Eines Herbsttages, als Margot und Bertil im Wald Preiselbeeren sammelten, erzählte er ihr, dass er sich trotz allem entschieden hatte, auch in diesem Jahr an der Jagd teilzunehmen. Rubinchen war bei einer Freundin. Ihren Ausflug unternahmen sie während der Woche. Die Konditorei war geschlossen, da die elektrischen Leitungen erneuert werden sollten, und Margot hatte frei. Schon zu Beginn des Sommers hatten sie davon gesprochen, dass sie Zeit zum Beerensammeln finden wollten, und als sich Margots freie Woche abzeichnete, ging Bertil zu Asp und bat darum, zur selben Zeit Urlaub zu bekommen. Asp machte keine Schwierigkeiten. Margot kannte gute Preiselbeerplätze ein Stück außerhalb der Gemeinde, und sie fuhren mit dem Auto einen holprigen, feuchten Waldweg entlang, vorbei an mehreren Schlägen, die zum großen Forstunternehmen gehörten. Unterwegs begegneten sie einem Pferdefuhrwerk und mussten ein paar hundert Meter zurücksetzen, um den Ardenner und die Baumstämme, die er zog, vorbeizulassen. Nach einer beschwerlichen Fahrt, bei der die Räder in der nassen Erde immer wieder durchdrehten und das Auto an knorrigen Wurzeln seitlich wegrutschte, erreichten sie eine Anhöhe. Von dort ging es bergab, bis das Flussbett zwischen den Bäumen sichtbar wurde. Die Luft war klar und die Sonne nach wie vor kräftig. Feuchter Nebel hing zwischen den Kiefern. Während der Fahrt schwiegen sie. Bertil hielt das Lenkrad mit beiden Händen, Margot saß neben ihm und schaute geradeaus durch die Windschutzscheibe. Auf dem Rücksitz stapelten sich Eimer und Körbe, die aneinanderschlugen, sobald das Auto über eine Unebenheit fuhr. Als sie am Fluss waren, bog der Weg scharf ab und lief danach am Ufer entlang, direkt auf der Sandbank. Einige Kilometer weiter kamen sie zu einer neu errichteten Brücke und parkten auf der anderen Seite. Margot zeigte mit der Hand nach vorn, und Bertil sah, dass rund um das Auto der Boden voller roter Beeren war. Sie nahmen jeder einen Eimer und einen Preiselbeerrechen und gingen ein paar hundert Meter in den Wald hinein. Von dort wollten sie sich pflückend wieder zurück zum Auto bewegen. Der Boden war feucht und dampfte. Bertil hatte sich von Svante Eriksson einen Regenmantel geliehen, der jedes Mal, wenn er sich bückte und mit dem Rechen durch die Beerendecke fuhr, ein knisterndes Geräusch von sich gab. Um den Mantel zu holen, hatte er am Abend zuvor Svante zu Hause aufgesucht. Dabei hatten sie auch über die Jagd gesprochen. Er war bis weit nach Mitternacht bei ihm und seiner Mutter geblieben. Sie hatten Kaffee getrunken und lange miteinander geredet. Bertil fand, dass Svante verhalten und müde wirkte. Er sagte wenig, saß mit gesenktem Blick in der dunkelsten Ecke der Küche, nickte hin und wieder und murmelte eintönige, kurze Antworten. Seine Mutter hingegen schien von Bertils Besuch belebt, sie sprach klar und freundlich und war kaum zu stoppen. Bertil hatte in ihrer Gegenwart plötzlich ein eigentümliches Gefühl der Nähe und Geborgenheit, das er seit langem nicht mehr gespürt hatte. Fast vergaß er, dass Svante daneben saß. Er war überrascht, wie spät es war, als Svante fragte, ob er Lust hätte, mit hinauszukommen und das neue Motorrad anzusehen.
Bertil bedankte sich, umarmte Svantes Mutter, nahm den Regenmantel unter den Arm und folgte Svante die Treppe hinunter. Das Motorrad stand unter einer verbeulten Blechplatte, die als notdürftiger Schutz für den an der Hausmauer aufgeschichteten Holzstoß diente. Svante hatte die Scheite inzwischen woanders gestapelt, um Platz zu schaffen. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand und beleuchtete das Motorrad, ohne ein Wort zu sagen. Bertil ging in die Hocke und betrachtete es eingehend. Es hatte Kratzer am Tank und einen geflickten Riss auf dem schwarzen Ledersitz, aber es war das neueste Modell. Svante hatte es in der nächsten Stadt von einem Geschäftsmann gekauft, der aufs Auto umstieg. Das Motorrad war kaum gefahren, aber er hatte es günstig bekommen. Als Bertil sich wieder aufrichtete, begann Svante plötzlich übergangslos von der Jagd zu reden. Er hatte die Lampe zu Boden gerichtet, sie standen in der Dunkelheit. Svante fragte Bertil, ob er in diesem Jahr wieder mitmachen wolle oder ob sich die Gruppe nach Ersatz umschauen solle. Es sei dieselbe Mannschaft wie in den Jahren zuvor. Auch dasselbe Gebiet und dieselbe Elchquote. Bertil zögerte, bevor er antwortete. Er konnte kein so großes Interesse mehr aufbringen wie früher. Doch als sie im Dunkeln nebeneinanderstanden und er antworten sollte, war ihm klar, dass er dabei sein wollte. Er sagte zu und sah an den Bewegungen der Taschenlampe, dass Svante nickte. Danach hatten sie sich verabschiedet. Svante hatte ihm den Weg beleuchtet, bis er an der Straße war.
Als Margot und er früh am Morgen die Eimer und Körbe im Auto verstauten, hatte er nichts gesagt. Er wollte damit warten, auch wenn es keinen Grund gab. Es war nichts Ungewöhnliches daran, auf Elchjagd zu gehen, seit ihm vor drei Jahren der Platz in der Gruppe angeboten worden war. Zweimal war er mit Elchfleisch nach Hause gekommen, ohne selbst geschossen zu haben. Beide Male hatte er auf seinem Posten ausgeharrt und den Schuss nur gehört. Aber auch er bekam seinen Anteil, den Margot weiterverarbeitet hatte. Doch nun war er unsicher, wie er ihr sagen sollte, dass er in diesem Jahr wieder mitmachen würde. Als sie ihre Eimer zur Hälfte gefüllt hatten, gingen sie zum Auto zurück, um die Thermoskanne zu holen. Sie setzten sich etwas entfernt voneinander auf zwei Baumstümpfe. Margot hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, das am Haaransatz eng anlag. Sie trug einen Skianorak und Stiefel, die sehr klein wirkten. Bertil fand, sie sah schön aus. Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Bäume, der Nebel hatte sich verzogen. In der Tiefe des Waldes war das Licht eigentümlich rein. Als Margot auf die Thermoskanne zeigte und fragend die Augenbrauen hob, ob er noch Kaffee wolle, nickte er mit zusammengekniffenen Augen. Er ging zu ihr und hockte sich, während sie nachschenkte, vor sie hin. Dabei fielen ein paar Tropfen auf seine Hand mit der Tasse, und als er kurz zurückzuckte, schwappte Kaffee auf ihre Skihose. Doch sie reagierte nicht, sondern goss weiter ein, bis seine Tasse voll war. Er kehrte zurück zu seinem Baumstumpf und sah, wie sie lediglich einen kurzen Blick auf den Fleck auf ihrem Oberschenkel warf und sich dann selbst einschenkte. Eine Weile lauschten sie dem Heulen eines Seetauchers, das irgendwoher aus dem Wald kam, vielleicht von der anderen Seite des Hügels. Als sich der Luftzug auf der verschwitzten Haut kalt anzufühlen begann, standen sie auf. Sie stellten die Tassen zurück in den Korb, und Margot schraubte die Thermoskanne zu. Danach hoben sie ihre Rechen auf, nahmen zwei leere Eimer und marschierten wieder los.
Unterwegs erwähnte Bertil, dass er mit Svante gesprochen und sich entschieden hatte, in diesem Jahr wieder an der Jagd teilzunehmen. Margot schaute ihn an und nickte lächelnd. Dann erkundigte sie sich, ob die Gruppe dieselbe sei wie zuletzt. Weiter wurde nichts gesagt. Den Rest des Tages pflückten sie Preiselbeeren, bis ihre Rücken zu schmerzen anfingen. Gegen vier gaben sie auf. In den Eimern war mehr zusammengekommen, als sie gedacht hatten. Während der Rückfahrt schwiegen sie. Bertil warf hin und wieder einen Blick zu Margot. Sie hatte den Kopf ans Seitenfenster gelehnt und die Augen geschlossen. Sie lächelte, und Bertil hätte gern gewusst, woran sie dachte. Ihr Körper war entspannt und folgte dem Ruckeln des Autos auf dem holprigen Waldweg. Sie begegneten einem weiteren Pferdefuhrwerk, mussten diesmal aber nicht zurücksetzen. Bertil hob grüßend die Hand. Er hatte den Eindruck, den Mann, der neben dem Pferd ging und mit einer Hand die Zügel hielt, schon einmal gesehen zu haben.
»Kennst du ihn?«, fragte Margot.
