12. Kapitel

Das Meer atmet langsam ein und aus, und Liv kann es hören. Ein Ohr in den Sand gedrückt und mit geschlossenen Augen liegt sie auf dem Bauch. Sie lässt den körnigen, pudrigen Sand durch die Finger gleiten, findet Fragmente winziger Muscheln und glatte Kiesel und ist sich bewusst, dass ihre Atmung sich verlangsamt und dem Rhythmus des Ozeans angepasst hat. Sie fühlt sich ruhig. Die Zwillinge sind endlich im Bett, und Baz und Andy bereiten unter Jenks’ Aufsicht das Abendessen zu.

»Entspann dich«, haben sie zu ihr gesagt. »Komm runter. Setz dich nach draußen. Schenk dir einen Drink ein.«

Stattdessen ist sie am Strand entlanggeschlendert, hat zugesehen, wie der Mond blass und geisterhaft über der Landspitze aufging, und sich dann plötzlich hingesetzt und auf dem warmen Sand ausgestreckt. Sie wünschte, Andy würde länger als nur eine Nacht bleiben, und versucht, sich schlüssig darüber zu werden, warum es einfacher ist, in seiner Gesellschaft zu sein als in Matts. Liegt es einfach daran, dass er ihr Bruder ist, ihr Zwilling? Das muss doch komplizierter sein. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie Matt zwar über alles liebt, dass bei ihm jedoch all diese winzigen, verwirrenden Fäden hinzukommen, aus denen das Netz ihrer Beziehung geknüpft ist, wodurch sie manchmal ebenso zu einem Schlachtfeld wie einem Spielplatz wird. Natürlich sind sie glücklich; natürlich lieben sie einander und ihre Kinder und haben großartige Erlebnisse zusammen. Aber da sind auch diese verborgenen Bereiche von Eifersucht, Schmerz und Groll und das Bedürfnis nach Kontrolle, nach Manipulation. Es gibt auch Pattsituationen, Tabus oder subtile Arten, ein Zugeständnis zu machen, um eine zukünftige Verhandlungsgrundlage zu schaffen.

Glücklicherweise sind Matt und sie beide sehr geradlinig und entspannt, aber die Kombination aus ihrer beruflichen Zusammenarbeit – besonders angesichts ihrer langen, unchristlichen Arbeitszeiten – und der Elternschaft würde jedes noch so ausgeglichene Paar belasten. Ihr eigenes Bedürfnis, regelmäßig in die Sonne und offene Landschaften zu flüchten, und Matts unabdingbare Zeiten, in denen er allein mit einem Buch sein muss, sind in letzter Zeit leider vernachlässigt worden, und sie spüren diesen Verlust beide.

Liv schmiegt die andere Wange in den Sand, sodass sie die einlaufende Flut sehen kann. Sie ist immer noch verunsichert durch ihre Reaktion auf Matts SMS und die knappen Gespräche mit ihm und hat das Gefühl, von etwas ausgeschlossen zu sein. Sie kann es nicht definieren, doch ein Instinkt hat sie vor einer leichten Veränderung an ihm gewarnt. Automatisch gräbt sie die Finger tiefer in den Sand und ballt die Hände zu Fäusten. Das Gefühl von Frieden, das sie vorhin beim Lauschen auf den Atem des Meeres empfunden hat, ist verflogen, und erleichtert hört sie, dass sich Schritte nähern. Liv hebt den Kopf und sieht Andy auf sich zukommen. Sie dreht sich um und setzt sich auf, und er lässt sich neben ihr nieder.

»Ich liebe deinen alten Schwiegervater«, erklärt er. »Anscheinend hat jemand eine Flasche Weißwein zu der Party mitgebracht, doch Baz sagt, der sei nur dazu gut, den Fisch zu waschen. Ich habe ihm ehrfürchtig und staunend dabei zugesehen. Also, warum hast du hier gelegen wie eine ersoffene Meerjungfrau?«

»Ich habe der Flut zugehört. Das ist erstaunlich und wirkt sehr beruhigend.«

»Aber warum brauchst du Beruhigung?«

»Ich schätze, jeder kann ein wenig Ruhe gebrauchen.«

»Ja, doch warum du?«

Sie lacht über seine Beharrlichkeit. Sie erinnert sie daran, wie sie als kleine Kinder mit Mum oder Dad diskutiert haben. »Ja, aber warum müssen wir? Schon, aber wieso?« Mit einem Mal gibt sie nach. »Es ist nur, dass Matt mir fehlt, und wenn er SMS schreibt oder wir reden, klingt er komisch. Ich weiß, dass das albern von mir ist, doch ich kann nicht dagegen an.«

Sie umschlingt die angezogenen Knie, und Andy und sie sehen über das Wasser hinaus. Eine leichte Brise kräuselt das seidenglatte Meer.

