Im Rückblick kann Matt kaum begreifen, wie der Tag verlaufen ist. Er sitzt über dem Bistro in seinem kleinen Schlafzimmer unter dem Dach und versucht, Ordnung in seine Gefühle zu bringen. Immer noch verblüfft es ihn, dass Catriona sich als eine so nette Begleiterin erwiesen hat. Da er immer dazu neigt, sie durch Livs Augen zu sehen, war er nicht darauf vorbereitet, in ihr eine amüsante und unterhaltsame Gefährtin vorzufinden.
Er war früh in ihr Hotel gegangen, um sich nicht in seiner kleinen Wohnung über dem The Place auf dem falschen Fuß erwischen zu lassen, und sah ihr an den schnell hochgezogenen Augenbrauen und dem Lächeln an, dass sie genau wusste, warum er dort auf sie wartete. Doch sie machte keine große Sache daraus und gab keine sarkastische Bemerkung ab. Stattdessen küsste sie ihn ganz kurz auf die Wange und ging schon vor zum Parkplatz, bevor er seine Fassung zurückgewonnen hatte. Sie hatten sich schon darauf geeinigt, dass sie fahren würde.
»Ich kenne die Straßen so gut«, sagte sie. »Da kann ich ebenso gut fahren. Und du lehnst dich zurück und entspannst dich. Ich schwöre dir, dass ich eine gute Fahrerin bin.«
Und das war sie: kompetent, schnell, sicher. Es war angenehm, als Beifahrer aus dem Fenster zu schauen und die Landschaft zu genießen. Sie erzählte von ihrem Job, dass sie gern bei einer der großen Investmentbanken in New York arbeiten würde und wie sie sich letztes Jahr um einen Job beworben, ihn aber nicht bekommen hat. Voller Respekt vor ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Können lauschte Matt ihr.
Schnell legte sie die Strecke über die A39 bis Wadebridge zurück, fuhr dann ab und zockelte über die Feldwege und durch Dörfer und Weiler mit merkwürdigen Namen: Splatt, Stoptide, Pityme.
»Ziemlich gemein von mir«, meinte sie und fuhr an einen Graben heran, um einen Traktor vorbeizulassen, »dich an deinem freien Vormittag einzuspannen. Aber ich bin dir sehr dankbar. Ich muss so viele persönliche Gegenstände bewegen, und das ist mit Fremden schwierig. Nicht so einfach, wie nur Möbel zu tragen.«
Ein Tourist in einem Audi, der offensichtlich um den Lack seines Wagens fürchtete, blieb mitten auf dem Fahrweg stehen, starrte sie über sein Lenkrad hinweg nervös an und schien entschlossen zu sein, nicht zu weichen. Catriona seufzte und setzte schnell und geschickt zurück und in eine Einfahrt.
»Offensichtlich bist du es gewohnt, auf diesen Wegen zu fahren«, meinte Matt und konnte seine Bewunderung nicht verbergen.
»Ich bin immer wieder hier gewesen, seit ich ein Baby war«, gab sie zurück, setzte hinaus und fuhr weiter. »Es wird komisch sein, nicht mehr ins Cottage flüchten zu können.«
»Aber es wird noch für dich da sein«, sagte er.
Kurz legte sie die Stirn in Falten. »Ja, doch mit einem Mieter darin ist es nicht mehr dasselbe, oder? Ohne Granny oder Mum, zu denen ich nach Hause kommen kann, ohnehin nicht.«
Wieder spürte er einen kurzen Anflug von Mitleid für sie und fragte sich, was er vorschlagen sollte, aber sie fuhren schon auf der Rock Road und parkten an der Hafenmauer, gegenüber einem mit Kacheln geschmückten Cottage mit spitzen Dachvorsprüngen und einem kleinen hübschen Garten voller Tamarisken.
»Es ist wunderschön«, sagte er, und sein Mitgefühl wuchs. Es musste wirklich schwer sein, keinen Zugang mehr zu einem so bezaubernden Häuschen zu haben.
»Das ist es«, gab sie zurück, schaltete den Motor ab, sah zu dem Haus auf und dann über den Meeresarm hinaus. »Und mit einer wunderbaren Aussicht auf Padstein.«
»Padstein?« Er runzelte die Stirn, und sie lachte über seine Miene.
