Freitag
Am Morgen von Annabels Lunchparty ist der Himmel grau. Tief hängende Wolken ziehen über die Klippen. Es ist windstill, und Nieselregen hängt wie Nebel an den Fensterscheiben.
»Es soll später aufklaren«, erklärt Miles aufmunternd, als er ihr die erste Tasse Tee bringt. »Du hast doch den Wetterbericht gesehen. Außerdem essen wir drinnen, sodass es nicht wirklich etwas ausmacht.«
Annabel starrt ihn voll kühler Verachtung an, während er wieder ins Bett steigt. Begreift er denn wirklich nicht, wie viel besser alles ist, wenn die Sonne scheint? Sie denkt an den ursprünglich von Miles ersonnenen Plan, das Mittagessen in eine frühe abendliche Party mit Drinks und köstlichen Häppchen übergehen zu lassen, die dann draußen im Garten stattfindet.
»Natürlich macht es etwas aus«, erklärt sie schneidend.
Nachdenklich trinkt sie ihren Tee. In letzter Zeit scheint Miles sich verändert zu haben. Er ist weniger zugänglich, weniger offen gegenüber ihren Einflüsterungen. Er verbringt Stunden im Garten oder auf dem Golfplatz. Diese Wohnung in Bristol ist aber eine gute Idee, und Annabel kann es kaum erwarten, Baz’ Gesicht zu sehen, wenn sie ihm davon erzählt.
»Ich stehe auf«, bemerkt sie. »Es ist jede Menge zu tun. Meggie kommt früher, bevor sie diese Zwillinge hütet.«
»Flora und Freddie«, sagt Miles.
Annabel zieht die Augenbrauen hoch und zuckt leicht mit den Schultern. »Und Jeff kommt als Tischherr für das Patenkind.«
»Das ›Patenkind‹ heißt Sofia«, murmelt Miles.
Annabel kann ihr Seufzen kaum unterdrücken. Sie interessiert sich nicht für diese Details. Sie möchte einfach dafür sorgen, dass Baz sich gut unterhält. Er liebt ihre Partys und sagt Annabel, wie wunderbar sie ist; dafür lebt sie. Er wird natürlich neben ihr sitzen und Janet auf seiner anderen Seite. Janet ist ein Schatz, aber sie ist nicht gerade eine fesselnde Gesprächspartnerin und wird Baz nicht allzu sehr ablenken. Einer der Gründe, aus denen sie gern Lunchpartys mit fester Tischordnung gibt, ist, dass sie Baz so lange neben sich festhalten kann, wie sie es schafft, das Essen in die Länge zu ziehen. Sie werden zwölf Personen sein, es wird vier oder fünf Gänge geben und reichlich zu trinken. Zum Glück wohnen fast alle ihre Gäste in fußläufiger Entfernung.
Miles stellt seine Tasse auf den kleinen Nachttisch, faltet die Hände hinter dem Kopf und sieht ins Leere. Wenn er eine Wahl hätte, würde er die Zeit lieber auf dem Golfplatz oder in seinem Gewächshaus verbringen, aber er weiß, dass er mitspielen muss. Früher einmal hat er diese Partys genossen und ihre Freunde gern unterhalten, doch heute macht es ihm keine Freude mehr.
Vielleicht stimmt es, überlegt er, dass wir schlussendlich alle das sind, was andere in uns sehen. Er ist der gute alte Miles, Marineoffizier im Ruhestand, der eine Runde Golf und nachher einen Drink im Klubhaus genießt und bei dem man sich immer darauf verlassen kann, dass er in der Kirche die Lesung übernimmt. Keiner ihrer Freunde hier kennt den Miles, der er in Bristol ist, den Miles, der klassische Musik und Konzerte liebt und in kleinen Bistros stundenlang mit El und Baz über Lyrik diskutiert. Die Aussicht auf die Wohnung in Clifton ermöglicht es ihm, diese Farce von einer Ehe noch ein wenig fortzuführen.