»Könnte es einfach daran liegen, dass er ohne seinen Geschäftsführer sehr viel zu tun hat?«

Liv verzieht ein wenig das Gesicht. »Wusste ich doch, dass du pragmatisch und wie ein Mann reagieren würdest. Ja, wahrscheinlich ist das der Grund. Es ist nur … ich habe dieses Gefühl …«

Er stößt sie mit der Schulter an, was tröstlich auf sie wirkt.

»Der gute Matt kommt mir nicht vor wie jemand, der sich zehn Minuten, nachdem seine Frau und Kinder davongefahren sind, seine Geliebte ins Haus holt. Doch du kennst ihn besser als ich.«

Unwillkürlich muss Liv lächeln. »Ich habe nicht gesagt, es hätte mit einer anderen Frau zu tun.«

»Nein, aber du denkst es, oder? Du fragst dich nicht wirklich, ob das Geschäft plötzlich in Konkurs geht und er dir nicht davon erzählt. Ich würde darauf wetten, dass die gute alte weibliche Intuition dir sagt, dass da eine andere Frau ist.«

»Ach, halt den Mund.« Jetzt lacht sie. Es einfach auszusprechen und Andys Reaktion darauf haben ihr gezeigt, wie töricht sie sich aufführt. Ausgerechnet Matt … Als Jenks sich neben ihr fallen lässt und ihr voller Zuneigung über die Wange leckt, zuckt sie zusammen und quietscht. Liv legt dem Hund die Arme um den Hals und schmiegt die Wange an sein weiches, warmes Fell. Sie fühlt sich viel glücklicher und ausgeglichener.

»Ich wünschte, du könntest etwas länger bleiben«, sagt sie zu Andy. »Geht das denn gar nicht?«

Bedauernd schüttelt er den Kopf. »Nicht wirklich. Ich bleibe bis nach dem Mittagessen, aber für morgen Abend hat Mick eine kleine Party organsiert. Ich komme jedoch später im Lauf der Woche noch vorbei.«

Baz ruft nach ihnen; das Abendessen ist fertig. Sie stehen auf und schlendern zurück, und Jenks läuft voraus.

Baz sieht ihnen entgegen. Mit ihrem ungezwungenen Gang und den dicht zusammengesteckten blonden Köpfen sind sie eine erwachsene Ausgabe der Zwillinge. Merkwürdig, denkt Baz, diese innere Verbundenheit. Er mag Andy gut leiden, seinen natürlichen Optimismus, den bereitwilligen Humor und die Wärme, obwohl er den Verdacht hegt, dass Livs Zwillingsbruder auch in der Lage ist, Grenzen zu sprengen, und bereit, Regeln zu beugen. Scharfsinnig ist er ganz bestimmt – er hat diese IT-Firma für eine ordentliche Summe verkauft –, und Baz respektiert den Jüngeren. Und schließlich kann er Andy nicht dafür kritisieren, wenn er sich nicht ganz an die Vorschriften hält. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Baz lächelt den beiden zu.

»Ich habe Jenks geschickt, um euch zu sagen, dass das Essen fertig ist«, erklärt er. »Spricht denn keiner von euch die Hundesprache?«

Sie setzen sich, bewundern seine Mahlzeit und essen begeistert, doch Baz fällt es schwer, sich zu konzentrieren. Glücklicherweise hat Liv eins dieser »Weißt du noch«-Gespräche begonnen, in das Andy einfällt, und Baz kann seine Gedanken zu Sofia schweifen lassen. Er denkt daran, wie sie gestern Nachmittag mit Liv und den Zwillingen war, als sie zum Tee kam, und an diesen wunderbaren Moment in dem Dingi. Wie ungezwungen und ungekünstelt sie ist, und doch wirkt sie ein wenig verletzlich – und ähnelt damit Lucy so sehr.

Baz fühlt echten Zorn – und Eifersucht – auf den Mann in sich aufwallen, der Sofia so gedankenlos behandelt hat, jedenfalls wenn er Janets Version der Ereignisse glauben will. Er wünscht, er könnte Sofia irgendwie helfen, ihr vielleicht einen Job in seiner kleinen Galerie in Clifton Village anbieten. Doch tief in seinem Inneren ist ihm klar, dass er ihr noch viel mehr bieten möchte. Durch das Glas Wein, das er beim Kochen getrunken hat, und das, an dem er jetzt nippt, lösen sich seine Hemmungen, und er kann sich eingestehen, dass er dabei ist, sich in sie zu verlieben. Außerdem weiß er, dass es verrückt und unpassend ist und er sich öffentlich keine Sekunde lang verraten darf. Doch in diesem kurzen Moment, in dem er Liv und Andy gegenübersitzt, die sich über irgendeine Kindheitserinnerung vor Lachen ausschütten, darf er sich den Luxus gönnen und sich vorstellen, wie er Sofia seine Liebe gesteht und sie in den Armen hält.

