Mit schweren Augenlidern blinzelte Katharina gegen die Helligkeit im Zimmer an. Sie war noch immer so müde, so unendlich müde. Ihre Knochen fühlten sich an, als würden sie aus Blei bestehen. Nur schwer konnte sie in der grellen Lichtflut etwas erkennen. Ihr Blick war getrübt und verschwommen. Ein leises Schnarchen drang an ihr Ohr, ruhig, stetig und ganz in der Nähe.
Sie sah zur Seite und nur schemenhaft erkannte sie, dass jemand neben dem Bett saß. Sie versuchte sich aufzusetzen, dabei verrutschte ihr das Kissen und landete auf dem Boden. Mist! Katharina wollte sich bücken, um es aufzuheben, jedoch drehte sich plötzlich alles um sie herum. Sie schloss ihre Augen, um gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen. Was ist passiert?
Als sie ihre Augen wieder öffnete, kam langsam ihre Sehkraft zurück. Sie erkannte Riley, der auf dem Stuhl neben dem Bett saß und schlief. Er sieht so friedlich aus. Sein Gesicht hatte Schürfwunden und das rechte Auge war geschwollen und blau unterlaufen, ebenso seine Hände, die von deutlichen Kampfspuren gezeichnet waren.
Während sie ihn still betrachtete, kam die Erinnerung zurück. An die Villa, an Sly, an das Blut und die Stunden, die sie aus ihrem Gedächtnis löschen möchte. Sly hat ... Sie schloss abermals die Augen und zwang sich den Gedanken nicht weiterzudenken. Pure Panik erfasste sie und schnitt ihr die Luft ab. Ich habe geschossen. Tief atmete sie ein und wieder aus. Ich habe ihn getötet. Die Panik verwandelte sich in eine Kälte, die ihr über die Haut lief und in sie eindrang bis zu den Knochen, unweigerlich zitterte sie am ganzer Körper. Ein entsetzter Laut entkam ihr und ihre Finger krallten sich in die Bettwäsche.
Riley zuckte zusammen und fuhr aus dem Schlaf hoch, seine Augen richteten sich auf sie. In seinem Blick konnte sie die verschiedensten Emotionen sehen. Zuerst war er ebenfalls verwirrt, dann überrascht und schließlich wurde das Grün mit tiefer, inniger Liebe geflutet. »Du bist wach.« Sachte griff er nach den unaufhörlich bebenden Händen.
Trotz aller Vorsicht konnte Katharina die Berührung nicht ertragen, sie erschien ihr zu hart und jeder Zentimeter ihrer Haut schien zu brennen. Instinktiv entzog sie ihm ihre Hände und die ersten Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Riley«, flüsterte sie verzweifelt.
»Hey. Es ist alles gut. Kein Grund zu weinen.«
Seine ruhige Stimme ließ alle Dämme in ihr brechen. Erfüllt von der grauenhaften Erinnerung lehnte sie sich heillos schluchzend im Bett zurück und zog die Decke fester an sich. Als die erste Tränenflut leichter wurde, schluchzte sie: »Er wollte dich töten.«
»Katharina, es tut mir so unendlich leid. Ich hätte», hilflos stoppte er mitten im Satz und sah sie voller Bedauern an. Nichts was er sagen wollte, konnte das Geschehene rückgängig machen. Das wussten sie beide.
Ihre Blicke verschmolzen miteinander und Riley startete einen neuen Versuch, ihre Hand zu ergreifen. Verängstigt starrte Katharina ihn an. Das Gefühl seiner Wärme, den kräftigen Druck seiner Hand, seine Stärke, zu spüren, ließ die verschiedensten Gefühle durch sie hindurch jagen. Erleichterung. Panik. Liebe. Abscheu. Hoffnung. Verzweiflung. Alle diese Empfindungen stiegen gleichzeitig auf, wirbelten in ihrem wild schlagenden, gebeutelten Herzen durcheinander und verwirrten sie. Schließlich, fast von selbst, umklammerten ihre Finger Rileys Hand, so fest, wie einen Rettungsring in Seenot. Damit wollte sie ihm sagen, was sie in diesem Moment nicht auszusprechen vermochte. Er darf mich nicht verlassen. Seine grünen Augen schimmerten wie ein Smaragd und sie wünschte sich, darin versinken zu können und nie wieder auftauchen zu müssen.
Automatisch näherte sich Riley ihr. Sie konnte bereits seinen Herzschlag hören und seinen Atem auf ihrer Haut spüren. Langsam aber stetig wurde sein Geruch immer intensiver und alles in ihr zog sich zusammen. Die Panik gewann erneut die Oberhand und drückte ihr regelrecht die Luftröhre zu. »Nein«, japste sie, presste sich tiefer ins Bett hinein und riss ihre Hände wieder an sich.