Annabel kommt in ihrem weißen Bademantel herein und trocknet sich das Haar mit einem Handtuch. »Solltest du nicht auch sehen, dass du weiterkommst?«, fragt sie. »Wir haben viel zu tun, und du kannst nicht alles mir überlassen, weißt du?«
Er schluckt den aufwallenden Zorn hinunter und steht auf. »Ich gehe hinunter und fange mit dem Frühstück an«, erklärt er. »Und dann dusche ich, ziehe mich an und führe Daffy aus. Ich bin mir sicher, es wird ein großartiger Tag.«
Annabel starrt ihn mit der ihm nur zu vertrauten Miene an. »Und woher willst du das wissen?«, scheint ihr Gesichtsausdruck zu besagen. Sie geht zurück ins Badezimmer. Einen Moment lang steht Miles mit seiner Kaffeetasse in der Hand ganz still da. Sein Blick fällt auf einen kleinen silbernen Bilderrahmen, der auf einer hübschen antiken Kommode mit gewölbter Front steht. Von dem Foto lächelt Lily ihn an, eine kleine Lily mit blondem zerzaustem Haar, das ihr glückliches Gesicht umgibt.
Miles holt tief Luft. Er hebt die leere Tasse, als wolle er Lily zuprosten. »Auf Bristol!«, flüstert er ihr zu. »Und auf die Zukunft, Lily!«
»Kann nicht behaupten, dass ich mich besonders darauf freue«, meint Dave, als sie nach dem Frühstück aufräumen. »Ich frage mich, wie Baz darauf reagieren wird, dass Annabel und Miles eine Wohnung in Bristol kaufen wollen, während er kurz davorsteht, sich ein ganz neues Leben mit Sofia aufzubauen.«
Instinktiv werfen beide einen Blick zur Tür, aber Sofia ist in ihrem Auto davongefahren, und nichts weist darauf hin, dass sie unerwartet zurückkehren könnte.
»Ich war nur froh, dass Sofia zum Tee bei Liv war, als Miles gestern vorbeigekommen ist«, erwidert Janet. »Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte, aber ich kann schon verstehen, dass es gut für ihn wäre. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihm angeboten habe, wenn nötig könnten wir Daffy ab und zu am Wochenende nehmen.«
»Nein, natürlich nicht. Obwohl Miles sie wahrscheinlich mitnehmen wird, wie ich ihn kenne. Sie ist ein sehr sanftes altes Mädchen.«
»Was mehr ist, als man von Annabel behaupten kann«, meint Janet, und sie brechen beide in Gelächter aus.
»Ich hoffe, sie stellt dem armen alten Baz nicht allzu sehr nach, wenn sie in Bristol sind.« Dave schließt die Spülmaschine und schaltet sie ein. »Ach je, ich sehe schon, das gibt Probleme.«
»Also bringen wir es hinter uns und machen gute Miene dazu«, schlägt Janet vor. »Wir müssen nur die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen, und dann kann ich mich entspannen. Natürlich freue ich mich nicht auf Sofias Abreise, doch ich muss gestehen, dass ich nicht mehr lange so weitermachen könnte. Wenigstens brauchen wir uns bei Baz nicht zu verstellen. Das ist die eine gute Sache. Aber Sofia … Sie scheint wie auf glühenden Kohlen zu sitzen.«
»Wohin wollte sie eigentlich? Sie schien es ziemlich eilig zu haben.«
»Sie sagte, sie wolle nach Kingsbridge, doch wenn du meine Meinung hören willst, sind sie und Baz in diesem Moment irgendwo zusammen.«
»Wirklich?« Dave zieht die Augenbrauen hoch und lacht. »Unmöglich. Es ist gerade erst zehn.«
»Was hat denn die Uhrzeit damit zu tun?«, gibt Janet zurück. »Eigentlich könnten wir selbst die Gelegenheit nutzen, uns nach oben zu verdrücken und uns etwas Aufregung zu verschaffen.« Sie schlingt einen Arm um seine Mitte und wirbelt Dave herum.
»Bist du verrückt geworden, Frau?«, fragt er lachend. »Jeden Moment könnte jemand hereinkommen.«
Janet seufzt und schüttelt bedauernd den Kopf. »Mit dir macht es keinen Spaß mehr, alter Mann. Jetzt sehe ich, dass ich mich die ganze Zeit an Baz hätte heranmachen sollen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sofia und er sich um zehn Uhr morgens leidenschaftlich lieben.«
Janet lacht. »Ich wette mit dir, dass sie irgendwo an einem ruhigen Ort knutschen.«
»Na ja, wir werden es nie erfahren, nicht wahr?«
»Außer, ich frage ihn«, pflichtet Janet ihm bei.