Ihre Augen waren weiterhin geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag noch dasselbe schwache Lächeln. Bertil hatte plötzlich das Bedürfnis, sie zu berühren, und strich ihr mit dem Handrücken über Stirn, Nasenrücken und Lippen. Margots Gesicht fühlte sich verschwitzt an. Gleichzeitig nahm er den Fuß vom Gas, und erst als das Auto beinahe stehen blieb, zog er die Hand zurück und trat wieder aufs Pedal.
»Ich dachte, du schläfst?«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
Am Abend, als Rubinchen im Bett war und sie die Preiselbeeren von den losen Blättern gereinigt und mit Wasser bedeckt hatten, bereiteten sie ein schnelles Abendessen zu. Bertil briet Spiegeleier, während Margot belegte Brote machte. Als Bratenheber benutzte Bertil einen alten Käsehobel. Er betrachtete den schwach roten Streifen, der an Margots Haaransatz verlief. Das Tuch, das sie den ganzen Tag stramm um den Kopf geknotet trug, hatte die Haut aufgescheuert und einen Abdruck hinterlassen.
Nach dem Essen fragte Margot plötzlich, wie es denn mit Svante gewesen sei. Bertil war überrascht und wusste zuerst nicht, was er sagen sollte. Doch dann erwähnte er Svantes störrische Schweigsamkeit und erzählte von der Begegnung mit dessen Mutter, die ihn mit so großer Wärme erfüllt hatte. Im Schein einer Taschenlampe hätten sie Svantes neues Motorrad besichtigt, und ihm sei vorgekommen, Svante hätte es als Vorwand benutzt, um mit ihm kurz allein sein und über die Elchjagd reden zu können. Mehr konnte Bertil nicht berichten. Margot saß mit hochgezogenen Beinen im Sessel, das Kinn in eine Hand gestützt, während Bertil mit einem Kissen unter dem Kopf auf dem Sofa lag. Aus Rubinchens Bett war ein Murmeln zu hören. An diesem Abend blieb das Radio ausnahmsweise stumm. Sie waren beide müde vom langen Tag im Wald und hatten steife Rücken. Beim Essen hatten sie überlegt, was sie mit den restlichen freien Tagen machen wollten. Bertil hatte vorgeschlagen, noch einmal zum Beerenpflücken hinauszufahren, doch Margot war der Meinung, sie hätten genug gesammelt. Die Frage blieb also unbeantwortet. Margot hatte sich geräkelt und gemeint, vielleicht wäre es gut, sich einfach einmal auszuruhen. An nichts denken zu müssen, nichts zu unternehmen. Einfach ausruhen.
Aus heiterem Himmel erkundigte sie sich dann nach der Jagd. Sie setzte sich im Sesel zurecht und bat Bertil, ihr von seinen früheren Elchjagden zu erzählen. Ihre Augen verengten sich zu neugierigen Schlitzen. Der Eifer, mit dem Margot etwas von ihm erfahren wollte, was nur ihn und nicht sie beide betraf, war Bertil neu. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.
»Aber ich bin doch jedes Jahr jagen gewesen«, begann er. »Alle, die dabei waren, sind dir ja bekannt. Du musst dir also nur sie und mich vorstellen, eine Woche im Freien, früh am Morgen und früh am Abend auf einsamen Posten im Wald, stundenlanges Warten und vereinzelte Gewehrschüsse in der Ferne. Denk dir uns in der Waldhütte, bei offenem Feuer und bei einem Essen, wie es nur von Jungs gekocht wird, Schnaps und literweise Kaffee. Dazu irgendwelche albernen Geschichten, in der einen Ecke die Gewehre an der Wand, in der anderen die winselnden Hunde. Dazu noch das Schnarchen in der Nacht, eine nassfeuchte Hütte mit stinkenden Schweißfüßen und unrasierten Gesichtern. So ist das dort. Recht viel mehr gibt es da nicht zu erzählen.«
Margot lächelte und nickte ihm zu.
»Das reicht«, sagte sie. »Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Mehr muss ich wirklich nicht wissen.«
Ihre freie Woche verging, ohne dass sie noch einmal in den Wald hinausfuhren. Gemeinsam kochten sie die Preiselbeeren ein, machten Saft und Marmelade daraus. An den Abenden blieben sie lange auf, und nachdem sie sich geliebt hatten, lagen sie noch eine Weile wach und redeten miteinander.
In einer dieser Nächte schlug Margot vor, die Jagdgruppe zu sich zum Essen einzuladen. Bertil fragte nach dem Grund, und Margot zuckte mit den Schultern und sagte, dass sie es einfach nett fände. Bertil zögerte und meinte schließlich, einer aus der Gruppe würde auch reichen, Enström zum Beispiel. Margot erkundigte sich, ob Bertil Enströms Frau kenne. Er antwortete, er habe sie bisher nur gelegentlich bei Enström zu Hause getroffen, aber sie habe immer nur kurz gegrüßt und sich dann verzogen. Sie sei im Obergeschoß herumgegangen, und Enström habe nur mit Mühe verbergen können, dass ihn ihre Schritte von oben irritierten. Mehr wisse er nicht über sie.
Am nächsten Tag ging Bertil in den Eisenwarenladen. Als er das Geschäft betrat, gab ihm Enström, der beschäftigt war, mit einem Kopfnicken zu verstehen, er solle ins hintere Zimmer weitergehen. Dort saß er fast zwanzig Minuten im Korbstuhl, bevor Enström kurz das Gesicht in die Türöffnung steckte und sagte, vor Mittag hätte er keine Zeit, mit ihm zu reden. Bertil nickte und nahm sich eine Zeitung vom Schreibtisch. Aus dem Verkaufsraum hörte er, wie die Türglocke immer wieder klingelte, und dachte, dass Enströms Laden offenbar gut lief. Um zwölf verstummte die Glocke, Enström schloss ab und zog das Rollo herunter. Er kam mit einem Bündel Geldscheine herein, schob auf dem Schreibtisch einen Packen Papier zur Seite und setzte sich auf die Kante. Er erkundigte sich, ob Bertil mit ihm zu Mittag essen wolle. Bertil nickte und stand auf. Enström zog den Mantel an und bat Bertil, für ihn schon mal etwas zu bestellen, während er hinüber zur Bank lief, um das Geld einzuzahlen.
»Ich schaffe das fast nie«, sagte er. »Jedenfalls jetzt nicht, wo ich im Laden keine Hilfe habe. Du darfst aber nicht denken, dass das der Umsatz eines halben Tages ist. Das ist der einer Woche. Bestell mir was Warmes, irgendetwas.«
Auf der Straße trennten sie sich, und Bertil ging in die Kneipe. Er setzte sich an seinen Ecktisch und bestellte für sie beide Gulasch und zwei Bier. Als das Essen gebracht wurde, kam Enström herein. Nun erwähnte Bertil, warum er ihn sprechen wollte. Enström hielt mit der Gabel inne, dachte kurz nach und sagte, sie würden kommen. Dann nahm er einen Bissen und meinte, er hätte gehört, Bertil käme auch in diesem Jahr mit zur Jagd. Da fiel Bertil ein, dass er Enström ja noch fragen musste, ob er sich von ihm wieder ein Gewehr leihen könnte. Noch bevor er mit seiner Frage fertig war, hatte Enström genickt.
»Steht dort, wo es immer steht«, sagte Enström. »Geölt und einsatzbereit. Klar kannst du es haben. Ich werde dieses Jahr übrigens ein neues Gewehr ausprobieren. So ein jugoslawisches Ding. Ich habe schon probegeschossen, und es scheint gut zu sein. Ob es auch mehr Elche anlockt, ist eine andere Sache.«
Nach dem Essen tranken sie Kaffee, und Enström erzählte, dass es Nils-Erik Erlandsson gelungen sei, einen Hund aufzutreiben, der aus derselben Linie stammte wie Svantes Rapp. Eine von Rapps Hundeschwestern hatte geworfen, und Erlandsson hatte einen Welpen gekauft, der jetzt groß genug war, um mit zur Jagd zu kommen. Bertil erkundigte sich, ob Enström von jenem Hund sprach, den man Svante im Krieg erschossen hatte. Enström nickte. Als sie wieder vor dem Laden standen, versprach Enström, dass er am Samstagabend, wenn sie zu Besuch kämen, für Bertil auch schon genauere Informationen zur Jagd hätte. Sie einigten sich auf sieben Uhr und gingen auseinander. Bertil erledigte anhand der Liste, die Margot ihm mitgegeben hatte, die Einkäufe und machte sich auf den Heimweg. Vor dem Haus sah er, dass Margot und Rubinchen im Fenster standen und winkten. Er winkte zurück und ging die Treppe hinauf. Wie immer zählte er die Stufen, obwohl er genau wusste, dass es sechzehn waren.
Sechzehn Stufen zu meinem Glück, dachte er. Schon im Stiegenhaus fühlte er sich jedes Mal leicht. Das Halbdunkel gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit, und mit der Zeit hatte er begonnen, den herben Geruch der Treppe zu mögen. Hin und wieder überlegte er, wie sich Gerüche beschreiben ließen. Er hatte Margot gefragt, ob sie schon einmal eine treffende Beschreibung für den Duft einer Blume oder den Gestank einer Toilette gelesen hätte. Sie hatte gelacht und gesagt, sie sei schließlich keine Schriftstellerin. Bertil war sich nicht im Klaren darüber, ob sie überhaupt verstanden hatte, was er meinte.
