Durst. Wie beim Gehen. Gehe ich gerade? Nein, wir sind doch angekommen.

Wo? Ich weiß nicht. Alles ist seltsam, alles so konfus. Aber meine Beine sind ausgestreckt. Und die Arme ausgestreckt. Und meine Füße ruhig. Sie müssen nicht gehen.

Heute müssen wir nicht weitergehen. Heute bleiben wir hier. Im Schatten. Heiß. Durst. So viel Durst. Manchmal Lichter vor den Augen. Ich zittere, und dann wieder diese Hitze. Weg mit dieser schweren Decke. Weg mit dem Tuch im Gesicht. Ich ersticke in diesen Kleidern. Jemand hilft mir beim Ausziehen. Jemand hilft mir atmen. Dann höre ich Omas Stimme. Oma ist da! Vielleicht hat sie Ferni für mich gemacht!

Aber jetzt habe ich keinen Hunger. Vielleicht später. Jetzt trinke ich. Das Wasser ist kalt. Ich trinke noch einmal.

Oma spricht mit mir. Was sagt sie? Ich weiß, Oma Nadira. Ja, ich erinnere mich. Ich erinnere mich an das letzte Versprechen. Warum fragst du mich noch einmal? Warum liest du mir wieder die Verbote der Taliban vor?

Wie oft hast du sie mir schon vorgelesen? Ich kann sie längst auswendig.

 

Achtung, Frauen:

Ihr dürft unter keinen Umständen euer Gesicht zeigen. Wenn ihr ausgeht, müsst ihr die Burka tragen. Andernfalls werdet ihr hart geschlagen.

Kosmetik ist verboten.

Schmuck ist verboten.

Ihr dürft keine reizvolle Kleidung tragen.

Ihr dürft nur sprechen, um zu antworten.

Ihr dürft Männern nicht in die Augen sehen.

Ihr dürft in der Öffentlichkeit nicht lachen. Andernfalls werdet ihr mit Stöcken geschlagen.

Ihr dürft eure Fingernägel nicht lackieren. Andernfalls wird euch ein Finger abgeschnitten.

Mädchen ist der Schulbesuch verboten.

Alle Mädchenschulen werden sofort geschlossen.

Wer eine Mädchenschule eröffnet, wird geschlagen, und die Schule wird geschlossen.

Frauen ist das Arbeiten verboten.

Wer sich des Ehebruchs schuldig macht, wird gesteinigt.

 

»Aber was bleibt denn da noch, Oma?«, hatte ich an jenem Morgen gefragt, am Tag meines zwölften Geburtstags. »Bei all diesen Verboten, was bleibt einem da noch?«

»Den Männern der Krieg gegen alle, einschließlich ihrer Frauen und Töchter. Und den Frauen das Ertragen. Deshalb bitte ich dich darum. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass du es besser hast. Ich weiß, dass du das kannst. Es wird die Quelle deiner Freiheit sein. Auch der großen Freiheit, mit all den Männern unterwegs zu sein, wenn sich dein Vater mit dir auf den Weg macht, der euch, wenn der Barmherzige es will, in ein neues Leben führen wird. Du darfst dein Geheimnis niemandem verraten, mein Herz, bis du in Sicherheit bist. Das ist das letzte Versprechen, um das ich dich bitte.«

 

Ich schaue Oma an. Ihren beschwörenden Blick.

Ihre Hände, die die Schere halten.

Die Schere neben meinem Gesicht.

Die in der Sonne glänzenden Klingen.

Sie respektiert meine Zweifel, mein Schweigen.

Sie wartet, geduldig, auf mein Ja.

Aber mein Ja zittert, stolpert, fällt. Es findet den Weg zu meiner Stimme nicht.

Ich lasse den Kopf hängen, zupfe an einem Nagel herum.

Ich werde meine langen Haare abschneiden müssen. Einen Teil von mir verleugnen. Sein, was ich nicht bin.

Ich weiß: Das haben schon viele getan.

Sie haben auch einen Namen: Bacha Posh.

Es ist nicht einfach, in diesem Land von Männern ein Mädchen zu sein, all die schriftlichen Verbote einzuhalten und all die ungeschriebenen Verbote, die man erraten muss.

»Glaub mir, Aziza, es ist zu deinem Besten. Von jetzt an wirst du vor den Augen der Welt nur noch Aziz sein. Schwöre es mir, Prinzessin Schwindelig.«

 

Ich fühle Tränen in den Augen.

Als ich geboren wurde, sagt Oma, fand Mama mich so schön, dass ihr plötzlich so schwindelig wurde, wie es ihr nie vorher passiert war. Deshalb nannte Mama mich so: Prinzessin Schwindelig.

Dabei bin ich gar nicht schön. Nein. Aber die Schönheit liegt in den Augen derer, die schauen. In den Namen, die aus Liebe erfunden werden. Im Spiegel, zu dem diese Namen werden.

Ich nehme Oma die Schere aus der Hand.

Sie hat lange, scharfe Klingen.

Die Locken fallen zu Boden wie ein stiller schwarzer Regen.

Prinzessin Schwindelig schneidet sich die Haare selbst.

Sie verwandelt das Versprechen in einen Schwur.

Von jetzt an wird sie ein Junge sein. In den Augen der Welt ist sie nun Aziz.