Riley schreckte zurück, ihre Reaktion traf ihn überraschend und die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er sah sie im ersten Moment an, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Doch dieser Augenblick verging so schnell, wie er gekommen war und die Enttäuschung wich einem stillen Verständnis. Er lächelte sie an. »Darf ich wiederkommen?«
Die Frage ließ tonnenschweres Felsgeröll von ihrem Herzen fallen. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, hauchte sie leise und schüchtern »Ja.«
***
Die körperlichen Blessuren heilten schnell, schneller als ihre Seele. Riley besuchte sie jeden Tag. Katharina spürte, dass es ihm alles abverlangte, sich zurückzuhalten und sich mit Händchen halten und reden begnügen zu müssen. Es tat ihr weh, ihn immer wieder zurückzuweisen, doch nachdem was passiert war, konnte sie Nähe nur schwer ertragen.
Ihre Tante war mittlerweile von einer Geschäftsreise zurückgekehrt und entsetzt über die Geschehnisse. In ihrer ersten Panik ließ sie die Alarmanlage der Villa erneuern. Ferner saß sie der Polizei im Nacken, damit Slys Einbruch in der Villa lückenlos aufgeklärt und auch seine Informanten gefunden werden. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, dass so etwas noch einmal passierte.
Riley stand sie misstrauisch gegenüber und hatte darauf bestanden, mit ihm unter vier Augen zu reden. Weder Riley noch Claudia Vornstädt verloren über das Gespräch ein Wort. Katharina hatte allerdings den Eindruck, dass die beiden sich die Besuchszeiten aufgeteilt hatten. Sie gaben sich täglich die Klinke in die Hand, dabei wechselten sie frostige Blicke.
Es war bereits kurz vor Mittag, als Katharina von ihrem Gespräch mit der Psychologin zurückkam. Riley saß am Fenster und blätterte in einer Autozeitschrift. Als sie zur Tür hereinkam sah er auf und lächelte. »Hast du Lust in die Cafeteria zu gehen?«, fragte er unerwartet.
Seine Augen ruhten hoffnungsvoll auf ihr, bislang hatte sie ihre Zeit hier im Zimmer verbracht und dieses nur für die Therapie verlassen. Vielleicht ist es an der Zeit den nächsten Schritt zu machen? Sie bekam Herzklopfen. »Gern«, ihre Stimme konnte ihre Unsicherheit nicht verstecken.
Riley legte die Zeitschrift zur Seite und reichte Katharina wie ein Gentleman den Arm. »Ich habe gehört, dass die Eisbecher hier richtig gut sein sollen«, und schickte ein schiefes Lächeln hinterher.
Sie waren gerade am Fahrstuhl angelangt, als Riley laut zu fluchen begann. »Verdammte Scheiße.« Mit großen Augen sah Katharina ihn an. »Ich hab das Geld in der Jacke vergessen.«
»Ist doch nicht so schlimm. Drehen wir halt wieder um«, sagte Katharina gerade in dem Moment, als der Fahrstuhl aufging und sie in das wütende Gesicht von Claudia Vornstädt starrten.
»Jamerson, wir müssen reden. Sofort.«
Verwirrt ließ Katharina den Blick zwischen den beiden hin und her wandern. Sie bemerkte sofort, dass sich Rileys Körper anspannte. Ihre Tante taxierte ihn inzwischen mit vor Zorn sprühenden Augen. »Muss das jetzt sein? Claudia, wir wollten gerade ...«, versuchte Katharina die Situation zu entschärfen.
»Ja. Es muss sein«, zischte Claudia in Rileys Richtung.
Rileys Augen verengten sich und waren unentwegt auf Claudia Vornstädt gerichtet. Provozierend hauchte er Katharina einen Kuss auf die Haare. »Liebes, holst du bitte das Geld aus meiner Jacke.«
Sie stand da und wusste nicht, ob sie die beiden alleine lassen konnte. Aufmunternd nickte Riley ihr zu, daher gab sie nach. »Bin gleich wieder da«, sagte sie und drehte sich mit einem mehr als unguten Gefühl in der Magengegend um.
Sie beeilte sich und lief zurück in ihr Zimmer. Hektisch suchte sie nach der Jacke, die Riley auf dem Bett abgelegt hatte. Etwas außer Atem nahm sie die Lederjacke in die Hände und durchsuchte die Taschen. Gleich beim ersten Versuch wurde sie fündig, sie zog Geld und ein Stück zerknittertes, festes Papier aus der rechten Seitentasche.
Sie betrachtete das Papier genauer. Das ist ein Foto. Unwillkürlich packte sie die Neugier, daher legte sie das Geld auf das Bett und glättete das Foto, damit sie es ansehen konnte. In der nächsten Sekunde stockte ihr der Atem und ihre Beine wurden weich. Wankend sank sie auf das Bett.