Zu dem Abendessen am Samstag kam Enström mit der Nachricht, dass es Pläne gebe, das abgebrannte Sägewerk wiederaufzubauen. »Wieder« sei vermutlich nicht der richtige Ausdruck, meinte er, da die neuen Eigentümer mit Rader nichts zu tun hatten. Soweit er gehört habe, handle es sich um einen Holzkonzern von der Küste, der bereit sei, in der Gemeinde ein Sägewerk zu errichten. Dessen Vertreter waren angeblich schon hier gewesen und hatten den Platz des alten Sägewerks besichtigt, der sich im Sommer in einen Spielplatz für die Kinder aus dem Ort verwandelt hatte. Daraus würde nun also wieder ein Sägewerk werden, und offenbar wolle man mit dem Bau im nächsten Frühjahr beginnen. Für Bertil war das die beste Nachricht, die er bekommen konnte. Die Arbeit im Schlachthof der Genossenschaft hatte wenig Zukunft und konnte jederzeit enden, die Kündigungsfrist betrug sieben Tage. Glücklicherweise konnte er die Stelle viel länger behalten, als ihm zu Beginn in Aussicht gestellt worden war, doch die Unsicherheit blieb. Außerdem mochte er die Arbeit im Freien lieber. Sie stießen auf die guten Neuigkeiten an, und Enströms Frau Linnea leerte ihr Schnapsglas in einem Zug. Margot hatte Fleischbällchen zubereitet, nach einem Rezept aus einer Illustrierten. Zum Nachtisch hatte sie eine große Schale mit Obst angerichtet. Rubinchen durfte an diesem Abend bei Kronberg übernachten.
Zum Kaffee setzten sie sich ins Zimmer an den runden Tisch. In ihrer Mitte thronte eine Flasche Kognak. Enströms Frau stellte sich als vergnügt und redselig heraus. Ihr lautes Lachen hallte durch die Wohnung. Bertil glaubte zu bemerken, dass Enström irritiert war. Sobald sie redete, beteiligte er sich nicht am Gespräch, sondern lehnte sich mit dem Kognakglas zurück ins Sofa.
Als sich Margot und Linnea spät am Abend über Rubinchen unterhielten, nutzte Enström die Gelegenheit, um Bertil ein paar Details zur Jagd mitzuteilen. Um halb eins brachen die beiden Enströms auf, und Bertil begleitete sie hinunter. Danach standen Margot und er Arm in Arm am Fenster und winkten den Gästen hinterher, bis das Auto verschwand. Enström hatte nicht mehr als ein Glas Kognak und einen Schnaps getrunken und konnte noch fahren. Als Bertil zum Abschied scherzend meinte, dass es für Lönngren ein gefundenes Fressen wäre, Enström alkoholisiert am Steuer dranzukriegen, hatte Enström ihn nur wortlos angesehen.
In der Nacht träumte Bertil, dass das Sägewerk brannte. Inmitten der Flammen sieht er Margot und Rubinchen. Als er auf sie zuläuft, um sie aus der Hitze und dem Rauch zu retten, fällt er über eine Treppe, die wie eine tote Kulisse im Wald steht. Mehr war ihm am nächsten Morgen von diesem Traum nicht in Erinnerung geblieben. Er musste aufstehen, um Rubinchen abzuholen. Margot schlief beim Klingeln des Weckers einfach weiter, während Bertil sich eine Tasse Kaffee machte, bevor er aufbrach. Sein Kopf tat weh, und er musste in den Küchenschubladen eine Weile nach einem Schmerzmittel suchen. Er spülte die Tabletten mit einem Schluck Kaffee hinunter und zog sich Svante Erikssons Regenmantel über. Unten beim Auto bemerkte er, dass er die Schlüssel in der Wohnung vergessen hatte.
Margot schlief immer noch, als Bertil mit Rubinchen nach Hause kam. Er flüsterte dem Kind zu, dass sie leise sein müssten, um Margot nicht zu wecken. Sie verbrachten die Zeit mit verschiedenen Spielen, die Bertil sich für Rubinchen einfallen ließ und die alle etwas mit Schweigen zu tun hatten. Erst um zehn schlug Margot die Augen auf. Sie glaubte einen Moment, dass sie verschlafen hätte und zur Arbeit müsste. Rubinchen kletterte zu ihr, und als der Kaffee fertig war, rückten alle drei im Bett zusammen.
Die Jagdgruppe traf sich an einem Montagmorgen um vier an der nördlichen Ausfahrt der Gemeinde. Die Kälte fühlte sich rau an, feuchter Nebel breitete sich über das Tal und legte sich schwer auf den kleinen Marktflecken. Bertil traf als Zweiter ein. Nur Svante Eriksson war früher gekommen. Sie begrüßten einander, und Bertil sah, dass Svante ein neues Gewehr trug. Das Futteral war anders als im Vorjahr, und auch an den schwarzen Lauf, der aus der dunkelgrünen Hülle ragte, konnte er sich nicht erinnern. Svante schien guter Laune und ein ganz anderer als der Mann, mit dem Bertil in der Dunkelheit das Motorrad besichtigt hatte. Svante lachte und musterte Bertil.
»Kommst du ohne Gewehr? Willst du den Elch mit dem Rucksack fangen?«
»Ich kann ein Gewehr von Enström leihen. Er will es mir mitbringen. Ist deines neu?«
»Ja. Von Enström gekauft. Ein jugoslawisches.«
»Ich dachte, er war das mit dem neuen Gewehr.«
»Ja, er hat das gleiche.«
Svante stocherte mit der Spitze des Gummistiefels auf der kalten Fahrbahn herum. Den riesigen Rucksack hatte er an den Straßenrand gestellt. Bertil behielt das Gepäck auf dem Rücken.
Innerhalb von zehn Minuten war die gesamte Jagdgruppe versammelt. Nacheinander trafen Nils-Erik Erlandsson, Harpo und Enström ein. Als sechstes Mitglied schließlich Paulus Blomgren, der Filialleiter des Konsums. Bertil hatte sein Auto zu Hause gelassen. Die Gruppe verteilte sich auf die Autos von Enström und Blomgren. Svante würde allein fahren. Als alle beisammen waren und sich begrüßt hatten, startete Svante das Motorrad, zurrte den Rucksack auf dem breiten Gepäckhalter fest und fuhr schon mal los. Die anderen blickten ihm hinterher und gingen dann zu den Autos. Bertil und Erlandsson fuhren bei Enström mit, während Harpo neben Blomgren Platz nahm. Enström fuhr voraus. Blomgren folgte ihm in einem Abstand von hundert Metern, verschwand aber auf der kurvigen Straße bald aus dem Rückspiegel.
Die Jagdgruppe bestand seit vielen Jahren. Bertil war der Einzige, der neu dazugestoßen war. Enström hatte sich für ihn eingesetzt. Nicht ohne Grund sprach man von ihnen als der Roten Jagdgruppe. Fünf der Mitglieder waren Kommunisten, das sechste, Paulus Blomgren, war das schwarze Schaf der Familie. Er war aktiver Sozialdemokrat mit wechselnden Vertrauensposten innerhalb der Partei. Ein riesenhafter Kerl mit enormen Oberarmen. In der Gemeinde lachte man darüber, als er Leiter des örtlichen Konsums wurde. Davor hatte er verschiedene Gelegenheitsjobs, sich aber vor allem mit Politik beschäftigt. Als er die Stelle in der Konsumfiliale übernahm, brachte er dafür keinerlei Erfahrung mit. Aber der Laden lief gut und war vor einem Jahr in größere Räumlichkeiten gegenüber dem Bahnhof umgezogen. Blomgren hatte seinen Platz in der Gruppe Svante Erikssons Vater zu verdanken und seit Anfang der dreißiger Jahre keine Jagd verpasst. Mittlerweile waren er und Erlandsson mit ihren gut sechzig Jahren die Ältesten im Team, weshalb sie auch am häufigsten schossen. Mit dem Vorrecht des Alters waren sie auf die besten Posten gerückt. Als Neuling war Bertil der entlegenste Stand nach Norden hin zugewiesen worden, und er hatte in den letzten beiden Jahren nicht einmal die Spur eines Elchs gesehen. Er hatte im raschelnden Wald gesessen, in der Entfernung die Hunde gehört und war einige Male von den Schüssen aufgeschreckt worden.
Die Waldhütte, die ihnen für die Dauer der Jagd als Unterkunft diente, gehörte dem Forstunternehmen. Sie war in gutem Zustand, da sie das ganze Jahr hindurch von Waldarbeitern genutzt wurde. Die Hütte bestand aus einem quadratischen Raum mit einem gemauerten offenen Herd an einer Wand. Entlang der Seitenwände waren je zwei Holzpritschen übereinander angebracht. Fast die gesamte verbleibende Fläche wurde von einem großen Tisch und zwei Sitzbänken eingenommen.
Viertel vor sechs waren alle dort. Erlandsson hatte die Hütte aufgeschlossen, sie hatten ihre Rucksäcke drinnen abgestellt und nahmen nur die Gewehre und die Proviantbeutel mit, aus denen sie sich untertags draußen im Wald versorgen wollten. Jeder sollte so rasch wie möglich auf seinen Posten, alle hatten es eilig. Die beiden Hunde, die Erlandsson gehörten, zogen und rissen an den um einen Baum gebundenen Leinen. Es waren zwei graue Spitze, nordische Elchhunde. Einer davon, Pila mit dem langen Fell, war seit vielen Jahren dabei. Den neuen Hund, der mit Svantes Rapp verwandt war, hatte Erlandsson Cato getauft.
