Einen Moment lang möchte ich nur davonlaufen. Mich irgendwo hinlegen, im Dunkeln. Allein sein, überwintern. Gute Musik dazu, vielleicht November Rain von den Guns N’ Roses, oder sogar die etwas süßliche Version von David Garrett, wo die Violine so an den Tönen zieht, dass es dir das Herz verbrennt.

Stattdessen öffne ich die Tür und betrete das Klassenzimmer, drücke mich an der Wand entlang und hoffe, nicht bemerkt zu werden: weder ich noch meine übliche Verspä—

»Schon wieder zu spät, Marchior? Was ist heute der Grund? Los, wir hören …«, seufzt die Franceschi, während sie die Lesebrille auf die Nase hinunterschiebt und mich in ihren Scharfschützenblick nimmt. »Auffahrunfall? Großeltern im Krankenhaus? Wecker kurz vor dem Läuten explodiert?«

»Nein, also … eigentlich …«

»Lass gut sein, Marchior. Lass gut sein.« Sie schiebt die Brille wieder hoch. »Wenn es was Schlimmes war, mache ich mir Sorgen, wenn nicht, muss ich mich nur ärgern.«

Ich fühle Sofias Blick auf mir. Eine Nanosekunde lang stellen wir Augenkontakt her. Der einzige gute Moment an diesem von Anfang an verkorksten Tag. Instinktiv werde ich langsamer, als ich an ihr vorübergehe. Ich sauge mich mit ihrem Duft voll. Unter Tausenden würde ich ihn erkennen. Stundenlang könnte ich ihn einatmen.

»Also, Mattia?«, macht die Prof, während sie mit dem digitalen Klassenbuch kämpft, das um diese Zeit oft Verbindungsprobleme hat. »Meditieren wir noch länger über die Zukunft der Welt, oder setzen wir uns endlich hin?«

»Franceschis Liebling!«, zischt Giulio zwischen den Zähnen hervor. »Wenn mir das passiert, hat sie mich um diese Zeit längst abwesend gemeldet.«

Ich antworte mit einem Mörderblick und einem sprechenden Mittelfinger.

Den gibt er genauso überzeugt zurück.

Ich würde eher eine Miesmuschel samt Schale verspeisen, als ihm recht zu geben, aber ich weiß, dass er nicht ganz falschliegt. Nichts nervt mehr, als einem recht geben zu müssen, der dermaßen nervt und trotzdem recht hat. Mit der Mathematik liege ich seit der dritten Klasse im Krieg, auch mit Physik und Technischem Zeichnen sind die Beziehungen reichlich angespannt. Aber Lesen macht mir eben Spaß.

Deswegen verzeiht mir die Franceschi: Trotz meiner chronischen Verspätungen ist die Beziehung zwischen ihr – unserer Italienisch-Prof – und mir quasi eine literarische.

Dabei ist die Franceschi ziemlich nervig. Sie hat einen Gedichte-Tick. In Literaturgeschichte kennt sie kein Pardon. Und wenn du die Hausaufgabe vergessen hast, spürt sie dich auf, die CIA ist nichts dagegen. Aber man merkt, dass sie ihre Arbeit liebt – sie kann dich tagelang bearbeiten, nur damit du über etwas nachdenkst. Und damit kriegt sie dich irgendwann.

Ich ziehe den Parka aus, öffne den Rucksack, nehme Stifte und Heft heraus.

Giulio neben mir niest.

Erst durch dieses Geräusch fällt mir auf: In der Klasse ist es komplett still.

Einen Moment lang bin ich verwirrt, dann erinnere ich mich an den Grund.