»Das würdest du nicht tun«, sagt Dave schockiert. »Oder?«
Janet schneidet ihm eine Grimasse und tätschelt seine Wange. »Ich erzähl’s dir später«, meint sie.
»Das ist inzwischen schon unser Café, oder?«, fragt Sofia.
Sie sitzt an dem Ecktisch im Harbour House und lächelt Baz zu. Die SMS, in der sie ihm vorschlug, sich hier mit ihr zu treffen, hat sie spontan geschickt. Sie hat nicht wirklich geglaubt, dass er sie so schnell beim Wort nehmen würde.
»Und zumindest kommt Annabel heute Morgen nicht vorbei«, sagt Baz und erwidert ihr Lächeln. »Sie wird viel zu sehr mit den Vorbereitungen für ihre Lunchparty beschäftigt sein.«
Sofia zieht eine Grimasse. »Ich fürchte mich davor«, gesteht sie. »Um ehrlich zu sein, bin ich sehr froh, dass wir nicht mehr lange so weitermachen müssen.«
»Ich auch.« Baz wirkt ernst, und ihr Herz macht einen ängstlichen Satz.
»Aber es ist alles in Ordnung, oder?«, fragt sie ihn.
Dieser merkwürdige Gesichtsausdruck, den er gestern in der Strandvilla hatte, ist wieder da, und sie greift nach seiner Hand. Er drückt ihre fest, wirkt jedoch immer noch nachdenklich.
»Nichts hat sich verändert«, erklärt er. »Jedenfalls nicht daran, wie ich für dich empfinde. Es sind nur diese Geister aus der Vergangenheit, von denen ich gestern gesprochen habe. Ich habe über sie nachgedacht, und ich finde, ich sollte versuchen, sie zu vertreiben. Ich dachte, es wäre besser, zu warten, bis ich wieder in Bristol bin, doch jetzt finde ich, dass es dir gegenüber nur fair ist, wenn ich dir davon erzähle, bevor du abreist.«
Nun hat sie richtig Angst bekommen. »Was, hier? Jetzt?«
»Nicht hier.« Er sieht sich um. »Das ist zu öffentlich. Würdest du dich mit mir ins Auto setzen? Es tut mir so leid, liebste Sofes, aber ich glaube, wir müssen das alles aus dem Weg schaffen. Und ich finde, das hier …« – er zögert –, »ist die perfekte Gelegenheit dazu«, schließt er.
Es klingt fast, als zitiere er jemanden, und sie nickt, wobei sie immer noch seine Hand umklammert. »Okay.«
Sie stehen auf und gehen zusammen hinaus in den Nieselregen. Wie Flüchtlinge eilen sie über die Straße in die Sicherheit des Wagens. Baz hilft ihr beim Einsteigen, tritt dann auf die Fahrerseite, steigt ein, wendet sich ihr zu und nimmt ihre Hände, die sie ihm entgegenstreckt.
»Du machst mir Angst, Baz.« Sie versucht zu lächeln. »So schlimm kann es doch nicht sein. Bitte erzähl es mir.«
Und er beginnt, ihr von Lucy, seiner Frau, zu erzählen, von dem Baby, das mit Krebs geboren wurde, und von Lucys Schmerz und ihren Depressionen. Wie sie schließlich, nachdem sie das Baby erstickt hatte, eine Überdosis Valium nahm, und wie er, Baz, die beiden gefunden hat.
Sofia schweigt voller Mitgefühl und Entsetzen, doch dann schildert Baz, dass er in diesem Schockzustand, in seinem Zorn und seiner Verzweiflung, mit einem Freund übereingekommen ist, Profit aus einem illegalen Insiderhandel zu schlagen.
»Ich rede mich heraus«, sagt er, zerquetscht ihre Hände fast zwischen seinen und sieht ihr in die Augen. »Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung.«
»Was hast du mit dem Geld angefangen?«, fragt sie ihn ruhig.
