Kapitel 2

 

Die Sonne kam gerade hinter dem Kirchturm hervor und versprach einen weiteren heißen Sommertag. Schwer ruhte der Arm ihrer Tante auf Katharina Schulmanns Schultern, als sie gemeinsam durch die Pforte des Klosters gingen.

»Du schreibst mir ... ja«, forderte Claudia Vornstädt.

Die schwarzen Haare nach hinten zu einem Dutt gebunden, ließen das Gesicht der Wertpapier Brokerin streng, resolut und unnahbar wirken. Meine Tante ist eine einschüchternde Persönlichkeit. Nicht umsonst setzte sie sich erfolgreich in der von Männern beherrschten Finanzwelt durch. Das strahlte Claudia Vornstädt auch aus. Sie strotzt vor Selbstbewusstsein. Das schwarzweiße, ärmellose Designerkleid umschmeichelte die attraktive, weibliche Figur. Es flatterte bei jeder ihrer graziösen Bewegungen, und die Stöckelschuhe klackerten auf den Fliesen. Wie Steine die gegeneinander geschlagen werden. Ein Laut, der nicht in Katharinas Zuhause passte.

Wir sind wie Tag und Nacht. Schwarz und weiß. Katharina schmunzelte. Sie strich sich über das hochgeschlossene schwarze Kleid aus Baumwolle. Schlicht und einfach. Sie fühlte sich wohl darin. Es zeigte jedem, dass sie zu einer großen Gemeinschaft gehört. Der Orden ist meine Familie. Ich bin nie allein. Sie musste sich morgens keine Gedanken um ihre schulterlangen blonden Locken machen, denn diese verbarg sie unter dem weißen Schleier. Erfolg, das eigene Aussehen, materielle Dinge waren ihr noch nie wichtig gewesen. Sie wollte den Menschen helfen.

»Natürlich, Tante«, Katharina lächelte, was ihr nicht schwerfiel. Im Gegenteil. Tatsächlich war sie erleichtert, dass Claudia Vornstädt heute abreiste, denn sie musste sich eingestehen, dass der überraschende Besuch sie aufgewühlt hatte.

Die Novizin begleitete ihre Tante zum Parkplatz. Unter den schattenspendenden Bäumen stand der weiße Porsche, den sie gerne ausprobiert hätte. Jedoch ergab sich in den letzten fünf Tagen keine Gelegenheit dazu. Katharina unterdrückte einen Seufzer.

Claudia Vornstädt löste sich von ihr. »So nun ...«, sie schaute ihr direkt in die Augen und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Du bist dir wirklich sicher, dass du hier bleiben willst?«

Katharina nickte. »Ja.«

»Ich hasse Abschiede«, schluchzte die stolze Karrierefrau. »Auf Wiedersehen.«

»Bis bald. Melde dich, wenn du angekommen bist.«

Sie umarmte ihre Tante ein letztes Mal. Dann stieg Claudia Vornstädt in den Wagen. Katharina ging einige Schritte zurück und winkte zum Abschied. Ihr Herz fühlte sich mit jeder Minute entlasteter an. Sie atmete auf, als der weiße Flitzer davon brauste, und sah ihrer Tante hinterher, bis der Wagen aus ihrem Sichtfeld verschwand.

 

Sachte wurde sie an der Schulter angetippt. Katharina drehte sich leicht zusammenzuckend um und blickte in das lächelnde Gesicht von Schwester Eugenie. Die Frau war die gute Laune in persona. Katharina konnte sich nicht erinnern, ihre Novizenmeisterin und mittlerweile beste Freundin jemals schlechtgelaunt gesehen zu haben. Und ihr Noviziat war fast zu Ende.

»Guten Morgen.« Eugenies unverkennbar laute Stimme wirkte belebend, wie eine Tasse mit starkem Kaffee.

»Wünsche ich dir auch.«

»Verlegen wir den Unterricht in den Garten?«, Eugenie betrachtete den wolkenlosen Himmel. »Bei dem herrlichen Wetter ist es doch eine Sünde drinnen zu versauern.« Sie zwinkerte Katharina zu.

Sie beobachtete erstaunt, wie ihre Freundin eine Bibel aus der Tasche an ihrem Kleid zog. Entweder Eugenies Taschen sind riesig oder sie ist eine Hexe. Kopfschüttelnd stimmte Katharina lachend zu. Die Novizenmeisterin hakte sich bei ihr ein und sie schlenderten in den großzügig angelegten Klostergarten.

»Ist dir der Abschied schwergefallen?«

Katharina sah Eugenie verdutzt an. »Wieso fragst du?«

»Du bist so still.«

»Nein. Keine Sorge.«

Schweigend gingen sie weiter. Sie hatten keine Eile und ließen sich Zeit ein passendes Plätzchen zu finden. Schließlich wählten sie die alte Eiche in der Mitte des Gartens und machten es sich im Gras bequem. Tief atmete Katharina den warmen, blumigen Geruch des Sommers ein. Der Tag lud dazu ein, die Seele baumeln zu lassen.

Ich brauche keine ausgefallenen Weltreisen. Ich habe hier alles. Sie stützte sich auf ihre Arme und bewunderte still die ausladenden Äste der Eiche.