»Padstow, Schätzchen«, sagte sie. »Ein Scherz für die Eingeweihten. Ich sage nur Rick Stein.«
Er begann ebenfalls zu lachen, ein wenig verblüfft über den Spitznamen, aber der Witz gefiel ihm. »Tut mir leid. Ich hatte das Restaurant des Fernsehkochs Rick Stein ganz vergessen.«
»Ich hatte mich gefragt, ob du vielleicht gern mit der Fähre zum Mittagessen hinüberfahren würdest, aber dann habe ich uns doch einen Tisch bei Nathan Outlaw im Mariners reserviert. Ich fürchte jedoch, du muss dir das Essen verdienen. Komm.«
Die Ellbogen auf die Knie gestützt, sitzt Matt jetzt auf der Bettkante und denkt an ihr Mittagessen zurück. An einem Tisch auf der Holzterrasse, von der man über den Hafen hinaussah, haben sie Lammhüfte und zum Nachtisch saftig süßen Kuchen mit Karamellsauce gegessen und zugesehen, wie die Black-Tor-Fähre hin- und herpendelte. Es war so gut, einfach nur dort zu sitzen, ohne dass jemand etwas von ihm wollte, und nichts zu tun, als sich zu entspannen.
Bei der Erinnerung beschleicht ihn ein schlechtes Gewissen. Er hätte an Liv und die Zwillinge denken sollen, statt den Sonnenschein zu genießen und ein Glas Doom-Bar-Bier zu trinken. Aber noch schlimmer – bis jetzt hat er die Szene entschlossen aus seinen Gedanken verbannt – war dieser Moment, dieser ganz kurze Augenblick in Cats Schlafzimmer gewesen.
Sie waren vom Mittagessen zurückgekommen.
»Ach, noch eines, Matt, falls du das noch aushältst«, hatte sie gesagt. »Etwas, das zum Auktionshaus muss und das ich gern abholbereit zusammen mit den anderen Sachen im Wohnzimmer hätte. Es ist ein wenig schwer, und es wird knifflig werden, es die Treppe hinunterzutragen.«
Ohne wirklich darüber nachzudenken, war er ihr über die schmale Treppe nach oben ins Schlafzimmer gefolgt. Ganz offensichtlich war das ihr Zimmer. Typisch weibliche Besitztümer lagen überall verstreut, und das Bett war noch ungemacht. Der kleine Schrank stand genau daneben, und sie zog ihn heraus und hatte Mühe damit, sodass Matt ihr instinktiv zu Hilfe kam. Und irgendwie sank sie dabei halb aufs Bett und zog ihn mit.
»Tut mir leid«, keuchte sie, lächelte zu ihm auf und hielt seinen Arm fest. Dann schlug ihre Miene um, ihr Griff wurde fester, und als er ein Knie auf das Bett stützte und ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren, wurde ihm klar, dass er sie nehmen konnte, wenn er wollte – einfach, unbeschwert, nur ein wenig Spaß. Die zwei Gläser Bier, die Sonne, der gemeinsam verbrachte Tag, die Nähe ihres schlanken Körpers und dieser intensive Blick, mit dem sie zu ihm aufsah … All das hätte beinahe seinen Zauber gewirkt, und es kostete Matt eine gewaltige Anstrengung, den Blick von ihr loszureißen und wieder aufzustehen. Er nahm das Schränkchen und trug es aus dem Zimmer, und sie folgte ihm und plauderte ganz natürlich, als wäre nichts gewesen.
Jetzt betastet Matt sein Telefon, das den ganzen Tag ausgeschaltet war, und fragt sich, wie er Liv erklären soll, was er getrieben hat. Wegen der Abneigung der beiden Frauen und ihrer Familiengeschichte weiß er, dass Liv ihm vorwerfen wird, illoyal gewesen zu sein. Deshalb probt er im Kopf Erklärungen, von denen keine plausibel klingt. Er weiß, dass er ihr die Wahrheit über seinen Tag sagen sollte, aber er kann sich nicht vorstellen, wie er das fertigbringen soll – jedenfalls nicht am Telefon. Wenn sie hier neben ihm sitzen würde, könnte er ihr alles logisch auseinandersetzen: dass Catriona ihm leidgetan hat und wie er sich damit in eine peinliche Lage gebracht hat – obwohl er nichts von dem Schlafzimmerschränkchen und seinem kurzen Anflug von Lüsternheit sagen wird. Doch es wäre fast unmöglich, ihr seinen Ausflug nach Rock am Telefon zu erklären, wo der Empfang nicht gleichbleibend gut ist und man manchmal schreien und alles wiederholen muss, um sich verständlich zu machen.