»Den Fisch mit Weißwein zu waschen!« Liv beugt sich über den Tisch. »Also ehrlich, Baz!«

Er nimmt sich zusammen. »Ich wollte nur vor Andy angeben«, räumt er ein. »Aber es war wirklich ein sehr gewöhnlicher Wein.«

Liv schüttelt den Kopf über ihn, der emotionale Moment geht vorüber, und Baz steht auf, um die Teller abzuräumen. Er trägt sie in die Küche und hält einen Moment inne, bevor er sie abstellt. Jenks ist ihm gefolgt und sieht schwanzwedelnd zu ihm auf.

»Ich liebe sie«, erklärt er dem Hund. »Da, ich habe es gesagt. Ich liebe Sofia. Aber kein Wort zu niemandem, mein Alter.«

»Kann ich helfen?«, fragt Andy, der nach ihm eingetreten ist.

Baz öffnet die Spülmaschine, kommt sich töricht vor und hofft, dass Andy ihn nicht gehört hat. Er räumt die Teller ein. »Im Kühlschrank stehen noch ein paar leckere Reste, die von der Party übrig sind«, sagt er zu Andy. »Stöbere mal durch und sieh, ob ihr auf etwas Lust habt.«

Sein Telefon piept, und er fährt beinahe zusammen, da er sofort an Maurice denkt. Doch er ignoriert den Ton.

»Glaube nicht, dass das meins ist«, meint Andy und öffnet den Kühlschrank.

»Nein, es ist meins«, gibt Baz schnell zurück. »Nichts Wichtiges. Ich setze Kaffee auf.«

Andy sucht ein paar Teller zusammen und trägt sie hinaus, und Baz klappt rasch sein Telefon auf und wirft mit dem Rücken zur Tür einen Blick auf die Nachricht.

En avant, mon vieux. Vorwärts, mein Alter. Ich habe Lust, noch ein Bildchen zu malen. Dieses Mal vom Brick-Lane-Market!

Baz knallt das Telefon auf die Spülmaschine und lädt sie voll. Er fühlt sich verwirrt und nervös und braucht noch einen Drink.

Im halbdunklen Atrium bleibt Andy stehen, sieht zurück und mustert Baz neugierig. Er beobachtet, wie der Ältere sich über das Telefon beugt und es wütend hinwirft, und dann geht Andy nach draußen zu Liz, um ihr von den Leckerbissen anzubieten, die er im Kühlschrank gefunden hat. Als Baz herauskommt, nimmt Andy seine Anspannung wahr und erinnert sich daran, wie Baz vorhin in der Küche mit Jenks geredet hat. Wer ist Sofia?, fragt sich Andy.

Liv kostet kleine Häppchen von unterschiedlichen Desserts, und Baz nimmt sich zusammen, trinkt noch einen Schluck Wein und beginnt, sie damit zu necken, dass sie zunehmen wird. Andy sieht, dass er sich Mühe geben muss, und ihm kommt ein Gedanke. Er entschuldigt sich damit, sich ein Glas Wasser zu holen, und geht zurück in die Küche. Baz’ Handy liegt immer noch auf der Spülmaschine, und Andy nimmt es in die Hand, klappt es auf und scrollt zu den Textnachrichten. Sinnlos, sich ein schlechtes Gewissen einzureden, sagt er sich. Baz ist ganz offensichtlich mitgenommen, und man kann niemandem helfen, wenn man die Fakten nicht kennt. Er liest die letzte SMS.

En avant, mon vieux. Ich habe Lust, noch ein Bildchen zu malen. Dieses Mal vom Brick-Lane-Market!

Der Absender ist jemand namens Maurice, und Andy überprüft schnell die älteren SMS, die Maurice geschickt hat. Es sind insgesamt drei; alle fordern Baz auf, etwas zu tun, bei einer Unternehmung mitzumachen. Und alle haben diesen französischen Unterton. Rasch klappt er das Handy zu, legt es auf die Spülmaschine, gießt sich ein Glas Wasser ein und geht wieder nach draußen.

Jetzt macht er sich Sorgen, sowohl um Liv als auch um Baz. Obwohl er vorhin über ihre weibliche Intuition gewitzelt hat, vertraut er Livs Instinkt und fragt sich, was ihr ungutes Gefühl ausgelöst hat. Noch eine kleine Idee nimmt langsam Gestalt an, der Anfang eines Plans, und die Aussicht beruhigt ihn. Was Baz angeht … Andy beobachtet den Älteren, der immer noch attraktiv und vital ist, und fragt sich noch einmal: Wer ist Sofia?