Ich kann es an ihren Augen und ihren Händen ablesen: Mama ist unentschlossen, ob sie mich umarmen oder übers Knie legen soll.

Schließlich schiebt sie ihre Zweifel beiseite, unterdrückt die Mordgelüste und zerquetscht mich fast in ihrer Umarmung, während sie gleichzeitig redet und weint und lacht, alles zusammen. Und Gott dankt und flucht zugleich.

Es ist also eine ziemlich schizophrene Umarmung, aber sie fühlt sich nach Zuhause an und nach Familie.

Hinter Mama, ein paar Schritte zurück, steht Papa.

Einen Moment lang werde ich ganz starr.

In seinem Gesicht sehe ich eine Menge Emotionen, aber nun findet in seinen Augen ein Zweikampf statt zwischen Unbehagen und Freude, Schuldgefühlen und Erleichterung. Das ist zumindest das, was ich darin lesen kann. Meine Gefühlsampel blinkt und glüht. Kurz steht sie auf Rot. So rot, dass es gar nicht röter geht.

Aber mein Vater hebt eine Hand, eine einfache, nackte Geste: Ich komme in Frieden, scheint er zu sagen.

Ich zögere noch einen Moment.

Dann antworte ich mit derselben Geste: Auch ich kehre in Frieden wieder.

Da kommt auch er näher. Und umarmt Mama, die mich umarmt.

Und genau wie früher als Kind fühle ich es jetzt, in dieser Umarmung zu dritt: wie instinktiv jeder von uns dreien seinen Atem mit dem der anderen beiden abstimmt. Wie ein seltsames, stummes Trainingsritual, mit dem wir Energie tanken, um zusammen irgendwie eine neue, unbekannte Erfahrung zu bewältigen: den Winter unseres Lebens zu dritt.

 

Ich schaue Papa in die Augen.

»Wann kommt er auf die Welt?«, frage ich langsam.

Und als ob das noch nicht klar wäre, füge ich hinzu: »Mein Bruder.«

»Es wird eine Schwester«, antwortet er, »in weniger als sechs Monaten.«

Dann sagen wir nichts mehr, weil es nichts mehr zu sagen gibt.

Aber ich denke, dass ich vielleicht in einigen Jahren meiner Schwester die Grundlagen des Sumo beibringen könnte, so wie Papa sie mir beigebracht hat. Und ich würde ihr größter Fan sein.

 

Aziz (wenn das ihr Name ist) liegt auf der Trage. Zwei Sanitäter haben sie in eine Decke eingewickelt.

Sie scheint tief zu schlafen.

Jetzt bringen sie sie hinaus, passen auf jede Stufe auf und auf die engen Kurven der Gänge. Bevor ich ihnen die Treppen hinauf folge, schaue ich ein letztes Mal meine Mutter an. Ich weiß, dass sie meine Gedanken errät: War das wirklich nötig? Bist du sicher?

»Mattia, es ist richtig so. Wir wissen nicht, was sie in den letzten Monaten alles durchgemacht hat. Ihr Gesundheitszustand muss ernsthaft überprüft werden.«

 

Die Korridore der Schule sind seltsam still. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Wie spät ist es überhaupt? Ich habe keine Ahnung. Aber es ist Unterricht. Sie sind alle in den Klassen.

Meine Mutter steigt in den Rettungswagen. Ich frage, ob ich auch mitdarf. Ich will dabei sein, wenn Aziz aufwacht.

Nach einem langen Zögern lässt mich der Sanitäter einsteigen. Die Seltsamkeit der ganzen Situation muss seine Strenge aufgeweicht haben. Und gerade als ich neben Aziz’ Trage Platz nehme, merke ich, dass da oben, an unseren Fenstern im zweiten Stock,

Unter all den Gesichtern suche ich nur eines.

Und als ich es finde, lächle ich.

Wir können uns nur kurz zuwinken, indem wir zur selben Zeit den Arm heben und einen Moment lang unsere Blicke einhaken.

Dann schließen sich die Türen vor dem leuchtenden Gesicht Sofias.