Sie versammelten sich vor der Hütte, Erlandsson breitete die Karte aus, auch wenn alle wussten, wo sie hinsollten. Sie gingen die Positionen noch einmal durch und kontrollierten ihre Armbanduhren. Dann konnte es losgehen. Während der Atem in Wolken von ihren Gesichtern aufstieg, sahen sie schweigend zu, wie Erlandsson mit festem Griff die Hundeleinen packte. Erlandsson nickte, und sie gingen in den Wald hinein. Etwa hundert Meter blieben sie in einer Reihe beisammen, bis Harpo als Erster abzweigte und zwischen den Fichten verschwand. Die anderen liefen weiter, kletterten über große Steinblöcke und zwängten sich durch dichtes Gestrüpp. Blomgren hatte Pila von Erlandsson übernommen, der Hund zerrte mit hängender Zunge an der Leine. Sie gingen in der Reihenfolge, in der sie zu ihren Posten abbiegen würden, Bertil bildete das Schlusslicht. Zuletzt waren nur noch er und Blomgren übrig. Blomgren sollte sich an einem Kahlschlag postieren. Er stellte sich direkt an den Waldrand, von wo er nach allen Richtungen mehrere hundert Meter freie Sicht hatte. Der Wind wehte von ihm weg, und die Chancen standen gut, den Elch in Richtung des Schlags zu treiben. An dieser Stelle erlegten sie fast jedes Jahr ein Tier. Mittlerweile hatte das Elektrizitätswerk parallel zum Kahlschlag eine Schneise in den Wald gezogen und damit die Aussicht, ein Tier in Schussweite zu bekommen, noch erhöht.
Blomgren nahm den Rucksack ab. Den Hund hatte er an Enström weitergegeben, der ihn zu einer festgesetzten Uhrzeit von der Leine lassen sollte. Die Hunde sollten dann das Wild winkelförmig auf die Linie zwischen den Posten zutreiben. Blomgren schaute auf die Uhr und meinte, Bertil habe genug Zeit, um seinen Posten rechtzeitig zu erreichen. Dann nahm er die Büchse ab und begann sie zu laden.
Bertil lief schräg über den Kahlschlag und verschwand auf der anderen Seite im Wald. Er wusste, welche Richtung er einschlagen musste, und verlangsamte das Tempo. Die Sonne hatte zu wärmen begonnen, und er öffnete den Kragen seines Ledermantels. Er ging durch Fichtenwald, der Boden unter ihm war weich und federnd. Sumpfige Moorstellen mied er, und bald war er in der Nähe seines Postens auf einem kleinen Hügel angekommen, unmittelbar an der Grenze des benachbarten Jagdreviers. Im ersten Jahr hatte er einige flache Steine entdeckt, die sich gut als Sitzplatz eigneten. Ringsum war der Wald offen, und die Sonne schien ungehindert herab.
Er blieb stehen, lauschte und sah auf die Uhr. Es blieben ihm noch fünfzehn Minuten, bevor die Hunde von der Leine gelassen würden. Er nahm das Gewehr ab, lud es und legte es mit abgewandtem Lauf vorsichtig auf einen der flachen Steine. Dann breitete er eine Zeitung aus und setzte sich darauf.
Das Warten hatte begonnen.
Beim ersten Geräusch der Hunde in der Ferne spürte er, wie seine Anspannung stieg. Er richtete den Rücken gerade, zog das Gewehr näher zu sich und spähte in den Wald, der zum Kahlschlag hin lichter wurde. Er ließ den Blick langsam hin und her wandern. Es war, als säße er in einem Schützengraben und versuchte, einen unsichtbaren, aber dennoch anwesenden Feind zu erspähen. Um ihn war alles ruhig. Im ersten Jahr hatte ihn diese kompakte Stille beinahe geängstigt. Sie erinnerte ihn an eine Empfindung aus seiner Kindheit, wenn er Angst vor der Dunkelheit hatte. Der Wald mit seinem gleichmäßigen Rauschen schuf eine unwirkliche Reglosigkeit. Er saß da und ließ den Blick über die Bäume gleiten. Ein Strom von Gedanken und Bildern zog hinter seiner Stirn vorüber.
Er sah auf die Uhr. Die Hunde waren pünktlich losgelassen worden. Die Jagd war im Gang. Sie würden eine Spur wittern und ihr folgen. Das Wild auf dem Gelände würde fliehen und an einem der Posten erlegt werden oder in angrenzenden Jagdgebieten verschwinden. Bertil stand von seinem Stein auf, ging einige Schritte auf den Waldrand zu und blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Kahlschlag. Selbst wenn die Hunde weit weg waren, könnte ihr Gebell Tiere in seiner Nähe unruhig machen. Ab jetzt konnte jederzeit ein Elch auftauchen. Wahrscheinlicher war allerdings, dass Bertil kein Wild zu Gesicht bekommen würde. Sein Stand war abgelegen und unwegsam. Wo er saß, verlief kein Elchwechsel. Er bildete nur den äußersten Grenzposten. Er setzte sich wieder hin, behielt das Gewehr nahe bei sich und dachte über die Mitglieder der Jagdgruppe nach, ohne die Lichtung in dem Waldstück aus dem Blick zu lassen. Alle, die mit der Zeit zu seinen engsten Freunden geworden waren, befanden sich in dieser Gruppe. Und jetzt, ein halbes Jahr nach dem Brand und inmitten dieser üblen Gerüchte, die ihn zum Brandstifter erklärten, jetzt, da er sich vollständig an den Rand der Gemeinde gedrängt fühlte, hatte er, abgesehen von Margot und Rubinchen, in dieser Jagdgruppe seine letzten Außenposten.
Plötzlich dachte Bertil, dass er über Enström sehr wenig wusste. Obwohl sie vieles gemeinsam machten und einige Vertraulichkeiten ausgetauscht hatten, blieb Enström dennoch ein Unbekannter, ein Mensch, den er nicht vorbehaltlos verstand und dem gegenüber er sich nie ganz sicher fühlte. Er konnte nicht sagen, woran das lag.
Während Bertil auf seinem Posten ausharrte, versuchte er, die unvollständigen Bilder einzufangen, die er von seinen Freunden hatte. Das Sägewerk würde vielleicht wiederaufgebaut, und wenn er hierbleiben und sein Leben mit Margot und Rubinchen verbringen wollte, dann müsste er lernen, mit seinem Misstrauen umzugehen und seine Freunde als Menschen zu sehen, die ihm im Kern vertraut waren. Doch sein Bild von Enström flackert. Er denkt an die Müdigkeit und den Überdruss, in die sich Enström so oft flüchtet, wenn sie abends beisammensitzen und reden. Ein Überdruss, der manchmal in eine graue, lebensfeindliche Gleichgültigkeit umschlägt. Er fragt sich, was es zu bedeuten hat, wenn Enström davon spricht, dass er anfange, den Glauben zu verlieren, und das mit einer schleichenden Krankheit vergleicht, einem heimtückischen Krebs, der einen an der Kehle packt. Enström sagt, dass sein Vertrauen nur noch eine Glaubensfrage sei, er empfinde seine Ansichten nicht mehr als selbstverständlich, sondern nur noch wie quälende Erinnerungen an etwas Verlorenes. Als Bertil einmal nachfragte, sprach Enström von seiner zunehmenden Selbstverachtung. Es gab einen Zusammenhang zwischen dieser Selbstverachtung und seinem wachsenden Überdruss. Mit einem ironischen Grinsen erzählte er, dass auch er, wie alle anderen, das Radio abschaltet, sobald die Parteivorsitzenden reden.
Für Bertil stellt sich die Frage, ob Freundschaft in so einem Zustand überhaupt möglich ist. Wird sie nicht von diesem Überdruss erfasst, anstatt von etwas Positivem? Eigentlich muss er zugeben, dass er seinen Feinden oder einem beliebigen Menschen wie etwa Enströms Frau Linnea mehr vertraut als seinen Freunden und Enström selbst. Mit den anderen, mit Erlandsson und Svante, verhält es sich ebenso, nicht aber mit Harpo. Er ist sehr zurückhaltend und in vieler Hinsicht Bertil ähnlich. Auch er weiß, wie es ist, in einer feindlich gesinnten Umgebung zu leben und in ihrer kleinen Gemeinde nirgends wirklich dazuzugehören.
Bertil späht weiter zum Kahlschlag hin und wandert in seinem Kopf von einem Posten zum nächsten. Zusammen mit den anderen bildet er im Wald eine unsichtbare Kette. Zwischen ihnen besteht eine Gemeinschaft, ein Netz. Aber dieses Netz ängstigt ihn. Immer deutlicher nimmt er wahr, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Unsichtbaren und der Bedrohung und Feindschaft gibt. Nur das Sichtbare, das Begreifbare kann er beherrschen. Er steht wieder auf und geht ein paar Schritte. Ein trockener Ast knackt unter seinen Füßen. Er schaut zum Waldrand und merkt, dass er nicht mehr nach Elchen Ausschau hält, sondern nach Gesichtern zwischen den Bäumen.
