaffee- und amphetamingedopt, die Kapuze hochgezogen, die noch feuchten Nikes ungeschnürt, keuchend wie ein neunzigjähriger Asthmatiker, Flasche und Dosen in der Hand. Eine Dose tropft beim Rennen.
Im Dämmerlicht des Kellers herrscht Stille, unterbrochen nur durch das hartnäckige Gurgeln der Wasserrohre, die an den Wänden verlaufen, und manchmal durch Aziz’ Stimme, der irgendetwas ruft.
Ich verstehe kein Wort. Manchmal sagt er Ferni. Oder Malalai.
Ich bin einsilbiger und beschränke mich auf ein vages Schschsch, das Geräusch, das ich mache, wenn Argo seine überdrehten Momente hat. Ich mache das nicht so sehr, um Aziz zu beruhigen, als vielmehr mich selbst.
Jetzt knie ich mich neben ihn. Er hat die Augen geschlossen, ist verschwitzt. Ich hebe seinen Kopf ein wenig an – er ist ganz schwer – und halte den Hals der Wasserflasche an seine ausgetrockneten Lippen. Er trinkt mit großen Schlucken. Und noch mal.
Dann schaut er mich an und flüstert: Taliban.
»Oh nein«, protestiere ich halblaut. »Als Krankenpfleger bin ich vielleicht eine Null, aber ein Taliban bin ich nicht.«
Aber da ist gerade keine Verbindung, ich weiß.
Und so wiederholt er: Taliban.
Ich schütte den Rest aus der Wasserflasche über mein Sport-T-Shirt. Das Wasser ist kalt. Sogar eisig. Für kalte Umschläge perfekt, würde ich sagen. Das nasse Shirt wringe ich aus.
Der Geruch erinnert an Stilton, aber das ist gerade das Letzte, was mich kümmert, und bestimmt auch Aziz.
Ich kann mich an die Bewegungen meiner Mutter erinnern. Sie fing mit der Stirn an, dann kam die Brust, schließlich Handgelenke und Hände.
Aziz wehrt sich nicht, aber er spricht noch aufgeregter.
Ganz ruhig, sage ich. Ganz ruhig … Er antwortet, indem er mich Nadira nennt.
Ich ziehe ihm den Pullover aus, dann knöpfe ich schnell ein kariertes Hemd auf, das nicht einmal mein Opa angezogen hätte. Darunter ein Baumwoll-T-Shirt, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat.
Als ich ihm das T-Shirt über den Kopf ziehe, rutscht auch die Zottelmütze mit.
Dann reiße ich die Augen auf.
Halte den Atem an, Hände in der Luft.
Jede einzelne Zelle verblüfft.
Getroffen und versenkt, würde ich sagen.