Kapitel 20

Sie hatten die Nacht und den Tag zusammen verbracht, sich immer wieder aufs Neue entdeckt, geliebt und zusammengekuschelt. In diesen Stunden war Riley tatsächlich davon überzeugt, dass nichts auf der Welt sie je wieder trennen könnte. Es war idiotisch, das wusste er, dennoch entschied er sich, für den Augenblick daran zu glauben.

In vollen Zügen genoss Riley die Nähe zu Katharina. Sie ist unglaublich, perfekt. Das Gefühl, sie im Arm zu halten, Haut an Haut und ihre Wärme zuspüren, ließen ihn sich selbst vergessen. Er fühlte sich mit einem Mal leicht und frei, wie damals als Kind, als man nichts von den Abgründen der Welt wusste.

Das Prickeln, das sie in ihm auslöste, verursachte bei ihm wildes Herzklopfen und er war überzeugt davon, dass es jeder hören konnte. Im Bauch schienen Schmetterlinge Achterbahn zu fahren und gleichzeitig ein Viertel-Meilen-Rennen zu veranstalten. Sie verbannte die Schwierigkeiten, in denen er steckte, aus seinen Gedanken, zumindest für eine kurze Zeit.

Zum ersten Mal spürte Riley es bewusst, in jeder Zelle seines Körpers, wie es war bedingungslos geliebt zu werden. Er spürte, wie der Schutzwall, den er in all den Jahren mühevoll um sein Herz errichtet hatte, sich auflöste. Scheiße! Katharinas Liebe riss ihn nieder und zwang ihn, sich darauf einzulassen. Verdammt, ich bin sowas von verloren.

Grüblerisch schweifte sein Blick durch den fast leeren Raum. Außer der durchgelegenen Matratze, auf der sie eng aneinandergekuschelt lagen, und einer noch älteren Kommode gab es nichts. Beides hatte er sich vom Sperrmüll besorgt. Im Grunde war es ihm egal, wie er wohnte, er hatte es nicht besser verdient. Aber sie. Ich kann ihr das nicht zumuten. Die Schmetterlinge gerieten unter einen Regen aus Scham und wurden plötzlich schwer in seinem Magen.

Er betrachtete die Wände, von denen der Putz in Massen bröckelte. Sein Blick glitt weiter zu den Fenstern, die blind, verwittert und schmutzig waren, was dem Licht den Weg versperrte. Heizung und Stromleitungen hatten längst den Geist aufgegeben. Da er jedoch nur zum Schlafen herkam, war dies ebenfalls kein Problem. Selbst bei seinem Einzug hatte ihn das nicht gestört, er hatte schon in weitaus schlimmeren Behausungen gelebt. Doch jetzt?

Die Erinnerungen an den Knast stiegen hoch. Die Zelle war knapp fünf Quadratmeter groß. Die Enge hatte ihn erdrückt, die Luft zum Atmen geraubt, und ihm keinen Platz gegeben, vor der Vergangenheit zu flüchten. Das hier war ein Palast. Die Größe des Raumes gab ihm genügend Luft, damit er die Albträume überstehen konnte. Und trotzdem verlor er meistens den Kampf.

Doch heute nicht. Nicht mit diesem Engel an seiner Seite. Seit zwei Tagen hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Überraschenderweise war er mit sich und der Welt zufrieden, während er fasziniert Katharinas Atem lauschte, als wäre es eine schöne Symphonie. Er schloss seine Augen und döste mit einem Lächeln auf den Lippen. Das Blatt dreht sich, alles wird gut.

 

Das leise Summen des Handys riss ihn aus dem Halbschlaf. Verflucht! Wer zum Teufel stört jetzt? Widerwillig vor sich hin fluchend griff er nach dem Handy und langsam kamen ihm die Probleme wieder in den Sinn. Der Raub sollte heute Nacht stattfinden! Seine Muskeln spannten sich an und er seufzte schwer, als er die SMS las: »Alles ready for take off?« Fuck. In ihm zog sich alles zusammen und er begann die unsichtbare Schlinge um seinen Hals zu fühlen. Eng und schwer.

Als er wieder aufsah, traf ihn Katharinas intensiver Blick und er zuckte unweigerlich. Er hatte nicht bemerkt, dass er sie geweckt hatte. Plötzlich umfing ihn die Kühle des Raums. »Was ist los? Wer war das?« Ihre Stimme war ein unheilvolles Flüstern, dessen Klang seine Kehle austrocknen ließ.