Schnell tippt er eine Textnachricht. Bin heute Morgen ein Stück an der Küste entlanggefahren. Wie war die Party?
Ich muss es eben für mich behalten, bis ich sie wiedersehe, sagt er sich. Dann werde ich ihr die Wahrheit gestehen, alles richtig erklären und darüber lachen. Unterdessen wird er duschen und zu Bett gehen. Er ist erleichtert, weil Catriona bei ihrer Rückkehr keinen Versuch unternommen hat, mit ins Bistro zu kommen, erleichtert und erstaunt. Nach diesem Moment im Schlafzimmer hatte er sich deswegen Sorgen gemacht, sich gefragt, wie er damit umgehen soll, und vorgehabt, sich damit herauszureden, dass es heute Abend voll sein würde. Doch sie beugte sich bloß zu ihm herüber und küsste ihn leicht auf die Wange.
»Danke, Matt«, sagte sie. »Wir sehen uns nächste Woche.«
Sie schaltete den Motor nicht ab, sondern sah nur zu, wie er ausstieg, hob eine Hand und fuhr davon.
Widersinnigerweise war er beinahe enttäuscht. Plötzlich spürte er ein Gefühl von Leere, als er nach ihrem gemeinsam verbrachten Tag, nach diesem unausgesprochenen Angebot von Sex im Schlafzimmer auf der Straße stehen gelassen wurde. Jetzt schüttelt er den Kopf über diese Anwandlungen. Alle möglichen Emotionen steigen in ihm auf, und er geht duschen.
Zurück im Cottage, sieht Catriona sich zufrieden um. Sorgfältig hatte sie alles so arrangiert, dass Matt sehen konnte, dass sie Hilfe brauchte. Um ehrlich zu sein, wäre es sehr schwierig gewesen, einige dieser Kisten allein vom Dachboden zu holen – schwierig, aber nicht unmöglich. Doch der wirklich notwendige Teil war gewesen, alles so herzurichten, um zu betonen, wie wichtig es ihr war, jemanden bei sich zu haben, der mitfühlend und verständnisvoll war, als es darum ging, kleine Gegenstände von sentimentalem Wert für die Auktion zusammenzupacken oder zu entscheiden, was sie weggeben sollte und was nicht. Er musste begreifen, dass dazu mehr gehörte als ein Möbelpacker.
»Du könntest das Haus möbliert vermieten«, erklärte er ihr, immer noch in dem Glauben, sie wolle seinen Rat befolgen, »aber einige dieser Stücke sind sehr schön.«
Irgendwann im Auto war ihr fast herausgerutscht, dass sie vorhat, das Cottage zu verkaufen, statt es zu vermieten, wie er es ihr geraten hat. Also hat sie so getan, als überlegte sie, und darüber diskutiert, was sie mit in ihre Londoner Wohnung nehmen soll und was im Cottage bleibt. Bei einigen Gegenständen hat sie zur Schau gestellt, wie schwer es ihr fällt, sich davon zu trennen. Und gleichzeitig fragte sie sich, was Liv wohl davon halten würde, wenn sie sie zusammen sähe, und musste ein verächtliches Schnauben unterdrücken. Am liebsten hätte sie ihn geradeheraus gefragt, ob er Liv erzählt hatte, dass er den Tag in Rock verbringen würde. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er es nicht getan hatte, und keiner von beiden erwähnte Liv. Bei dem Gedanken, ihr eins auszuwischen, spürte Cat ein hämisches Triumphgefühl, eine Art Rache für einen lebenslangen Groll.
Mum hatte Livs Mutter gehasst.