In diesem Moment stürzt die Elchjagd in sich zusammen, und er ist nun überzeugt, dass die anderen aus der Gruppe auf ihren Posten liegen und mit kaltem Blick zu ihm herüberspähen. Eine eisige Starre erfasst ihn. Er scheint verrückt zu werden, das sind wahnsinnige Gedanken, die er wegschieben muss. Langsam geht er zu seinem Stein und setzt sich wieder auf die Zeitung. Er atmet tief durch und schämt sich, als wäre er bei etwas Unanständigem oder Peinlichem ertappt worden. Er stopft seine Hosenbeine zurück in die Stiefel und schreckt auf, als er einen der Hunde von weitem bellen hört.
Die Sonne wärmt jetzt noch stärker. Der Morgen ist vorüber, und der Wald steht bereits in vollem Licht.
Der erste Tag endet, ohne dass die Hunde ein Tier aufgestöbert hätten. Die Fährten sind kalt geblieben, die witternden Nasen der Hunde, die jetzt in der Waldhütte vor dem Feuer liegen, sind zur Ruhe gekommen. Es ist halb acht, die Männer haben zu Abend gegessen und Kaffee getrunken. Drei liegen auf ihren Pritschen und rauchen Pfeife. Harpo kommt mit einem Schwung Brennholz zur Tür herein, und Erlandsson sitzt am Tisch und legt eine Patience. Die Stiefel stehen am Eingang aufgereiht, und an der Hüttenwand hängen ihre Gewehre. Harpo legt Holz nach, reguliert am Gitter den Luftzug und geht zu Bett.
»Vergesst nicht, die Lampe zu löschen«, sagt er, zieht die Decke hoch und dreht den Kopf weg. Erlandsson schaut auf, nickt und beugt sich wieder über seine Spielkarten. Zehn Minuten später macht er die Petroleumlampe aus und streichelt die Hunde. Dann verzieht er sich in seine Schlafkoje.
Bertil liegt mit dem Gesicht zur Wand im oberen Bett. Er lässt die Finger über das raue Holz gleiten und fragt sich, wie viele der Männer noch wach sind. Bislang ist nur vereinzeltes Schnarchen zu hören. Er zieht sich die Decke enger um den Rücken und hält die Augen offen. Der Schein der Flammen tanzt schwerelos über die Balken, und er spürt, wie müde er ist.
Um vier haben sie Kaffee getrunken und sind wieder auf dem Weg nach draußen, jeder zu seinem Posten. Es ist kälter als am Vortag, und Bertil zittert vor Müdigkeit. Er geht schnell, damit ihm warm wird. Keiner von ihnen ist zu Scherzen aufgelegt. Alle wissen, dass sich Unruhe ausbreiten wird, wenn sie heute keinen Elch erlegen. Diese eigentümliche Nervosität, der Jagderfolg könnte ausbleiben. Blomgren ist der Erste, der sich einen Schnaps genehmigt. Dann hält er die Flasche in die Runde. Doch alle lehnen ab.
An diesem Morgen nimmt Cato sofort Witterung auf. Als Erlandsson ihn loslässt, zischt er wie ein Strich davon und verschwindet im Wald. Sie hören, wie das Gebell nach einiger Zeit in Jaulen übergeht. Alle halten angespannt ihre Gewehre in den Händen. Doch nichts geschieht. Von Cato kommt kein Geräusch mehr, und auch dieser Tag endet ohne Elch. Am Abend bleiben sie nach dem Essen und dem Kaffee um den Tisch sitzen, trinken Schnaps und diskutieren, warum die Witterung die Hunde nach wie vor nicht zur richtigen Fährte geführt hat. Svante erzählt, dass er eine frische Elchlosung gesehen habe, und alle sind sich einig: Untertags war die Anwesenheit der Elche deutlich zu spüren. Es sind also Tiere im Wald. Bislang hat sich aber noch keines gezeigt.
Tags darauf schießen sie den ersten Elch, einen alten Bullen mit elf Enden an der Schaufel. Es passiert kurz nach zwei am Nachmittag. Es regnet, ist jedoch warm und windstill. Svante hat das Tier entdeckt, das zwischen den Bäumen umherstreift. Er gibt zwei Schüsse ab. Der erste verfehlt sein Ziel. Der andere trifft den Riesen direkt ins Herz. Er geht mit einem Krachen zu Boden und kommt auf der Seite zu liegen. Eine gute Stunde später sind alle an der Schussstelle versammelt. Gemeinsam brechen sie den Elch mit ihren Messern auf. Der Regen wird stärker, und sie arbeiten schnell, um ins Trockene zu gelangen. Die Hunde sind an einen Baum gebunden, und Pila, der den Elch aufgestöbert hat, bekommt das erste Stück. Als sie zurück zur Hütte gehen, denkt Bertil über die Witterung des Hundes nach. Er fühlt sich an etwas erinnert, weiß aber nicht genau, woran. Den ganzen Tag war ihm unbehaglich zumute, und er hat erneut den Waldrand nach Gesichtern abgesucht.
Der nächste Tag, ihr vierter, ist von anhaltendem Unwetter geprägt. Es regnet kräftig, zerrissene Wolken jagen über die Baumspitzen hinweg. Im kalten Wind gehen sie gebückt zu ihren Posten. Als Letzte trennen sich Blomgren und Bertil ohne ein Wort des Abschieds.
Auf halber Strecke zu seinem Stand hat Bertil plötzlich das Gefühl, dass ihm jemand folgt. Inmitten eines dichten Gestrüpps aus jungen Fichten bleibt er abrupt stehen. Er geht ein paar Schritte zur Seite und sucht hinter dem Wurzelballen einer umgestürzten Kiefer Schutz vor dem Wind. Regen schlägt ihm ins Gesicht, und von seinem Hut tropft ihm das Wasser auf die Nase. Die Kälte lässt ihn schaudern. Er starrt in die Richtung, aus der er kam. Der Wald ist noch dunkel, obwohl es bereits kurz nach halb fünf ist. Zu hören ist nur der Wind, der durch die Bäume fährt. Die Kiefern wanken in den Sturmböen, und von Bertils Hut hat sich einer der Riemen gelöst, der ihm gegen den Mund schlägt. Er hockt lange da, bevor er zu seinem Posten weitergeht. Dort sagt ihm ein Blick auf die Uhr, dass die Hunde bereits von der Leine sein müssen. Er drängt sich dicht an eine Kiefer, scheuert mit dem Rücken am Stamm und hält das Gewehr in den Händen.
Er hat Angst. Er ist überzeugt, dass ihm jemand hinterhergeschlichen ist. Einer aus der Jagdgruppe ist nicht an seinen Platz gegangen, sondern ihm mit lautlosen Schritten durch den Wald gefolgt. Er glaubt, knackende Zweige hinter sich gehört zu haben, aber vor allem sagt ihm sein Kopf, dass einer ihm nachstellt, vorsichtig, aber zielstrebig. Nicht nur heute, sondern auch an den Tagen zuvor, einer, der auf eine Gelegenheit lauert. Gestern, als der Elch erlegt wurde, hätte genauso gut er selbst einen sauber gezielten Schuss in den Kopf bekommen können. Von einem, der später sagen würde, er habe die Kuh des Elchbullen gesehen und sei sich sicher gewesen, ein Tier zu erlegen. Ein Jagdunfall, nichts weiter. Bertil wischt sich mit der Hand den Regen aus dem Gesicht, während er sich darauf konzentriert, den kalten Blick eines Augenpaars zu entdecken, das ihm von der anderen Seite des Waldes her auflauert. Wenn er zwischen den Steinen und Büschen ein Gesicht zu sehen glaubt, fährt er zusammen.
Die Witterung, denkt er. Irgendjemand hat nicht vom Elch, sondern von mir Witterung genommen.
Er merkt, dass die Angst stärker geworden ist. Sein Herz pocht, und die Hände um Gewehrkolben und Lauf werden weiß. Einen kurzen Moment stellt er sich vor, sich den schwarzen Lauf in den Rachen zu stecken und abzudrücken. Doch der nasskalte Lauf mit der dunklen Mündung erschreckt ihn mehr als die Vorstellung zu sterben. Die Fantasie erlischt wie ein Irrlicht, und er wendet sich wieder dem Waldrand zu. Er zwingt sich zu der Überzeugung, dass der Verfolger nur eine absurde Gestalt seiner Einbildung ist. Bertil versucht herauszufinden, ob er dem Fantasiegesicht mehr als vage Konturen entlocken kann. Wie in einer Rückblende sieht er jenen Augenblick wieder, als er sich schützend hinter den Wurzelballen hockte. Er steht als unsichtbarer Betrachter einige Meter entfernt, verborgen sowohl dem Opfer als auch dem Mörder. Doch er sieht niemanden kommen. Der Wald ist leer. Er versucht, die anderen an ihren Posten auszumachen, abwartend und spähend wie er selbst. Stunde um Stunde harrt er so aus und hält seine Angst mit vernünftigen Argumenten in Schach. Er lenkt seine Konzentration auf die Bewegungen eines Elchs. Er umschließt die anderen Mitglieder der Jagdgruppe mit sanften Bildern, hüllt sie in warme Decken mit einem Muster aus Frühlingsblumen. So wacht er lange Zeit über sich selbst, das Gewehr zu Boden gerichtet.
