Montag
Andy fährt langsam. Der Verkehr in Richtung Westen kriecht dahin. In Exeter ist es zu einer Störung gekommen, die zu einem langen Stau geführt hat, doch jetzt setzt sich alles wieder in Bewegung. Er konnte Liv noch eine Textnachricht schicken, um ihr mitzuteilen, dass er vielleicht später als geplant eintrifft. Aber sie hat es locker aufgenommen. Schließlich weiß jeder, wie es im Juli auf der A38 aussieht.
Er war sogar ganz glücklich darüber, wie begeistert die Zwillinge reagiert haben, als er heute früh anrief, um vorzuschlagen, er könnte sie auf dem Weg nach Cornwall besuchen. Eigentlich liegt die Strandvilla nicht an der Route, die er normalerweise zur Nordküste einschlagen würde, aber es wird lustig werden, Liv und die Zwillinge zu sehen, und Baz natürlich auch.
»Ich bin nach Polzeath eingeladen«, erklärte er ihr. »Ein Freund hat sich das Ferienhaus seiner Eltern geliehen und gesagt, ich könne ein paar Wochen bleiben. Zum Freundschaftspreis. Das wird sicher ein Spaß. Ich dachte, ich könnte unterwegs vorbeischauen und euch besuchen, falls Baz nichts dagegen hat.«
»Oh ja«, rief sie. »Bitte komm, Andy! Wir würden uns so freuen, dich zu sehen. Die Zwillinge werden ganz aus dem Häuschen sein.«
»Ach, diese Zwillinge lieben halt ihren Onkel Andy«, sagte er lachend. »Und was höre ich da, Matt ist nicht bei euch?«
»Das ist ein solcher Jammer. Der arme Joe hat sich am Tag, bevor wir fahren wollten, die Achillessehne angerissen. Da ist Matt geblieben. Ich hatte gehofft, er würde gestern kurz vorbeikommen, doch er hat mir eine Nachricht geschickt, er sei an die Küste gefahren und habe sich ein paar Stunden entspannt. Ich finde trotzdem, er hätte herkommen können.«
»Aber dann wäre es mit der Entspannung vorbei gewesen, oder?«, hielt Andy dagegen. »Mit diesen Zwillingen. Der arme Kerl wollte nur ein paar Stunden für sich haben.«
»Wollen wir das nicht alle?«, konterte Liv. »Wann habe ich je Zeit für mich? Du bleibst doch über Nacht, oder?«
Das hatte er nicht vorgehabt, doch er hörte den hoffnungsvollen Unterton in ihrer Stimme und erklärte, er werde übernachten.
»Du musst allerdings auf dem Futon in Baz’ ›Höhle‹ schlafen, aber er ist sehr bequem«, sagte sie. »Das ist großartig, Andy.«
»Ich übernachte immer auf dem Futon in Baz’ ›Höhle‹«, gab er resigniert zurück. »Okay. Ich müsste lange vor dem Mittagessen da sein.«
Jetzt sieht Andy auf seine Armbanduhr. Er kommt noch rechtzeitig zum Mittagessen an, doch er wird froh sein, wenn er die ruhigeren Fahrwege einschlagen und zu dem kleinen Strand hinunterfahren kann. Es wird gut sein, das Meer wiederzusehen. Er hegt nicht Livs überwältigende Leidenschaft für die Küste, das Surfen, Schwimmen und Segeln, aber trotzdem lässt er gern alles hinter sich und riecht die salzige Luft.
Das letzte Jahr ist für ihn sehr gut gelaufen. Er hat seine kleine IT-Firma für ein hübsches Sümmchen verkauft und plant gerade sein nächstes Projekt. Unterdessen wird es schön sein, auf dem Weg nach Polzeath einen Teil seiner Familie zu besuchen. Er denkt an die Zwillinge und lacht leise. Sie lieben ihn, weil er ungezogen ist und ihnen ausgefallene Geschenke mitbringt. Flora und Freddie erinnern ihn an seine Kindheit und haben seine eigene spezielle Verbindung zu Liv erneuert. Beim letzten Mal hat er ihnen die unanständigen Wörter beigebracht, die Liv und er immer im Chor skandiert haben, als sie klein waren. »Pipi, Popo, Pups.« Er erinnert sich, wie die beiden sie laut gerufen und sich vor Lachen ausgeschüttet haben, und Liv dachte ebenfalls zurück und konnte ihm nicht böse sein. Baz lachte nur.