Baz seufzt, entspannt sich. Er wirkt trostlos. »Meinen Anteil habe ich der Krebsforschung gespendet. Aber das macht es nicht besser. Mein Komplize war ein guter Künstler, und bis dahin habe ich eine Galerie in Bristol geleitet. Jedes Mal, wenn er etwas von seinem Anteil brauchte, habe ich ihm ein Bild abgekauft.«
»Und das war es?«
Er runzelt die Stirn. »Ich habe so etwas nie wieder getan. Bei ihm weiß ich das nicht. Er fragt mich immer noch ab und zu, ob ich Lust dazu hätte, doch ich bin bisher nie darauf eingegangen. Du musstest das wissen«, setzt er hinzu, »wenn wir je irgendeine Beziehung haben wollen. Nicht einmal Liv hat eine Ahnung. Nur Andy.« Er zögert. »Und noch eine weitere Person.«
Er beobachtet sie nervös, während sie sich fragt, wie sie darauf reagieren soll.
»Wie grauenhaft«, sagt sie schließlich, »Lucy und das Baby so vorzufinden. Entsetzlich. Du musst ja vollkommen außer dir gewesen sein.«
»Wenn du meinst, dass ich nicht bei klarem Verstand war, als ich diesen Deal getätigt habe, dann könntest du recht haben. Ich erinnere mich, dass ich voller Zorn war, voller Elend und Schuldgefühle, ohnmächtig. Es war eine Art verächtliche Herausforderung an das Leben, das Universum und den ganzen Rest, aber das ist keine Entschuldigung.«
»Wie alt warst du da, Baz?«
»Achtundzwanzig«, antwortet er. »Kein Kind mehr.«
»Nein, kein Kind mehr, doch auch nicht wirklich alt genug, um unter so schrecklichen Umständen Witwer zu werden. Wie alt war Matt?«
»Er war drei. Meine Mutter hat sich in Bristol um ihn gekümmert, weil Lucy so krank war. Nach ihrem Tod bin ich hinuntergezogen. Ich habe die Galerie übernommen, und wir lebten alle zusammen, bis meine Mutter starb. So, jetzt weißt du alles.«
Baz richtet sich auf und sieht durch die beschlagene Windschutzscheibe. Sofia lässt seine Hände los, beugt sich vor und küsst ihn. Sie weiß nicht recht, wie sie jetzt weitermachen soll, ohne das, was er ihr erzählt hat, zu schmälern, und ihn gleichzeitig zu ermuntern, in die Zukunft zu sehen. Es wäre albern, ihm zu sagen, er solle die Vergangenheit vergessen, alles hinter sich lassen. Eine solche Vergangenheit kann man nicht einfach abtun. Sie formt einen und macht einen zu dem, der man ist. Aber wir können zumindest versuchen, sie zu akzeptieren, denkt Sofia. Er dreht sich zur Seite, um sie anzusehen, und sie lächelt ihm zu.
»Okay«, meint sie und tastet sich vorwärts, »jetzt hast du es mir erzählt, und es ändert nicht das Allergeringste zwischen uns und an meinen Gefühlen für dich. Ist das für den Anfang genug?«
»Oh, Sofia!« Baz umarmt sie, und sie spürt seinen Mund an ihrem Kopf. »Oh, das reicht vollkommen aus. Für den Anfang.«
Sie küsst ihn, doch sie weiß, dass sie jetzt auseinandergehen müssen, damit dieses Gespräch sich nicht zu Dankbarkeit und weiteren Erklärungen seinerseits und Beschwichtigungen weiterentwickelt. Sie müssen sich trennen und unter normaleren Umständen wiedersehen, die nicht so mit diesen Emotionen aufgeladen sind. Nun ist sie beinahe froh darüber, dass sie sich das nächste Mal auf Annabels Party treffen werden.
»Ich muss zurück in den Baumstumpfladen und zu meinen lieben Mäusen«, sagt sie leichthin, »bevor sie noch misstrauisch werden.«
Baz beginnt zu lachen, und sie sieht ihn an.
»Was ist?«, will sie wissen.
»Nichts.« Er schüttelt den Kopf. »Ja, du musst gehen … und ich auch. Danke, liebste Sofia. Danke.«
Sie küsst ihn rasch, huscht aus der Tür und läuft eilig zu ihrem Wagen. Vielleicht sollte sie sich aufgebrachter fühlen, besorgter wegen dem, was er ihr erzählt hat, aber das scheint alles so lange her zu sein. Hinter ihr hupt Baz kurz, als er vorbeifährt, und sie winkt ihm zu. Dann startet sie den Motor und macht sich auf den Rückweg zu Janet und Dave.