Am Nachmittag lässt der Wind nach, und der Regen schlägt ihm nicht mehr mit derselben Heftigkeit entgegen. Er lauscht auf Hundegebell. Einige Male glaubt er, auch Schüsse zu hören, doch er bleibt auf seinem Stand und befolgt die Elchjägerregel, sich nicht vor der vereinbarten Zeit in die Schusslinie zu begeben, jedenfalls nicht, bevor hundertprozentig feststeht, dass der entscheidende Schuss gefallen ist. Erst Viertel nach vier macht er sich auf den Weg zurück zur Hütte.
Dabei muss er an eine Geschichte denken, die Enström erzählt hat. Irgendwann in den zehner Jahren war es während einer Herbstjagd zu einer Tragödie gekommen. Eine zehn Mann starke Gruppe aus der Gemeinde hatte sich in die Waldgebiete Richtung Süden aufgemacht. Teil der Gruppe waren auch zwei Brüder und ihr Vater. Eines Nachmittags waren im Abstand von zehn Minuten zwei Schüsse gefallen. Keiner verstand, was das zu bedeuten hatte, und man ging suchend in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Neben einem großen Granitblock fand man den Vater und einen der Söhne tot auf. Der Sohn saß mit dem Rücken an den Fels gelehnt. Ein Schuss hatte ihn ins Auge getroffen und ihm den Hinterkopf weggerissen. Vor ihm auf dem Boden lag der Vater in eigenartiger Stellung. Er hielt sein Gewehr, die Finger mit eisernem Griff um Kolben und Lauf geklammert. Auch von seinem Hinterkopf fehlte die Hälfte. Er hatte sich in den Mund geschossen. Daneben saß der Bruder und schluchzte. Als man sah, dass beide Patronen aus dem Gewehr des Vaters stammten und das des Sohns nach wie vor geladen war, wusste man, wie es gelaufen war. Der Vater hatte aus Versehen den Sohn erschossen. Als er dann an der Stelle eintraf, wo er geglaubt hatte, ein totes Tier zu finden, war er so verzweifelt, dass er sich selbst erschoss. Danach kam der andere Sohn und musste das Ganze mit eigenen Augen ansehen. Es hieß auch, die eigenartige Stellung des Vaters deutete darauf hin, dass er vor dem toten Sohn auf die Knie gegangen war, bevor er sich das Leben nahm.
Bertil tastete sich durch das Gestrüpp und dachte über diese Geschichte nach. Er hatte etwa die Hälfte der Strecke zur Hütte zurückgelegt, als er stehen blieb und die Luft anhielt. Von schräg hinter ihm war ein Geräusch zu hören gewesen. Er drehte sich um und starrte in diese Richtung. Langsam, fast in Zeitlupe, kauerte er sich hinter eine breite, moosbewachsene Fichte. Erneut hörte er ein Geräusch, und jetzt war er sich sicher, dass es Fußtritte waren, vorsichtige Schritte. Er spürte seinen wilden Herzschlag und presste sich eng an den stechend rauen Stamm. Dann entdeckte er, dass sich zwischen den Bäumen etwas bewegte, dessen Färbung anders war als die der Umgebung. Kurz darauf wurde Blomgren sichtbar, der trotz seiner Leibesfülle erstaunlich leichtfüßig vorankam. Von seiner Schulter hing das Gewehr, und der Rucksack baumelte an nur einem Riemen auf seinem Rücken. Mit einer Hand fasste er sich an die linke Wange. Bertil konnte erkennen, dass er verwundet war. Die gesamte linke Gesichtshälfte war blutverschmiert. Blomgren kam an der Fichte vorbei, hinter der Bertil hockte, und verschwand wieder im Wald. Bertil lauschte seinen Schritten nach, und erst als sie fast nicht mehr zu hören waren, kroch er aus seinem Versteck und ging hinterher. Als er den Weg erreichte, war Blomgren außer Sichtweite.
In der Hütte sah er, dass alle bereits zurück waren. Enström versorgte eben die Wunde in Blomgrens Gesicht und säuberte sie mit einem Handtuch und Desinfektionsmittel. Die anderen waren mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt. Bertil grüßte und fragte Blomgren, was denn passiert sei. Blomgren antwortete, er sei gestolpert und habe dabei den Gewehrlauf wie einen Spieß ins Gesicht bekommen.
»Aber die Büchse war zum Glück nicht geladen«, sagte er mit einem Grinsen.
An diesem Abend machen sie mit dem Trinken zum ersten Mal Ernst. Alle holen ihre Schnapsflaschen hervor, und gegen neun sind sie leicht betrunken. Zwischen den roten und verschwitzten Gesichtern schwirren Jagdanekdoten hin und her. Dabei werden ihre Bewegungen immer ruckartiger und heftiger. Parallel zu den Schatten, die an den Wänden tanzen, heben und senken sich ihre Stimmen. Erst gegen zwölf liegen alle auf ihren Pritschen, und die Hunde sind vor der Feuerstelle zur Ruhe gekommen.
Am fünften Tag fallen drei Schüsse. Harpo erlegt mit zwei Schüssen eine Elchkuh, der eine trifft die Brust, und der andere zersplittert ihr das Rückgrat.
Den dritten Schuss holt Bertil aus dem Stamm einer Kiefer hinter sich. Er stochert die plattgedrückte Kugel mit seinem Taschenmesser hervor.
Auch an diesem Tag herrscht Unwetter. Der Wind ist genauso heftig und böig wie tags zuvor, nur der Regen hat nachgelassen. Bertil steht auf seinem Posten und späht. Von Zeit zu Zeit, wenn der Wind das Gebell in seine Richtung trägt, hört er die Hunde jagen. Er wandert zwischen den flachen Steinen, der Kiefer und der Waldkante hin und her. Nachdem er gestern, ohne selbst gesehen zu werden, mit Blomgren zusammengetroffen war, hatte sich sein Gehörsinn etwas beruhigt. Blomgren war aus der Richtung gekommen, in der sein Posten lag. Er hatte sich aufgrund des Unfalls mit dem Gewehr verspätet. An seinem Auftreten war nichts Unnatürliches oder Bedrohliches. Dennoch wollte sich Bertils Unruhe nicht vollständig legen. Er bildete sich immer noch ein, im Wald Gesichter zu sehen. Kurz vor halb drei hört er die beiden Schüsse, die die Elchkuh erlegen. Er versucht, die Richtung zu orten, und tippt auf Enström oder Harpo. Nach dem zweiten Schuss wartet er noch etwa fünf Minuten. Dann schultert er sein Gewehr und bückt sich, um den Rucksack hervorzuholen, den er in eine Spalte unter einem der Granitblöcke gezwängt hat. Er steht auf und schiebt die Arme unter die Riemen.
Er wird nie mit Sicherheit sagen können, ob er den Schuss gehört hat. Er weiß, dass der Wind in dem Moment heftig blies, und er erinnert sich daran, dass er dachte, es würde ihm gleich den Hut vom Kopf wehen. Der Aufprall in dem Kiefernstamm hinter ihm ist aber nicht zu überhören. Er zuckt zusammen und dreht sich um. Er steht ein paar Meter von der Kiefer entfernt und kann in der unregelmäßigen Struktur der Rinde nichts ausmachen. Doch als er verwundert näher tritt, entdeckt er den Einschlag in Augenhöhe sofort. Er starrt auf das Loch, bevor er sich wieder zurückdreht. Instinktiv geht er in die Hocke und blickt in den Wald.
Er wird nie mit Sicherheit wissen, ob es wirklich ein Mensch war, den er Sekunden nach dem Schuss am Waldrand durchs Dickicht schimmern sah. Mit rasendem Herzen hockt er so eine Weile, bis er es wagt, sich erneut der Kiefer zuzuwenden. Er streift Rucksack und Gewehr ab und holt sein Taschenmesser heraus. Er entfernt die Rinde und schneidet die platte Kugel aus dem Holz. Als er sie in der Hand hält, spürt er, dass sie immer noch warm ist. Das flache Metallstück ist nicht größer als eine Zwei-Öre-Münze. Er steckt es ein, stellt sich mit dem Rücken zum Baum und späht noch einmal in den Wald. Aber nichts ist zu sehen.
Nach einer Dreiviertelstunde ist er an der Abschussstelle und sieht die Elchkuh, die Harpo mit seinen beiden Schüssen erlegt hat. Alle anderen Mitglieder der Jagdgruppe sind bereits dort, und er packt mit an, das Tier zu zerlegen. In seiner Tasche brennt die flache Kugel.
Auf dem Weg zur Hütte beschließen sie, noch eine weitere Nacht zu bleiben, auch wenn sie ihre Quote bereits erreicht haben. Es ist spät, sie werden Zeit brauchen, alles in Ordnung zu bringen und aufzuräumen, und außerdem ist noch genügend Schnaps übrig. Sie einigen sich darauf, erst am nächsten Vormittag zurückzufahren.
Als das gesamte Elchfleisch verstaut ist, legen sie ihre restlichen Lebensmittel zusammen und bereiten daraus ihr Abendessen zu. Der Schnaps wird hervorgeholt, die Hunde bekommen große Fleischbrocken, und Harpo entfacht im Ofen ein beeindruckendes Feuer. Bertil beobachtet heimlich seine Jagdkollegen. Er weiß, dass jemand auf ihn geschossen hat, entweder um ihn zu töten oder um ihm Angst einzujagen. Aber er hat keine Ahnung, wer das war. Er weiß nur, dass er eine flache Kugel in der Tasche hat. Und dass er es den anderen gegenüber nicht erwähnen wird. Einen Moment lang hatte er das Bedürfnis gehabt, Enström zu erzählen, was geschehen war, mit ihm vor die Hütte zu gehen und ihm die Kugel zu zeigen. Aber er ist verunsichert. Er kann nicht ausschließen, dass sie aus Enströms Gewehr stammt. Die Tatsache, dass es ein meisterhafter Schuss war, der den schmalen Kiefernstamm aus so großer Distanz traf, macht ihn stutzig. Sind vielleicht diese neuen jugoslawischen Büchsen so gut, dass sie solche Schüsse erlauben?
