25. Kapitel

Liv hat den Eindruck, dass alle bis auf Annabel froh sind, als das Mittagessen vorüber ist. Die Stimmung ist unbehaglich und voll unterdrückter Emotionen. Miles wirkt besorgt, Dave und Janet scheinen ein wenig nervös zu sein, und Sofia ist sichtlich angespannt. Nur El ist wie immer: distanziert, belustigt, gelassen.

»Ehrlich, Annabel übertreibt es einfach«, meint Liv halblaut zu Sofia, als sie zum Kaffee in den Salon gehen. »Armer alter Baz. Ich habe keine Ahnung, wie er sie erträgt. Geh und sei nett zu ihm.«

Sofia schnaubt leise und amüsiert. »Meinst du, das sollte ich?«

Ihre Reaktion erstaunt Liv ein wenig. »Ja, ich finde, das solltest du«, erklärt sie energisch. »Und … hör mal. Matt ist inzwischen wahrscheinlich in der Strandvilla angekommen. Warum kommst du nicht morgen früh vorbei, um ihn kennenzulernen?«

Sofia zögert. »Sehr gern. Aber bist du dir sicher? Ich meine, wenn er gerade erst angekommen ist …«

»Natürlich bin ich mir sicher. Schließlich fährst du bald zurück, oder?«

»Am Sonntagmorgen«, sagt Sofia. »Ich muss mir einen Job suchen. Doch es war großartig hier. Mir hat es gut gefallen, und alle waren so freundlich.«

Sie wirkt ein wenig betrübt, und Liv fühlt sich von Zuneigung zu ihr überwältigt.

»Und, wie fandest du Andy?«, fragt sie gespannt, und Sofia lacht.

»Er geht total süß mit Flora und Freddie um, und er sieht sehr gut aus. Aber es hat keinen Sinn, uns verkuppeln zu wollen, Liv. Dazu hat bei uns beiden der notwendige Funke gefehlt.«

Liv lacht ebenfalls. »Ist mir auch schon aufgefallen. Schade, oder? Das wäre einfach perfekt gewesen.«

»Lieb von dir, das zu sagen«, beginnt Sofia und zögert dann, als wollte sie noch etwas hinzufügen, doch El tritt zu ihnen.

»Ich sehe nicht ganz, wie diese Geschichte bis zur Teezeit weitergehen soll«, bemerkt sie in ihrer direkten Art, »trotz Annabels Erwartungen. Was meint ihr?«

»Du meine Güte, Charlie Brown!«, zitiert Liv Baz. »Du machst wohl Witze. Ich habe jedenfalls eine gute Ausrede. Matt muss bald eintreffen, wenn er nicht schon da ist, und ich will ihn sehen. Abgesehen davon passt die arme alte Meggie auf Flora und Freddie auf, also habe ich eine wirklich gute Erklärung. Was ist mit dir?«

»Ich brauche keine Ausrede.« El lächelt heiter. »Annabel würde mich nicht vermissen.«

»Aber Miles vielleicht«, sagt Sofia vorsichtig, und die anderen beiden Frauen sehen sie erstaunt an.

El neigt den Kopf, als akzeptiere sie den Einwurf. »Schon möglich«, sagt sie. »Miles und ich sind alte Freunde. Nicht so alte wie Baz und ich, doch wir amüsieren uns gut miteinander, wenn er nach Bristol kommt. Wir gehen alle zusammen zu Konzerten in St. George’s und Colston Hall.«

»Klingt wunderbar«, meint Sofia. »Vielleicht kann ich mich gelegentlich anschließen, falls ich einen Job in Bristol bekomme?«

El lächelt ihr zu, und Liv hat den Eindruck, dass die beiden eine Botschaft ausgetauscht haben.

»Ich freue mich darauf«, sagt El. »Herrje, da kommt der Bursche, mit dem Annabel mich immer zusammensetzt. Armer Jeff. Wir haben nicht das Geringste gemeinsam, doch er tut sein Bestes. Seid nett zu ihm, Mädels.«

Sie huscht davon, und Liv und Sofia hören auf zu lachen und lächeln Jeff entgegen, der auf sie zukommt.

Baz geht mit El hinaus, um sie zu verabschieden und kurz auf sein Handy zu sehen. Er erwartet eine SMS von Andy. Doch als sie durch das Gartentor treten, klingelt das Telefon, und Andys Name wird angezeigt.

Er entschuldigt sich mit einer Geste bei El, wendet sich ab und nimmt den Anruf an. »Was gibt’s Neues?«, fragt er.