»Pete hat mich für Julia verlassen«, hatte sie nach der Scheidung gesagt. »Das habe ich den beiden nie verziehen. Sie waren so verdammt glücklich. Wohlgemerkt, ich habe ihnen schon das Leben schwer gemacht.«
Catriona kann sich noch an die Anspannung zwischen den beiden Frauen erinnern, die versteckte Abneigung, das Unglücklichsein zu Hause deswegen und ihr Bedürfnis, sich an diesen selbstbewussten, glücklichen Kindern zu rächen. Wie merkwürdig, dass der Neid ihrer Mutter so tief ging und so frisch blieb – und doch kann Cat das verstehen, denn auch sie kann diesen Rachedurst nicht abschütteln. Genau wie ihre Mutter pflegt sie ihren Groll, hält an ihrer Verbitterung fest und kann keine Kränkung vergeben. Sie gesteht sich ein, dass dieser Drang fast pathologisch ist. Deswegen hat ihr Vater sie beide schließlich verlassen, wieder geheiratet und andere Kinder bekommen, die er über alles liebt. Seine Exfrau und seine Tochter hat er aus seinem Leben gestrichen, und das kann Catriona ihm nicht verzeihen. Jedes Mal, wenn sie Liv sieht, kocht aus dem Nichts heraus dieser Zorn hoch. Liv – selbstsicher, schön und glücklich – ist das Symbol für all den Schmerz, den Cat und ihre Mutter erlitten haben. Zuerst durch Petes Verrat und dann, als ihr Vater sie verlassen hat. Jedes Mal, wenn sie nach Rock kommt, treibt sie ein schrecklicher Drang an, Liv aufzusuchen, genau wie Cats Mutter vor Jahren Julia regelmäßig in Trescairn besucht hat. Es ist, als drücke man auf einen schmerzenden Zahn. Vielleicht, denkt Cat, kann sie sich von alldem befreien, sobald das Cottage verkauft ist – aber vorher hat sie noch Gelegenheit, etwas Schaden anzurichten.
Es war eine geniale Idee gewesen, Matt in Nathan Outlaws Restaurant Mariners einzuladen. Sie sah zu, wie er sich entspannte, locker wurde und dann plötzlich von seinem schlechten Gewissen überfallen wurde. Er krallte die Finger in die Handflächen und runzelte leicht die Stirn. »Was wirst du Liv erzählen?«, hätte sie am liebsten gefragt, schwieg aber. Da er nicht zu fahren brauchte, trank er ein paar Gläser Bier und schaltete sichtlich ab. Er war ein angenehmer Begleiter, und jetzt beneidete sie Liv noch mehr, dieses goldene Kind, das alles hatte.
Ein Jammer, dass der Trick im Schlafzimmer nicht funktioniert hat. Um ein Haar hätte sie Erfolg gehabt. Sie hat gesehen, wie sich Matts Augen vor Begehren verdunkelten, bevor er ihre Hand von seinem Arm abschüttelte und aufstand. Hätte er beim Mittagessen ein Glas Bier oder Wein mehr getrunken, hätte sie es schaffen können. Trotzdem ist es ein weiterer kleiner Sieg. In diesem kurzen Moment hat er sie begehrt – und wenn sie es klug anstellt, werden sich noch weitere Gelegenheiten auftun. Sie weiß, dass sie ihn verblüfft hat, als sie davonfuhr und ihn auf der Straße stehen ließ. Er hatte damit gerechnet, dass sie zum Abendessen mit ins Bistro kommen würde, und bereits nach einer Ausrede gesucht. Cat tut gern das Unerwartete, erwischt Menschen auf dem falschen Fuß und lässt sie rätseln.
Catriona lächelt vor sich hin. Sie könnte wetten, dass Matt Liv nichts von seinem Tag in Rock erzählt hat, und je länger er es hinausschiebt, desto schwieriger wird es werden und desto größere Bedeutung wird es annehmen. Sie hat einen winzigen Keil zwischen die beiden getrieben. Matt wird sich zuerst unwohl fühlen und sich dann verteidigen – schließlich ist nichts passiert. Alles war ganz unschuldig: ein Tag an der Küste, an dem er einer Freundin geholfen hat. Also, warum erzählt er Liv nicht davon?
Catrionas Lächeln wird breiter. Sie erinnert sich an einen Spruch, den ihre Mutter des Öfteren zitiert hat. »Welche Netze wir oft spinnen, wenn erstmals wir auf Täuschung sinnen.«
Was sie wohl damit gemeint hat, fragt sich Catriona, dass sie ihnen das Leben schwer gemacht hätte? Wie hat sie Julia und Pete gestraft? Vielleicht kennt Liv die Antwort; möglich, dass sie ihr deswegen so feindselig gegenübersteht. Catriona zuckt mit den Schultern. Wenn sie kann, wird sie ihr selbst das Leben schwer machen. Pete und Julia haben ihr Familienleben zerstört, und sie wartet schon über vierzig Jahre auf diese Gelegenheit.
Sie muss ihren nächsten Schachzug sorgfältig planen.