Unwillkürlich lächelt Andy in sich hinein. Er liebt den guten Baz – er ist so cool und entspannt –, und er kann es kaum abwarten, sie alle wiederzusehen. Doch unterdessen weiß er einfach, dass ein bestimmter Unterton in Livs Stimme lag, als sie von Matt gesprochen hat. Andys Lächeln verblasst. Mit seinem alten sechsten Sinn eines Zwillings fängt er diese Schwingungen auf und ist besorgt, obwohl er sich sicher ist, dass nichts wirklich Schlimmes zwischen Matt und Liv stehen kann. Die Beziehung zwischen den beiden ist so solide. Wahrscheinlich liegt es an dem, was er bei so vielen seiner verheirateten Freunde erlebt, die versuchen, Familie und Arbeit zu jonglieren, und müde und gestresst sind. Ein Teil von ihm ist froh, dass er dem bisher aus dem Weg gegangen ist, obwohl er so viele Patenkinder hat, dass er sie kaum noch zählen kann. Aber wenn er mit Flora und Freddie zusammen ist, spürt er einen echten Anflug von Neid. Sie sehen Liv und ihm so ähnlich, dass sie seine eigenen Kinder sein könnten, und er liebt sie über alles. Während Andy die A38 verlässt und die Fahrt in Richtung Kingsbridge und Küste fortsetzt, denkt er an das Geschenk, das er für sie hat, und sein Lächeln kehrt zurück.
Liv macht sich auf die Suche nach Baz und findet ihn in seiner »Höhle«, seinem privaten Rückzugsort, wo er in seinen Laptop schaut und das Adagio aus Rodrigos Concierto de Aranjuez in der Version von Miles Davis hört. Baz dreht sich zu ihr um, klappt den Laptop zu und zieht fragend die Augenbrauen hoch.
»Ich habe gerade eine Nachricht von Andy bekommen«, erklärt sie. »Es gab ein Problem in Exeter, und er ist ein wenig spät dran. Er glaubt, dass er es trotzdem zum Mittagessen schafft.«
»Das ist gut. Um diese Zeit des Jahres könnte es viel schlimmer kommen. Ich wollte hier eigentlich aufräumen, aber dann habe ich mich ablenken lassen und online ein bisschen Geld herumgeschoben. Vermutlich wird er hier auf dem Futon schlafen. Hast du Bettzeug für ihn aufgetrieben?«
»Die eine Nacht kommt er auch mit einem Schlafsack zurecht. Das wird schon. Wie ich Andy kenne, wird er wahrscheinlich draußen am Strand schlafen.«
»Hast du den Zwillingen gesagt, dass er kommt?«
Liv schüttelt den Kopf. »Noch nicht. Nur für alle Fälle. Sie sind immer ganz aus dem Häuschen darüber, ihn zu sehen.«
»Das liegt daran, dass Andy im Herzen immer noch knapp fünf Jahre alt ist. Obwohl ich das eigentlich nicht sagen darf – so gut, wie er sich mit seiner IT-Firma geschlagen hat, oder? Der Junge ist prima. Pete muss sehr stolz auf ihn sein.«
»Das Problem ist, dass Dad nichts von IT und so etwas versteht. Er wäre glücklicher gewesen, wenn Andy Arzt oder Anwalt geworden oder zur Armee gegangen wäre. In dieser Hinsicht haben wir Dad beide enttäuscht. Mum ist es egal, solange wir glücklich sind.«
»Merkwürdig«, überlegt Baz laut, »dass alle Eltern ihre Kinder glücklich sehen wollen, obwohl man sich nur umzuschauen braucht, um zu erkennen, wie unwahrscheinlich das ist.«
»Wahrscheinlich stirbt die Hoffnung zuletzt«, sagt Liv. »Ist das nicht ein Spruch? ›Die Hoffnung währet ewiglich.‹«
»Ja, aber man muss auch daran denken, wie das Gedicht weitergeht. ›Nie ruht der Mensch, stets hadert er mit sich.‹ Alexander Pope war ein schrecklicher Zyniker.«
»Na, ich bin jedenfalls glücklich«, erklärt Liv, doch dann erinnert sie sich an ihre Ängste wegen Matt und fühlt sich erneut von diesem winzigen Hauch undefinierbarer Furcht ergriffen.