»Wunderbare Nachrichten«, sagt Andy. »Sie hat einen sehr guten Job in New York angeboten bekommen. In einer Bank, bei der sie sich letztes Jahr beworben hat. Sie ist schon auf dem Rückweg nach London.«

»O mein Gott.« Baz lässt sich auf eine Gartenmauer sinken. »Hat sie einen Verdacht?«

»Oh, ich glaube schon, aber sie kann die Verbindung nicht herstellen. Es ist alles zu nebulös, und sie begreift nicht ganz, welche Rolle die Bilder dabei spielen, obwohl sie vielleicht noch darauf kommt. Sie ist sehr schlau, unsere Cat.«

»O mein Gott«, sagt er noch einmal. »Und bist du hinuntergefahren und hast sie mitgenommen?«

Andy beginnt zu lachen. »Allerdings. Sie liegen in meinem Wagen, und das ist auch besser so.«

»Warum?«

»Weil Joe mich angerufen hat. Catriona ist nach unserem Mittagessen im The Place aufgekreuzt und wollte sie kaufen.«

Baz bringt kein Wort heraus. Schweigend und mit pochendem Herzen sitzt er da.

»Wie ich ihm aufgetragen hatte, hat Joe ihr erklärt, ein Kunde habe sie eben gekauft, und er wisse nicht, wer er war. Cat war anscheinend ziemlich aufgebracht.«

»Jesus!«

»Gott sei Dank hast du an die Bilder gedacht, Baz.«

Baz sieht die Straße entlang zu El, die dort steht und auf ihn wartet. »Ich glaube, wir sind aus dem Schneider«, fährt Andy fort. »Catriona hat einen tollen Job, und wenn sie etwas verlauten lässt, wäre das beruflicher Selbstmord. Außerdem haben wir die Bilder.«

»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Andy«, sagt Baz mit zittriger Stimme. »Du hast uns allen das Leben gerettet.«

»Und noch eins, Baz – für den Fall, dass du reinen Tisch machen willst: Erzähl Liv auf keinen Fall, dass Cat etwas weiß. Ich bin aufrichtig überzeugt davon, dass wir nichts zu fürchten haben. Aber allein das Wissen, dass Cat etwas weiß oder ahnt, wird Livs inneren Frieden für immer zerstören. Die Angst, dass Catriona eines Tages wieder auftauchen könnte, wird Liv verfolgen. Und niemand hat einen Vorteil davon. Wenn du das Gefühl hast, ihnen erzählen zu müssen, dass du vor vierzig Jahren sehr unartig warst, dann tu, was du nicht lassen kannst, wie mein alter Dad sagen würde. Aber bleib bei einfachen Erklärungen.«

»Weißt du, ich glaube, du hast recht.« Erleichterung überwältigt Baz. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, und ich habe keine Ahnung, wie du das so schnell herausbekommen hast. Doch ich danke Gott dafür.«

»Genießt eure gemeinsame Zeit«, erwidert Andy. »Ich komme nächste Woche vorbei.« Er zögert, und Baz hört ihn leise lachen. »Bonne chance, mon brave«, sagt er. Und dann ist die Leitung tot.

Verdutzt über den französischen Abschiedsgruß starrt Baz sein Telefon an. Er denkt einen Moment nach und stellt dann ganz langsam die Verbindung her. Nach ein paar Sekunden lacht er ebenfalls leise. »Dieser Satansbraten«, murmelt er.

»Worüber lachst du?«, fragt El, als er wieder zu ihr tritt.

Er schüttelt den Kopf. »Eines Tages erzähle ich es dir«, sagt er. »Aber nicht hier.«

»Wir müssen los«, sagt Janet bedauernd zu Annabel. »So schade, dass wir gehen müssen, doch wir haben … ähm … eine Komiteesitzung«, und Dave nickt schnell.

Annabel lächelt den beiden verkniffen und säuerlich zu. »Wieder gute Werke?«, fragt sie. »Du meine Güte! Dann dürfen wir euch nicht davon abhalten.«

Janet blickt sich um. »Sieht aus, als würde der Regen alle vertreiben«, bemerkt sie. »Was für ein Jammer.«

Annabel wirft ihr einen scharfen Blick zu – ist Janet etwa sarkastisch? –, doch sie und Dave strahlen sie an, verabschieden sich in die Runde und eilen Arm in Arm davon.

Ihr wird klar, dass sie bald zusammen mit diesem Langweiler Jeff die Letzte sein wird, und beschließt, den Laden dichtzumachen. Ihr Tag ist ruiniert. Sie hat Baz nicht einmal von dem Plan erzählen können, eine Wohnung in Bristol zu kaufen. So etwas sollte man unter vier Augen und ohne Zeugen tun. Bei der Aussicht auf diese Freude, die noch vor ihr liegt, bessert sich ihre Laune ein wenig.

