»Möchten sie noch Nachschlag? Oder darf ich den Teller mitnehmen?« Katharina betrachtete den Obdachlosen in der zerlumpten Kleidung und wartete auf dessen Antwort. Dieser grunzte missmutig vor sich hin und schob den Teller zur Seite.
»Danke«, flüsterte sie und stellte den Teller aufs voll beladene Tablett.
Sie ging in den hinteren Bereich der Mission, in dem sich die provisorisch eingerichtete Küche befand.
»Kann ich noch was haben?«, rief ihr einer der Gäste hinterher. Sie drehte sich zu ihm. »Natürlich ... sehr gerne. Ich bin gleich bei Ihnen.«
Ihr Blick wanderte durch den Raum. Der strömende Regen hatte die obdachlosen Menschen hereingetrieben. Es saßen noch immer fünfzig Leute an den Tischen. Nur wenige allein, wie der Herr von eben. Die Mehrheit von ihnen lachte und unterhielt sich angeregt miteinander. Für einen kurzen Augenblick konnte sie diesen Menschen ein kleines bisschen Glück schenken. Ich liebe diese Arbeit. Ein Gefühl der Zufriedenheit breitete sich in ihr aus und für einige Stunden hatte sie den Mechaniker vergessen.
»Wird das heute noch was?«, schimpfte der Gast ungeduldig und riss Katharina damit aus ihren Gedanken.
Sie beeilte sich, einen Teller mit Gemüsesuppe zu dem Hungernden zu bringen. »Hier bitte sehr. Guten Appetit.«
Langsam ließ der Regen nach. Sie sah auf die Uhr: 01:15 Uhr. Aus dem Fenster sah sie, wie aus der kleinen Kneipe, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, gerade ein verliebtes Paar kam. Der Mann und die Frau küssten sich wild und verschwanden in der Dunkelheit der nächsten Seitengasse. Die haben es aber sehr eilig. Fasziniert sah sie ihnen hinterher.
»Katharina«, rief Eugenie. Katharina schreckte erneut auf. »Ich bring den ersten Schwung Geschirr ins Kloster. Schwester Marianne sitzt sicherlich schon auf heißen Kohlen. Du weißt, wie unerträglich sie wird, wenn sie warten muss. Ich nehme den Transporter und komme in einer Stunde zurück.«
»Okay«, Katharina sah sich um. Die meisten waren bereits mit dem Essen fertig. Sie ging zu ihrer Freundin. »Eugenie, das restliche Geschirr bringe ich locker im Auto unter. Da kannst du dir den Weg hier her sparen.«
»Wirklich? Bist du dir sicher? Wenn es kein Problem für dich ist.«
Katharina nickte entschlossen. »Wirklich nicht. Den Rest schaffe ich alleine und schließe ab, wenn der letzte Gast gegangen ist.« Eugenie überlegte kurz, stimmte schließlich nickend zu und begann den Transporter zu beladen. Dies nahmen die ersten Gäste als Anlass ebenfalls aufzubrechen.
»So ich bin startklar.« Eugenie reichte ihr den Schlüssel für die Mission, den Katharina nicht ganz ohne Stolz entgegennahm. »Bis später.«
»Bis dann.«
Sie widmete sich den restlichen Gästen. Hörte ihnen zu, wie sie von ihrem Leben erzählten. Nebenbei räumte sie das restliche Geschirr zusammen und wischte die Tische ab. Gegen zwei Uhr verabschiedete sich auch der Letzte. Katharina begleitete ihn zu Tür. »Auf Wiedersehen und passen sie gut auf sich auf.«
Er reichte ihr die Hand. »Danke Schwester, sie auch.«
Nachdenklich sah sie dem Mann hinterher, bis er um die Ecke bog und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Ob er wieder kommt?
»Hey Schwester!«, grölte es plötzlich von der anderen Straßenseite. Sie sah hinüber und erkannte Riley Jamerson sofort. Der große Mann wankte auf sie zu, während er versuchte sein helles T-Shirt in die Jeans zu stopfen und die Lederjacke anzuziehen. »Täubchen«, ein Rülpser entkam seiner Kehle. »... du ... hier. ... In dieser bösen ... Gegend?« Er zündete sich eine Zigarette an.