Unbeteiligt stochert er mit einer Gabel in den Topf, um zu prüfen, ob die Kartoffeln fertig sind.
Was spätabends geschah, als alle betrunken waren und Erlandsson bereits mit dem Kopf auf der Tischplatte schlief, wurde für Bertil zu einem Wendepunkt. Während er draußen war, um zu pinkeln, und plötzlich zusammenfuhr, als Svante stumm die Hand auf seine Schulter legte, begann etwas, was ihn immer steiler bergab führen sollte. Als er Jahre später am gefrorenen Fluss stand und seinen Blick zu der Hügelkette hob, die das Tal mit der kleinen Marktgemeinde umschloss, würde er das Gefühl haben, sich auf dem Grund eines tiefen Brunnens zu befinden, aus dem er nicht mehr herausklettern konnte. Der weiße Schnee würde wie die rutschigen und glatten Steinwände des Brunnens wirken, voll mit schlammigem Wasser und weißen Aalen. In diesem Moment vor der Hütte wendete sich alles.
Vom Schnaps innerlich gewärmt und etwas taumelig, war er zum Pinkeln hinausgegangen. Der Gedanke an die flache Kugel in seiner Hosentasche hatte sich zu einem nebligen Rätsel eingetrübt.
Er hörte Svante nicht kommen und zuckte zusammen, als er dessen Hand auf seiner Schulter spürte. Svante sah Bertil mit glasigem Blick an, stellte sich neben ihn und pinkelte ebenfalls. Er hatte eine Taschenlampe in der Hand und ließ das Licht den gelben Harnstrahl entlanggleiten. Als sich Bertil die Hose zuknöpfte, bat Svante ihn mit leiser und scheinbar völlig nüchterner Stimme, noch einen Moment zu warten. Der Harnstrahl verschwand aus dem Licht der Taschenlampe. Svante fasste Bertil am Arm und zog ihn ein Stück von der Hütte weg. Aus dem Türspalt fiel der Schein der Petroleumlampe. Neben dem Brennholzhaufen blieben sie stehen. Svante horchte auf das schwache Gemurmel, das aus der Hütte drang.
»Ist dir in den letzten Tagen etwas Besonderes aufgefallen?«, begann er.
Bertil legte die Stirn in Falten und betrachtete Svantes ernstes Gesicht. Svante richtete die Taschenlampe nach oben und schirmte den Lichtkegel mit der Hand ab.
Bertil beantwortete die Frage nicht.
»Irgendwas Eigenartiges?«, fuhr Svante fort. »Dann sag es mir.«
Bertil hatte den Eindruck, dass Svante bereits wusste, was geschehen war. Zugleich schien ihm, als müsste er Svante gegenüber nicht länger auf der Hut sein. Bei ihm fühlte er sich plötzlich sicher. Er zögerte nur kurz. Dann holte er die flache Kugel hervor und öffnete die Hand. Svante richtete die Stablampe darauf.
»Meinst du das hier?«, fragte Bertil.
Er sah, wie sich Svantes Gesicht verfinsterte.
Svante drückte Bertil die Lampe in die Hand, griff in die Hosentasche und zog eine Kugel heraus, die jener glich, die ihm Bertil gezeigt hatte.
Bertil konnte sich später nicht mehr genau erinnern, wie lange sie dort gestanden und sich angesehen hatten. Aber er würde nicht vergessen, dass Cato in der Hütte einen kurzen, bellenden Laut von sich gab und er dachte, jemand hätte ihn wohl versehentlich getreten. Vielleicht waren es nur ein paar Minuten, doch sie schienen endlos.
»Irgendjemand hat geschossen«, sagte Bertil. »Ich habe diese Kugel aus dem Stamm einer Kiefer geholt. Steckte ziemlich tief drin. In Augenhöhe.«
»Genau wie bei mir«, erwiderte Svante mit kaum wahrnehmbarer Stimme. »Jemand hat auf uns geschossen. Ich habe schon vermutet, dass ich nicht das einzige Ziel gewesen bin. War also richtig.«
»Es könnten auch noch mehr sein«, sagte Bertil. »Derjenige hat ja möglicherweise auf noch einen oder sogar zwei weitere geschossen.«
»Aber wie war das mit den Schüssen? Hast du irgendeinen davon gehört?«
Bertil schüttelte den Kopf.
»Nur die, die dem Elch galten«, sagte er dann.
In dem Moment wurde die Tür der Waldhütte geöffnet. Bertil knipste die Lampe aus, und sie sahen, wie Enström sich hinstellte und direkt vor den Eingang pinkelte. Dann ging er wieder hinein und zog die Tür fest zu. Bertil machte die Lampe nicht wieder an.
»Aber wer?«, sagte Bertil.
»Ich weiß es nicht. Und die Frage ist: Wollte uns jemand einen Schreck einjagen oder uns töten? Waren das zwei Treffer oder zwei Fehlschüsse?«
Bertil ging als Erster in die Hütte zurück, Svante kam ein paar Minuten später hinterher. Drinnen hatte sich die aufgekratzte Stimmung gelegt. In den Flaschen waren nur noch wenige Schnapsreste.
Erlandsson wurde von Enström und Harpo zu seiner Pritsche getragen. Blomgren verwickelte Svante unvermittelt in eine heftige und aggressive Diskussion darüber, was er den kommunistischen Wahnsinn nannte. Er schlug mit seiner enormen Faust auf den Tisch, und Bertil bemerkte, dass sich die Wunde auf Blomgrens Wange mit einer rötlich schwarzen, struppigen Kruste bedeckt hatte. Die Bartstoppeln standen wie Stacheln in dem verschwitzten Gesicht. Svante reagierte auf den plötzlichen Angriff ausweichend und vage. Als sich Enström einschaltete und meinte, Blomgren solle das Maul halten, sie müssten jetzt endlich schlafen, wenn sie es morgen überhaupt nach Hause schaffen wollten, verstummte dieser, ohne zu widersprechen. Bertil war der Letzte, der sich auf eine der langen Tischbänke sinken ließ, um sich die Socken auszuziehen. Dabei sah er, dass Svante von seiner Schlafkoje aus zu ihm herüberschaute. Er erwiderte den Blick, stand auf und legte noch ein paar Holzscheite nach. Als das Feuer aufflammte, drehte sich Blomgren um.
»Mir wird es hier zu warm«, stöhnte er. »Viel zu warm.«
Erst gegen Morgen schlief Bertil ein.
Sie trennten sich an derselben Stelle, an der sie eine knappe Woche zuvor zusammengekommen waren. Wie immer bedankte sich Erlandsson bei den anderen für die Jagd. In diesem Jahr waren er und Harpo an der Reihe, das Fleisch zu verteilen. Bertil begleitete Enström bis zum Eisenwarenladen, der während der Jagd geschlossen geblieben war, weil Enström keine Aushilfe mehr hatte. Sie gingen in den hinteren Raum. Bertil legte Gewehr und Patronen auf den Schreibtisch und dankte dafür, dass er sich beides hatte leihen dürfen.
»Man sieht sich«, sagte Enström, als Bertil aufbrach.
Bertil nickte und verabschiedete sich.
Zuerst ging er zu seiner Unterkunft am Fluss, um frische Kleidung anzuziehen. Die zusammengedrückte Kugel steckte er ein. Auf einmal hatte er das Bedürfnis, sich eine neue Hose zu kaufen. Er ließ das Postsparbuch in die Innentasche des dunklen Sakkos gleiten und machte sich auf den Weg ins Zentrum.
Um Viertel vor zwei nahm er die sechzehn Glücksstufen, die zu Margots und Rubinchens Wohnung hinaufführten. Schon im Stiegenhaus hörte er, dass Rubinchen wütend schrie.
Margot hatte sich für die Woche der Elchjagd vorgenommen, mit ihrem Leben und vor allem mit ihrem Verhältnis zu Bertil ins Reine zu kommen. Sie wollte die Tage, an denen sie mit Rubinchen allein war, gut nutzen. Seit dem Sommer hatte sie das dringende Bedürfnis nach etwas Zeit für sich. Was Bertil betraf, so wollte sie mit ihm nicht länger zusammen sein, wenn es nicht ganz selbstverständlich, ohne Einschränkungen und Vorbehalte möglich war. In ein paar Tagen hatte sie Geburtstag, dieses Datum sollte eine Trennlinie zwischen der Vergangenheit und einer möglichen Zukunft bilden. Sie fühlte sich in einem sumpfigen Grenzland gefangen, in dem sie ständig Gefahr lief, zu stürzen und zu versinken.