»Ich habe ein paar zum Verkauf stehende Immobilien in Clifton ausgedruckt«, erklärt Miles, der zurückkommt, nachdem er die letzten Gäste verabschiedet hat. »Sollen wir sie uns ansehen?«

Annabel gestattet sich ein Lächeln. Die Wohnung in Bristol eröffnet neue Möglichkeiten, ein neues Leben. Dort leben bestimmt interessantere Menschen als in diesem kleinen trostlosen Dorf. »Kannst du mir zuerst einen Tee kochen?«, fragt sie. »Ich bin dann im Salon. Aufräumen können wir später.«

Sie geht in den Salon, schiebt Daffy vom Sofa und setzt sich. Miles hat die Angebote auf den Sekretär gelegt, und sie greift danach und beginnt, sie zu studieren.

Miles brüht den Tee auf. Daffy kommt herein, und er gibt ihr einen Hundekuchen und streichelt ihr den Kopf. »Das Leben ist schön«, erklärt er ihr.

Er fühlt sich so zuversichtlich, so positiv, dass es schon fast Furcht einflößend ist. Am vergangenen Abend hat er mit Lily telefoniert, ihr von seinem Plan erzählt und erklärt, er hoffe, dass Jenny und sie ihn in der Wohnung in Bristol besuchen.

»Das ist toll, Dad«, hat sie begeistert gesagt. »Gib mir Bescheid, wenn du etwas gefunden hast. Schick mir die Fotos per E-Mail. Und hör zu, ich muss Ende August nach Paris, und Jenny begleitet mich. Könntest du da nicht herüberkommen?«

»Sehr gern«, antwortete er sofort. »Natürlich. Lass mich den Ort und die Zeit wissen. Obwohl ich nicht für Mum sprechen kann …«

»Nein, nein. Das verstehe ich schon«, versicherte sie. »Aber es wäre so schön, dich zu sehen. Und dann, in einiger Zeit, vielleicht sogar in Bristol …«

Als er jetzt den Tee zubereitet, fragt er sich, ob die Wohnung in Bristol wirklich eine Gelegenheit sein wird, sich zu versöhnen und Verständnis füreinander aufzubringen.

»Wir können es nur hoffen«, sagt er zu Daffy, während er das Teeservice auf ein Tablett stellt, und die Hündin wedelt aufmunternd mit dem Schwanz und folgt ihm aus der Küche in den Salon.

»Du siehst glücklicher aus«, sagt Sofia zu Baz, während sie auf der Dorfstraße darauf warten, dass Liv das Auto holt. »Liv hat mich für morgen früh zum Kaffee eingeladen, damit ich Matt kennenlerne. Ist das in Ordnung für dich?«

»Äußerst in Ordnung«, antwortet er, und sie ist erfreut und fühlt sich plötzlich weniger nervös.

»Gut«, sagt sie. »So, ich gehe dann zurück in den Baumstumpfladen.«

Baz lacht, als fiele ihm etwas ein. »Ich frage mich, ob wir das nicht ein wenig falsch verstanden haben. So langsam überlege ich, ob es nicht eher die Höhle des Löwen ist.«

Der Wagen mit Liv am Steuer hält neben ihnen an, und Baz öffnet die Tür. Er wirft Sofia heimlich einen kleinen Luftkuss zu, und sie geht glücklich und erwartungsvoll davon. Noch einmal prüft sie sich, während sie die Schultern anzieht, um sich vor dem Sprühregen zu schützen, und denkt an Rob. Aber die Erinnerungen haben die Macht verloren, sie zu verletzen, und sie weiß, dass sie bald in der Lage sein wird, an das Positive zu denken, den Spaß, den sie mit Seb hatte, und es nicht nötig hat, etwas zu bereuen.

Die Gärten der Cottages sind vom Duft nach Wicken und Kletterrosen erfüllt, und in Gemüsebeeten erspäht sie die hohen Stangen, an denen die grünen Bohnen emporranken. Fingerhut wächst in den Bruchsteinmauern, und am Rand des Kirchhofs steht ein Busch mit cremig pinken Weidenröschen. Der Nieselregen legt sich feucht über ihr Haar und die nackten Arme, doch die Luft ist warm, und die tief hängenden Wolken sind von Licht erfüllt, als sie sich im kräftigen Sonnenschein aufzulösen beginnen.

Sofia fragt sich, wie es sein wird, morgen Matt kennenzulernen und mit Baz, seinem Sohn und seiner ganzen Familie zusammen zu sein. Er hat so zuversichtlich geklungen, als sie auseinandergegangen sind, dass ihre üblichen Befürchtungen den Rückzug angetreten haben, und sie spürt nichts außer diesem unerwarteten Optimismus, dass alles gut werden wird.

Der Gedanke, Dave und Janet zu verlassen, die so lieb gewesen sind, betrübt sie. Sofia fährt sich mit den Fingern durch das feuchte Haar und tritt durch das Gartentor des Baumstumpfladens.