Riley schauderte und schluckte schwer gegen die Trockenheit an. Soll ich lügen? Lieber nicht! »Sly«, antwortete er.

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, sprang Katharina wie eine Katze wütend aus seinen Armen und auf die Beine. Es war Hochsommer, doch plötzlich fühlte sich die kühle Luft des Raumes eisig an. Nasskalt und frostig, eine Kälte, die auf der Haut schmerzte. Die Zufriedenheit fiel von ihm ab, wie der Putz an den Wänden. Ihre Augen schienen ihn zu röntgen, während sie hektisch ihre Kleidung zusammensuchte. »So. Sly.«

Verdammt! »Verflucht ... Katharina ...«, umständlich stand er auf.

»Nein. Riley.« Sie hob eine Hand, um ihn auf Abstand zu halten. »Wie kannst du nur? ... Und dieser Kerl ... er ist ein Widerling.«

Fuck, sie hat recht. »Es ist nur ... ich ... du musst mir vertrauen. Bitte.« Er ging auf sie zu.

»So muss ich dass?«, bellte sie, sah ihn an und hielt abrupt inne.

Er spürte ihren Blick über seinen nackten Körper wandern. Bewundernd und voller Liebe. Das ist meine Chance. »Es wird alles glattgehen, und wenn ich zurück bin, beginnen wir unser Leben.«

Sie ergriff seine Hand und schmiegte sich an ihn. Eine warme Welle tänzelte über seine Haut, hüllte in schützend gegen die kühle Luft ein. Automatisch legten sich seine Arme um ihre zarte Gestalt. Er verschmolz mit ihrem intensiven Blick und ließ sich willig von ihr küssen. »Wir beginnen unser Leben doch schon«, flüsterte sie atemlos gegen seine Lippen und jedes einzelne gehauchte Wort prickelte. »Bleib hier. Bitte.«

Wie gerne wäre er dieser Bitte gefolgt, doch er hatte keine Wahl. Scharf sog er die Luft ein. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich aus ihrer Nähe zu befreien. »Ich bin bald zurück.«

Der Ausdruck in ihrem Blick traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Die Entschiedenheit und Endgültigkeit darin raubte ihm den Atem. »Dann werde ich nicht mehr hier sein.«

Nein. Sein Innerstes rebellierte. Das durfte sie nicht, er versuchte doch nur das Richtige zu tun, mehr oder weniger freiwillig. »Verdammte Scheiße«, fluchte er. »Ich ... mach das doch für dich! ... Für uns.«

Die Fassungslosigkeit in ihrem Blick ließ Riley verstummen. Es fühlte sich für ihn an, als sehe sie zum ersten Mal direkt sein heruntergekommenes Selbst, die marode Bausubstanz, ohne Licht und Wärme, für den Abriss bereit. Das, was er so verzweifelt vor ihr zu verbergen versuchte. Verfluchte Scheiße. Er konnte es in ihren Augen sehen. In diesem Moment durchschaute sie seine Fassade, sah das, was er wirklich war: Ein erbärmlicher, kleiner Krimineller.

Sie stand vor ihm, um ihre Fassung verzweifelt kämpfend, während ihre blaugrünen Augen bereits begannen, mit Tränen überzulaufen. Sie schnappte nach Luft. »Wirklich? Für mich. ... Denkst du ernsthaft, ich könnte mit Geld leben, das uns nicht gehört? Kennst du mich so schlecht?«

»Wir kennen uns überhaupt nicht«, platzte es aus ihm heraus. »Du weißt nichts über mich.«

Geschockt starrte sie ihm in die Augen und es kam ihm vor, als könnte er sehen, wie ihr Herz zerbrach. Nein, das läuft völlig falsch.

Er wünschte, er könnte ihr die Wahrheit sagen, es ihr erklären. »Bitte Katharina vertrau mir. Es wird sich alles klären«, flehte er und seine Stimme hörte sich jämmerlich dabei an.

»Dann sag mir, wie ...«

Dunkelheit und frostige Kühle standen plötzlich zwischen ihnen wie eine Mauer. So sehr er es auch wollte, er konnte diese nicht überwinden. Wir sind zu verschieden. Ein Blick in die Tiefe ihrer blaugrünen Augen und er wusste, es war alles gesagt. Unfähig den Vorwurf in ihren Augen zu ertragen, wandte er sich von ihr ab. Alles aus und vorbei.