»Warum glaube ich dir nicht? Jetzt sag schon.«

»Nein. Es ist nur ...« Wie soll ich es erklären? »Ach vergiss es.«

Eugenie rollte die Augen. »Los.«

»Ach ... Tante Claudias Erzählungen von ihren Reisen wecken ... Neid und Fernweh in mir. Dann frage ich mich, ... nur für einen kurzen Moment ... ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Eugenies wachsame, braune Augen ruhten auf Katharina. »Weißt du, diese Augenblicke wird es immer geben. Ich empfehle dir, dich darauf zu besinnen, was du mit deinem Leben erreichen willst.«

»Ich will Anderen helfen, so wie ihr mir geholfen habt.«

Eugenie nickte verstehend. »Und jetzt. Zweifelst du jetzt auch noch?«

Katharina lauschte in sich hinein und schüttelte lachend den Kopf. »Nein.«

Eugenie stimmte in ihr Lachen mit ein und der Wind trieb den fröhlichen Klang durch den Garten.

»Ich störe diese Ausgelassenheit nur ungern«, hörten sie die schneidende Stimme der Mutter Oberin hinter ihnen.

Sofort erstarb das Lachen. Katharina verschluckte sich. Sie hatte das Gefühl, dass es innerhalb von Sekunden um einige Grad kälter wurde. Durch das plötzliche Auftauchen der strengen Konventvorsteherin hatte sie eine Gänsehaut.

Eugenie stand auf und sah die Äbtissin gelassen an. »Guten Morgen ehrwürdige Mutter, Sie stören uns nicht. Was können wir für Sie tun?«

Die Augen der Äbtissin verengten sich und ihre ineinander gefalteten Hände wirkten verkrampft. »Johann plagt das Rheuma. Er fällt heute aus«, erklärte die Mutter Oberin verärgert. »Das Problem ist, dass der Transporter zum Kundendienst muss. Da wir den Wagen schnellstmöglich wieder brauchen, ist es unmöglich, den Termin zu verschieben.«

Es gab nicht viele Schwestern, die einen Führerschein hatten. Eugenie war eine davon, ebenso wie Katharina. Auf das Drängen ihrer Tante legte sie die Führerscheinprüfung ab. Offenbar hoffte Claudia Vornstädt darauf, sie mit einem Auto und neu gewonnener Freiheit umstimmen zu können.

Eugenies Augen begannen zu funkeln. »Mutter Oberin, das ist ja furchtbar. Der arme Johann. Ich würde ja sehr gerne einspringen, jedoch habe ich keine Zeit. Ich habe Frau Zeller vom Waisenhaus versprochen, bis Mittag die gespendeten Spielsachen vorbeizubringen.« Eugenie deutete auf die junge Novizin. »Aber Katharina könnte den Tranporter in die Werkstatt fahren.«

Die Konventvorsteherin musterte Katharina argwöhnisch. Sie bemühte sich nicht, die gehegte Ablehnung zu verstecken. Katharina fühlte sich zunehmend unwohler. Der strenge Blick schien sie regelrecht zu röntgen. Sofort hatte die Novizin das Gefühl, als könnten die eisig grauen Augen der Mutter Oberin, ihr bis auf die Knochen sehen und jeden ihrer Gedanken lesen. »Schwester Katharina, du hast einen Führerschein?«

Katharina räuspert sich und kam unbeholfen auf die Beine. »Ja, Mutter Oberin.«

Die Äbtissin baute sich zu ihrer gesamten Größe auf, dennoch war Katharina ein paar Zentimeter größer. »Komm mit Kind.«

Katharina traute ihren Ohren nicht. Sollte das bedeuten, dass ...? Sie bekam Herzklopfen. Sie konnte es nicht glauben und sah zu Eugenie. Diese grinste triumphierend und zuckte lässig die Schultern.

 

»Wo bleibst du?«, schimpfte die Mutter Oberin aus einigen Metern Entfernung. Katharina beeilte sich und folgte ihr nach. Sie gingen geradewegs zu den Garagen. Dort wurden sie von dem kranken Johann bereits erwartet.

Bevor sie allerdings bei ihm ankamen, blieb die Äbtissin stehen und musterte Katharina streng. »Katharina, ich möchte, dass du weißt, dass ich Schwester Eugenies Auffassung nicht teile. Du hast weder die Reife noch die Kompetenz. Ich halte es für keine gute Idee, dich mit dem Transporter in die Stadt zu schicken«, die Mutter Oberin atmete durch. »Aber gut. Ich habe keine andere Wahl.« Die Äbtissin erwartete keine Antwort von der Novizin. Sie ließ die Worte zwischen ihnen stehen und ging weiter.

Katharina schluckte. Was habe ich getan, dass die Mutter Oberin so wenig vertrauen in mich hat? Es fiel ihr sehr schwer zu verbergen, dass die harten Worte sie getroffen hatten. Es dämpfte die Freude darauf, dass sie gleich alleine in die Stadt fahren würde. Wild spürte sie ihr Herz pochen und versuchte die unterschiedlichen Gefühle zu ordnen.

»Johann, bringen sie Schwester Katharina bitte die Schlüssel für den Transporter sowie eine Wegbeschreibung zur Werkstatt«, befahl die Mutter Oberin mit schneidender Stimme.

Dieser nickte und ging eilig davon. Ohne seine Rückkehr abzuwarten, ließ die Äbtissin Katharina einfach stehen und ging. Unschlüssig stand Katharina nun da und wartete.

Einige Minuten vergingen, bis der Hausmeister zurückkam. »Hier bitte«, murmelte er und hielt ihr Wagenschlüssel und ein Blattpapier entgegen.

Mit mehr als gemischten Gefühlen nahm sie diese an und stammelte: »Ähm ... Danke Johann.«