Seine grünen Augen waren rot unterlaufen und er stank wie eine Schnapsbrennerei. Bevor Katharina sich versah, stand er neben ihr und hatte den rechten Arm über ihre Schultern geworfen und sie näher zu sich rangezogen. Sie knickte ein wenig unter seinem Gewicht ein. Als Rileys Atem auf ihre Haut traf, begann es in ihrem gesamten Körper zu prickeln. Er streifte mit der Nase über ihre Wange und sie glaubte, ihr Herz setzte aus. »So ... was machen wir jetzt?«, lallte er gegen ihren Hals.
Sie erzitterte, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen und starrte wie ein aufgescheuchtes Reh in sein Gesicht. Die Nähe zu ihm brachte sie völlig aus dem Konzept. Rileys linke Hand strich langsam hinab zu ihrer Hüfte. Ihre Atmung beschleunigte sich. Was macht er nur mit mir? Sie war erschrocken darüber, wie willig Ihr Körper auf seine Avancen reagierte. Das unbekannte und doch angenehme Ziehen in ihrem Bauch versprach ihr etwas wundervoll großartiges zu werden. Ihr Puls raste. Sie wollte ihn, wollte seinen Körper ganz nah an ihrem spüren. Der Abstand zwischen ihnen schmolz dahin wie Eis in der Sonne und seine Körperwärme umfing sie, hüllte sie ein, so dass sie dabei war, sich selbst zu vergessen. Sie folgte dem Gefühl in ihrem Herzen, sich treiben zu lassen.
Doch abrupt, laut und donnernd, schaltete sich ihre Vernunft ein, die sie grob aus der Selbstvergessenheit riss. Sie hörte Eugenies Worte, in ihrem Kopf: »Halte dich von ihm fern«. Eben noch losgelöst von allem fühlte sich Katharina nun, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Halt! Nein. Das ist falsch. Völlig falsch. Entsetzt über sich selbst, versuchte sie Abstand zwischen ihm und sich zu bringen. Mit aller Kraft schob sie Riley von sich weg. »Wir ... gar nichts«, sagte sie bestimmend. Doch ihre Stimme zitterte und ihre Knie glichen einem Wackelpudding. »Ich schließe jetzt die Mission und fahre nach Hause.«
Riley lachte amüsiert auf. »Nach Hause ...«, seine Stimme wurde gehässig und auf seinem Gesicht spiegelte sich Verachtung. »Du meinst wohl eher, du fährst zu den anderen alten Jungfern ... die nichts von Männern und Sex wissen wollen.«
Katharina schluckte schwer. Wieso sagt er das so, als wäre es etwas Verabscheuungswürdiges? Wieso ist er so gemein?
Seine Worte löschten das eben noch brennende Verlangen und schmerzten wie ein Schlag ins Gesicht. Mit zusammengepressten Lippen kämpfte sie darum, ihre Fassung zurückzugewinnen. Gleichzeitig schoss ihr Wut in die Wangen und färbten diese glühend rot. »Wenn das ihre Meinung von meinen Mitschwestern und mir ist, dann sollten wir das Gespräch beenden. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.« Sie wandte sich von Riley ab.
»Entschuldigung«, hörte sie ihn kleinlaut lallen. Distanziert nickte sie ihm zu und verschwand in der Mission.
Sie versuchte ihren Ärger über den betrunkenen Mechaniker vor der Tür und sich selbst hinunter zuschlucken. Hoffentlich geht er bald. Immer wieder schielte sie zum Fenster. Doch Riley bewegte sich nicht ein Stück. Er lehnte grinsend an der Mauer und rauchte. Idiot! Geh endlich. Sie ließ sich Zeit, als sie das Geschirr wusch. Damit fertig, packte sie in aller Ruhe die restlichen Sachen in eine Plastikwanne, den Schlüssel legte sie oben auf. Erneut sah sie zum Fenster. Mist, er wartet immer noch. Oh Gott, warum geht er nicht einfach?
Seufzend nahm sie die Plastikwanne hoch und ging zur Tür. Augen zu und durch. Riley stand an die Wand gelehnt da und nahm gerade genüsslich einen Zug von seiner Zigarette. Es ärgerte sie, dass er sie weiterhin unverhohlen beobachtete. »Brauchen Sie noch etwas?«, fauchte sie.
Er zuckte lässig mit den Schultern und kämpfte mit dem Gleichgewicht. Die frische Luft hatte offensichtlich ihre Wirkung entfacht und seinen Rausch noch verstärkt.