Unser Sommerurlaub. Woher? Wie? Fassungslos starrte sie auf das Bild, auf ihr kleines, achtjähriges Ich, dass sie glücklich anlachte. Das Lachen ihres Vaters erklang in ihren Ohren, hell und klar. Sie hatte die Erinnerung an den letzten Urlaub mit ihrer Familie in ihrem Gedächtnis bewahrt, so kostbar wie einen Schatz. Ich hatte es mir nicht eingebildet. Nach der schrecklichen Silvesternacht hatte sie es der Polizei und auch ihrer Tante mehrmals gesagt, dass es dieses Foto gab und es ebenfalls gestohlen wurde. Doch niemand glaubte ihr, sie war nur ein Kind, das versuchte, mit einem tragischen Verlust fertigzuwerden. Entsetzt starrte sie auf das Bild und merkte nicht, wie unzählige Tränen über ihr Gesicht liefen.
Benommen sah sie auf, als die Tür aufgerissen wurde. »Sie werden ihr sofort die Wahrheit sagen, oder ich tu es«, schrie Claudia Riley hinterher. Riley erstarrte, als er sie auf dem Bett mit dem Foto in der Hand sitzen sah. Katharina wurde flau im Magen und sie glaubte zu spüren, wie jede Farbe aus ihrem Gesicht wich. Die Augen ihrer Tante ruhten nun besorgt auf ihr. »Katharina, was ist los?«.
»Kannst ...«, Katharina räusperte sich und versuchte sich zu fassen. Der Klang ihrer tonlosen Stimme ließ sie selbst innerlich zusammenzucken. »Tante, kannst du uns bitte alleine lassen.« Ihre Tante nickte und ging, das Klicken des Türschlosses, dröhnte in Katharinas Ohren.
»Es ist nicht .... Es ist ... Es tut mir leid«, stammelte Riley und kam auf sie zu.
Doch Katharina wollte keine weitere Entschuldigung hören, sondern die Wahrheit. Sie schluchzte und schüttelte den Kopf. »Hör auf. Wo hast du das Foto her?« Sie suchte in seinen Augen nach der Wahrheit und spürte, wie Übelkeit in ihr aufzusteigen begann.
Er blieb vor ihr stehen, seine Miene war wie versteinert. »Ich war ... in der Silvesternacht ...«, flüsterte er und rang um seine Worte. »Als Dean ... ich wollte erst nicht. Hatte kein gutes Bauchgefühl. Aber ich war da ... Einer der Einbrecher.«
Katharina richtete sich auf und rutschte etwas von ihm weg. Einer der Einbrecher? Riley? Der Unfall. Rileys Worte schnürten ihr die Kehle zu.
»Ich hatte die anderen machen lassen und bin alleine durch die Villa. .... Suchte eigentlich nach Bargeld ... doch im Arbeitszimmer fand ich das«, er deutet auf das Bild und suchte ihren Blick. »Ich weiß auch nicht«, achselzuckend redete er weiter. »Ich ... du ... Ich nahm dein Bild und bin zurück zum Auto ... und losgefahren. Kümmerte mich nicht um Dean und den anderen Idioten. Erst am nächsten Tag erfuhr ich dann, was passiert ist.«
Katharina lief ein eisiger Schauder über den Rücken. »Auf der Flucht haben sie unseren Wagen geschnitten«, schluchzte sie, »und Papa verlor die Kontrolle über das Auto.«
Riley nickte. Stumm sahen sie einander eine Weile an, irgendwann unterbrach Riley die Stille. »Du hast mich in den ganzen Jahren vor den schlimmsten Dummheiten bewahrt. Ich liebe dich bereits mein halbes Leben ...«
Sie hob ihre Hand, um Rileys Redeschwall zu unterbrechen. Er sprach von Liebe. Wie kann er nur, obwohl er Teil dieser grausamen Nacht ist. Wieder fühlte sie, ein klirrendes Knacken auf ihrem bereits kaputten Herzen. Sie spürte, wie der Riss immer tiefer ging und das Herz nun zu bersten drohte. »Du ... du hast dich nicht bei der Polizei gemeldet«, unterbrach Katharina ihn. »Warum?«, fügte sie leise hinzu. Sie bemühte sich, alles zu verstehen.
Riley sah sie schuldbewusst an und biss fest die Lippen aufeinander. »Ich hatte bereits Ärger mit den Bullen und war auf Bewährung. Wenn ich zugegeben hätte, dass ich beim Einbruch dabei war, hätten die mich sofort eingebuchtet. Das konnte ich meinem Großvater nicht antun. ... Daher bin ich abgehauen. Ich weiß, das war falsch ... «
»Warum hast du ... es mir nicht schon früher erzählt?«, warf Katharina schniefend ein.
»Ich hatte Angst. War mir sicher, dass du dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst.«
Er hat recht. Katharinas Herz, ihre Seele brach entzwei und das, was sie für ihn fühlte, war zu schwach, um sie zusammenzuhalten. Sie sah ihm in die Augen, in das wunderschöne Grün, doch sie berührten sie nicht mehr. Sie hatten mit einem Mal ihren Glanz und die Magie für sie verloren. »Geh. Und komm nicht mehr zurück.«