»Das freut mich sehr zu hören«, sagt Baz und verlässt nach ihr den Raum. Sie durchqueren das Atrium und gehen zum Strand. »Wo stecken die Monster?«
»Dort drüben. Bauen schon wieder eine Sandburg. Gott sei Dank wird es ihnen noch nicht langweilig. Und der gute alte Jenks behält sie im Auge. Er ist der totale Segen. Wenn etwas nicht stimmt, kläfft er, rennt los und sucht mich. Er scheint zu wissen, dass sie nicht allein ins Wasser dürfen. Er ist wie ein liebes altes Kindermädchen. Schade, dass wir keinen Hund halten können.«
»Ich glaube, das wäre ein wenig ehrgeizig«, pflichtet Baz ihr bei. »Ihr habt schon genug um die Ohren, du und Matt. Habt ihr eigentlich einmal überlegt, etwas Neues anzufangen? Wenn ihr so lange an einem Projekt arbeitet, plant Matt doch normalerweise schon, alles zu verkaufen und ein neues zu starten. Ihr müsst doch jetzt schon acht oder neun Jahre in Truro sein.«
Liv seufzt, beobachtet die Zwillinge und spürt eine vertraute Sehnsucht nach Veränderung. »Manchmal reden wir darüber. Ich habe mir schon immer gewünscht, es mit Glamping zu probieren, du weißt schon, Luxus-Camping mit festen Unterkünften. Ich würde gern einen Glamping-Platz eröffnen, aber Matt ist da vorsichtig. Es ist schwierig, den richtigen Standort zu finden – das ist so wichtig –, und es ist auch teuer. Obwohl, wenn wir das The Place verkaufen würden …« Sie zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist das Risiko zu groß. Das sehe ich ein. Ich liebe Truro, es ist eine fantastische Stadt, doch manchmal sehne ich mich danach, wieder auf dem Land zu leben, am Meer. Wie auch immer … Vielleicht später oder wenn Flora und Freddie ein wenig älter sind. Behältst du sie im Auge, Baz, während ich ein paar Blumen pflücke, um sie auf den Tisch zu stellen?«
Jenks sieht sie und kommt auf sie zugerannt, um sie zu begrüßen. Liv bückt sich, um ihn auf den glatten Kopf zu küssen.
»Hallo, altes Hündchen. Du bist so ein feiner Kerl, nicht wahr?«, murmelt sie, öffnet das kleine Tor und tritt auf die Wildblumenwiese.
Baz beobachtet, wie sie mit Jenks auf den Fersen langsam über die Wiese streift, durch die fedrigen Gräser und knallroten Mohnblumen, und fragt sich, wie sie in der Stadt so lange überlebt hat. Wie sie es schafft, nach der Arbeit in dem belebten Bistro in das schmale Stadthaus mit seinem winzigen Stück Garten heimzugehen.
Für ein Mädchen vom Land wie Liv muss es schwierig sein, sich so einschränken zu müssen. Und doch hat sie hart gearbeitet, an der Seite seines Sohnes geschuftet. Baz hat Respekt vor ihr. Er denkt über das Glamping nach und kann nachvollziehen, dass es gut zur ihrer Natur und Persönlichkeit passen würde. Genau wie bei diesem Ferienkomplex in Port Isaac oder dem The Place würde sie dabei all ihre Talente einbringen.
Während er zusieht, wie sie sich bückt, um eine Handvoll Gräser und Mohnblumen zu pflücken, nistet sich ein kleines Samenkorn in seinen Gedanken ein. Er hat bemerkt, dass Matt müde und gereizt ist und zu viel arbeitet. Man braucht ein Gleichgewicht, denkt er, aber das ist nicht immer einfach zu finden. Baz dreht sich um, betrachtet die Zwillinge, lauscht dem Summen ihrer Stimmchen und lächelt über ihre Geschäftigkeit. Er betastet sein Telefon und erinnert sich an Maurices letzte Nachricht: Courage, mon brave. Nur Mut, mein Guter. Wer zögert, hat schon verloren. Es ist natürlich verrückt, denkt Baz. Warum soll er das Risiko eingehen?
Und dann hört er eine Autohupe, die eine kleine Melodie spielt, fährt herum und sieht, wie Andy sein Auto parkt und winkt, und Baz ruft ihm ein Willkommen zu. Die Zwillinge blicken sich um, springen auf und rennen dann unter Freudengeschrei los, um ihren Onkel Andy zu begrüßen.
Andy steigt aus dem Auto und gerät durch die stürmische Begrüßung der Zwillinge fast ins Wanken. Jeder von ihnen umklammert eins seiner Knie, sodass er kaum auf Baz zutreten kann, der ihm mit ausgestreckten Armen entgegenkommt.