»Brauchen wir ... nicht alle etwas?« Der Blick seiner grünen Augen musterte sie intensiv. Jetzt wird er auch noch tiefsinnig?
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«, Katharina konnte ihren Ärger kaum im Zaum halten.
Riley prustete los. Es schüttelte ihn regelrecht vor Lachen. Was ist an dieser Frage so witzig? Katharina konnte ihm nur entgeistert dabei zusehen. Schließlich zog er aus seiner Jacke einen Schlüsselbund. Er will jetzt tatsächlich selbst fahren? Er muss verrückt sein. »Sie fahren auf gar keinen Fall selbst«, schimpfte Katharina entrüstet los.
»Wie willst du mich denn daran hindern, Täubchen?« In Rileys Augen blitzte es herausfordernd auf.
Nach seiner Körpersprache zu urteilen, wartete er nur darauf, dass sie sich ihm näherte, um ihm den Autoschlüssel abzunehmen. Diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Sie wollte ihn am liebsten stehen lassen, doch da meldete sich ihr Gewissen. So betrunken, wie er ist, darf er sich nicht hinters Steuer setzen. Sie seufzte. »Los kommen sie mit.«
Katharina hob die Plastikwanne hoch und ging zu dem roten Kleinwagen, der um die Ecke geparkt war. Der Dreitürer war nichts besonderes, gehörte dem Kloster und diente einzig und allein dem Zweck. Riley folgte ihr nach kurzem Zögern. Sie spürte seinen Blick auf sich. Was mach ich nur?
»Wo wohnen Sie?«, fragte sie, als sie einstiegen.
Riley saß auf dem Beifahrersitz, lehnte den Kopf gegen die Stütze und hatte die Augen geschlossen. Ihre Frage ließ ein triumphierendes Schmunzeln seine Lippen umspielen. »Das ... wüsstest du ... gern«, nuschelte er müde.
»Ich meine es ernst!« Betrunkener Idiot! Sie atmete tief durch, um nicht lauthals loszuschreien. »Geben Sie mir die Adresse. Ich bring Sie nach Hause.«
»Chemiestraße ... 15 ...«, brummte er und war in der nächsten Sekunde eingeschlafen.
Immer wieder schielte Katharina zu ihm hinüber. Er wirkte vollkommen entspannt. Ob man tatsächlich die Wahrheit über einen Menschen auf dessen Gesicht sehen kann, wenn dieser schläft? Er sah im Moment zufrieden aus. Keine Spur von der Unfreundlichkeit, mit der er ihr in der Werkstatt gegenüberstanden hatte und auch nichts Verruchtes oder Gefährliches. In ihn könnte ich mich verlieben. Sie seufzte.
Zwanzig Minuten später erreichten sie die Adresse. Das konnte nicht richtig sein? Sie parkte auf dem alten verlassenen Fabrikgelände. Die Gebäude hatten schon stark unter der Witterung gelitten.
»Ähm ...«, sie sah zu Riley. Er schnarchte leise vor sich hin. Es hilft wohl nicht. Mit der Hand berührte sie seine Schulter und rüttelte ihn kräftig. Er wand sich im Sitz und murrte. »Wir sind da ... glaube ich.«
Nun schlug er die Augen auf und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Er stöhnte gequält. Das Aussteigen bereitete ihm ordentlich Probleme. Katharina stieg aus und ging um den Wagen herum, damit sie ihn stützen konnte. Das Wanken wurde noch schlimmer, beinahe hätte er sie mit umgerissen.
Erneut fühlte sie seine Arme um sich und ihr Herz flippte aus. Es sprang ihr fast aus der Brust. Sein Körper drückte sich gegen ihren, sein Gesicht und seine Lippen waren nur wenige Zentimeter entfernt. Sie starrte in die grünen Augen und glaubte, darin zu versinken. Von seinem Atem wurde sie selbst betrunken. Riley lächelte. Freundlich. Liebevoll.
»Danke«, hauchte er und das Wort liebkoste ihre Lippen.
Die Distanz zwischen ihnen verringerte sich magisch. Er hielt sie fest und sie konnte seinen Herzschlag spüren. Atemlos versank sie in seiner Nähe und mit dem nächsten Wimpernschlag kostete sie Rileys feuchte, warme Lippen.