»Andy, mein lieber Junge! Wie geht’s dir?«
Gerührt über die herzliche Begrüßung umarmt Andy ihn und lacht über die Zwillinge, die immer noch seine Beine festhalten, auf ihn einreden und nach Liv rufen, die mit Blumensträußen in den Händen von der kleinen Weide heraneilt.
»Andy.« Sie schließt ihn in die Arme und drückt ihn, bis er keine Luft mehr bekommt, und er küsst sie und spürt die ganze Freude darüber, nach Hause gekommen zu sein. Jetzt ist er froh, dass er beschlossen hat, den Umweg zur Strandvilla einzulegen. Er strahlt Baz und Liv an und zaust den Zwillingen das Haar.
»Also«, sagt er. »Sehe ich da eine Sandburg?«
Sie springen um ihn herum und ziehen ihn zum Strand, aber sie haben noch etwas anderes im Kopf, und er sieht grinsend, dass sie überlegen, wie sie die Frage stellen sollen, ohne dass Liv böse wird. Er bewundert ihre Arbeit – und ihre Beherrschung. »Ich habe etwas ganz Besonderes im Auto«, erklärt er dann beiläufig.
Sofort verstummen sie und sehen voll gespannter Erwartung zu ihm auf.
Liv lacht. »Sie wissen, dass sie nicht fragen sollen«, sagt sie. »Aber sie haben sich gut gehalten, und ich finde, du könntest sie von ihrem Elend erlösen.«
»Kommt schon«, meint er. »Schauen wir es uns an.«
Flora und Freddie flitzen über den Sand zum Auto, während Liv und Andy ihnen langsamer folgen.
»Ich habe ihnen gedroht«, gesteht sie. »Es ist so peinlich, wenn sie die Leute fragen, ob sie ihnen etwas mitgebracht haben.«
»Wir waren wahrscheinlich genauso«, meint er. »Es ist nicht einfach, vier Jahre alt zu sein.«
»Fast fünf«, ruft sie ihm ins Gedächtnis.
»Ich habe es nicht vergessen«, sagt er. »Ich werde da sein, um beim Kerzenausblasen und Singen zu helfen. Das heißt, falls ich eingeladen bin.«
»Natürlich bist du.«
Er sieht auf sie hinunter. »Alles in Ordnung?«, fragt er und bemerkt den leisen Schatten in ihrem Blick und ihr Lächeln, das ein wenig wacklig wirkt.
»Natürlich«, gibt sie leichthin zurück. »Warum auch nicht?« Als sie keine Antwort bekommt, schaut sie zu ihm auf. »Was?«, fragt sie abwehrend.
Er zuckt mit den Schultern. »Das musst du mir sagen.«
Aber inzwischen haben die Zwillinge den Wagen erreicht und fordern ihn schreiend auf, sich zu beeilen, daher geht er und öffnet den Kofferraum. Und da steht, eingequetscht neben Andys Gepäck, ein bunter Plastikbagger zum Aufsitzen. Er hebt ihn heraus und zeigt ihnen, wie sie die Schaufel heben und senken können, um Sand zu befördern.
»Toll!«, meint Freddie.
»Besser als Eimerchen und Schippen«, sagt Andy. »Lauft und probiert ihn aus.«
Sie schieben ihn zum Strand hinunter und verständigen sich wortlos, und dann klettert Flora hinauf und tritt in die Pedale, während Freddie vorausläuft und sie dorthin dirigiert, wo der Sand weicher ist. Zusammen bedienen sie die Hebel und quietschen vor Vergnügen, als der Rand der Schaufel sich in den Sand gräbt.
»Großartig«, meint Liz, die sie beobachtet. »Du bist ein Genie. Ich liebe es, dass sie sich selten zanken oder über Spielzeug streiten. Wir waren genauso.«
»Ich weiß. Deswegen dachte ich auch, dass es in Ordnung wäre, wenn ich ein großes Spielzeug mitbringe statt zwei kleinerer.«
»Sie werden den Bagger lieben«, sagt Liv. »Und er ist perfekt für den Strand. Haben sie sich auch richtig bedankt?«
»Natürlich. Sehe ich da, dass Baz Drinks nach draußen bringt?«
»Ja«, antwortet sie. »Komm, gehen wir etwas Leckeres, Kaltes trinken.«
»Und dann kannst du mir erzählen, was dir auf der Seele liegt.«
»Woher weißt du, dass mir etwas auf der Seele liegt?«, gibt sie scharf zurück.
Andy lächelt zu ihr hinunter. »Komm schon, ich kenne dich schließlich gut genug.«