An Bertils erstem Jagdtag hatte Margot abends Besuch von Birgit, ihrer besten Freundin, bekommen. Sie waren die gesamte Schulzeit hindurch in derselben Klasse gewesen und hatten viele Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft gewohnt. Der Genossenschaftsbau hinter dem Postgebäude war fertiggestellt worden, als Margots Mutter mit Margot schwanger war. Birgit, sechs Monate älter als Margot, wohnte im Erdgeschoß, während Margots Eltern eine Wohnung im ersten Stock bezogen hatten. Von Beginn an spielten Birgit und Margot miteinander. Birgits Vater, der Hausmeister der Anlage, hatte ihnen einen Sandkasten gezimmert. Sie waren die einzigen Kinder im Haus, und der Sandkasten wurde für lange Zeit zu ihrem wichtigsten Treffpunkt. Später diente ihnen der Holzrahmen als Stütze, um sich auf das erste Fahrrad zu schwingen, und auch in den unzähligen Wintermonaten, wenn aus der Sandfläche ein Mini-Eislaufplatz wurde, auf dem sie mit an die Stiefel geschnallten Kufen herumrutschten. Als sie älter wurden, vierzehn oder fünfzehn vielleicht, saßen sie oft kichernd auf der Holzeinfassung und versteckten die Kippen der ersten verbotenen Zigaretten in den hohlen Händen. Margot wohnte in diesem Haus, bis sie neunzehn war. Als ihre Eltern sich trennten und die Mutter in den Süden ging, blieb sie beim Vater und bezog mit ihm eine Wohnung über der Bäckerei. Birgit war damals bereits in die Stadt gezogen, um die Realschule und danach das Gymnasium zu besuchen. Sie und Margot wollten aber auf jeden Fall Kontakt halten. Sie schrieben sich und schenkten einander zum Geburtstag und an Weihnachten geblümtes Briefpapier. Wenn Birgit in den Ferien in den kleinen Ort zurückkehrte, mussten sie jedoch feststellen, dass es weniger Gesprächsstoff gab, dass die gemeinsamen Erfahrungen immer seltener wurden. In dem Jahr, als Birgit ihr Abitur machte und Margot ganztags in Rooths Lebensmittelladen anfing, kam Birgit über Ostern nach Hause. Die Schule hatte ihr zusätzlich drei Tage frei gegeben, da sie gerade erst von einer Lungenentzündung genesen war. Margot hatte nach einigem Bitten Urlaub bekommen, und sie machten gemeinsam lange Skitouren oben auf den Hügeln, zu denen sie früh am Morgen aufbrachen und erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückkamen. Dass ihre unterschiedlichen Lebensläufe der Freundschaft unvermeidlich im Weg standen, war eine Tatsache, die sie inzwischen beide in Worte fassen konnten. Es war aber vor allem Birgit, die sprach. Sie hatte sich in ihrer Schule eine neue Ausdrucksweise angeeignet. Margot hegte dafür heimliche Bewunderung, gemischt mit einer Spur Neid, dass Birgit so anders heranwuchs als sie selbst. Sie hatte in ihrer Freundschaft mehr die Rolle der Zuhörerin übernommen. Nur wenn gemeinsame Erlebnisse und Ereignisse zur Sprache kamen und sie ihre Eindrücke vergleichen konnten, redete Margot genauso viel wie Birgit. Sobald das Gespräch abstrakter wurde, um Träume oder Ansichten kreiste, lehnte Margot sich zurück.
Auf einer dieser Skitouren kamen sie darauf, dass sie eigentlich durch zwei sehr unterschiedliche Lebensphasen verbunden waren. Sie saßen in einer Schneewehe oben auf dem Hügel, der Orrspitze hieß, hatten Ski und Stöcke in den Schnee gesteckt und aßen Orangen. Birgit zündete sich eine Zigarette an und sog gierig den Rauch ein. Margot betrachtete sie heimlich und sah dann widerwillig auf die Orange in ihrer eigenen Hand. Ohne den Grund zu verstehen, stand sie auf, stapfte ein paar Schritte weiter und warf die Orange weg, die im weichen und tiefen Schnee versank. Als sie sich umdrehte, saß Birgit da und lachte.
Sie sprachen davon, dass das Band zwischen ihnen auf die gemeinsamen Erinnerungen an die Kindheit und die frühen Jugendjahre zurückging. Anschließend hatte es eine Lücke gegeben, in der ihre Leben getrennt voneinander verliefen. In den Briefen, die sie einander in dieser Zeit schrieben, Margot war beim Zählen auf beinahe zweihundert gekommen, ließen sie die jeweils andere an ihrer Gegenwart nicht teilhaben. Diese Briefe führten ein Eigenleben und schufen nichts Gemeinsames, an das sie anknüpfen konnten, wenn sie sich sahen. Erst jetzt, als Achtzehnjährige, schien ihnen der Anfang einer neuen Phase ihrer Freundschaft zu gelingen.
Birgit würde in den Süden des Landes gehen, um an der Universität zu studieren, und Margot würde bleiben und die Kunden in Rooths Laden bedienen. Als Birgit von ihren Erwartungen für die Zeit nach dem Abitur sprach, wollte Margot das eigentlich nicht hören. Sie wollte die lange Skitour an diesem Karfreitag in der Erinnerung bewahren, sie ins Unendliche dehnen. Sie sah vor sich, wie sie beide als alte Frauen in der Schneewehe saßen und die Wintersonne kräftig vom Himmel schien. Orangenschalen, die sich vom Weiß abhoben. Gekreuzt im Schnee aufragende Ski, Stöcke, auf denen Fäustlinge saßen.
Es dauerte beinahe zwei Jahre, bis sie einander wiedersahen. Inzwischen machte Birgit Abitur und reiste ins Ausland. Danach war sie direkt an ihren Studienort gefahren. Nach Ablauf der beiden Jahre stieg an ihrer Seite ein Verlobter aus dem Zug. Die Briefe, die sie und Margot einander geschrieben hatten, waren in immer größeren Abständen gekommen. Und die Antworten fielen immer kürzer aus. Der Ton hatte sich geändert, und Margot fand, dass die Briefe auf beiden Seiten mit jedem Mal kühler und unpersönlicher wurden. Sie wusste nicht, dass Birgit kommen würde, und noch weniger, dass sie einen Verlobten mitbringen würde, einen dünnen Mann mit Pickelnarben im Gesicht. Die beiden trafen an einem Freitagvormittag ein und stießen gleich am Samstag zufällig auf Margot, die von der Arbeit nach Hause ging. An einer Kreuzung, zwischen Bibliothek und Kirche, standen sie einander plötzlich gegenüber. Margot schüttelte dem großen Blonden die Hand und erfuhr, dass er Medizin studierte, um in die Forschung zu gehen. Birgit hatte sich bei ihm untergehakt, und ihre Augen wanderten unentwegt zwischen Margot und dem Gesicht ihres Verlobten hin und her. Margot lud sie am Abend zu sich ein. Ihr Vater lag nach einem Sturz mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus, und Margot lebte seit Wochen allein in der Wohnung über der Bäckerei.
Nach diesem Abend sollten elf Jahre vergehen, bis Birgit und Margot einander wiedersahen. Hin und wieder schrieben sie sich Weihnachtskarten, und im siebten Jahr erhielt Margot ein Hochzeitsfoto, auf dem Birgit mit einem ganz anderen als dem großen Blonden zu sehen war. Aber Margot erfuhr nur seinen Namen und dass er Tierarzt war, Tierarzt Axel Fritz. Die Briefe, die langen Berichte, die sie früher ausgetauscht hatten, gab es nicht mehr. Bis zum Tod von Birgits Vater hatten sie keinen Kontakt. Margot war zu dieser Zeit gerade mit Rubinchen hochschwanger. Birgit hatte ihr mitgeteilt, dass sie zum Begräbnis komme, und gefragt, ob sie sich nicht treffen könnten. Sie wolle nur wenige Tage bleiben, doch sei es ihr wichtig, Margot zu sehen. Das Begräbnis fand an einem Samstag statt, und sie hatten sich für Sonntag um eins am Sandkasten verabredet.
Als Margot eintraf, saß Birgit bereits auf dem Holzrahmen. Es war Mai, und am Himmel hing eine dünne Wolkendecke. Birgit saß mit dem Rücken zu ihr. Als Margot näher kam, sah sie, dass Birgit Tränen in den Augen hatte. Margot setzte sich neben sie, und Birgit griff nach ihrer Hand. Eine ganze Weile sagten sie kein Wort. Margot musste an ihre Kindheit und an das Gefühl von Geborgenheit denken, das von diesem rechteckigen Sandkasten ausging, der sie vor einer Außenwelt beschützte, an der sie noch nicht teilhatten. Sie machten einen langen Spaziergang, an der starken Strömung des Flusses entlang. Birgit sagte nicht, warum sie geweint hatte. Sie gingen nebeneinanderher, und Margot fand, dass Birgit müde und traurig aussah, was aber nicht am Tod ihres Vaters zu liegen schien. Dafür waren die Augenringe zu tief. Ihr Gespräch verlief einsilbig. Birgit erwähnte nur, dass sie von ihrem Mann geschieden sei und dass ein mühevolles Trennungsjahr hinter ihr liege. Der Tierarzt war ein Säufer gewesen und hatte sie von Beginn ihrer Ehe an betrogen. Sie erzählte, dass sie derzeit als Sekretärin bei einem Anwaltsbüro in Örebro arbeite. Das Gehalt sei in Ordnung, sie könne sich nicht beklagen. Margot wiederum erzählte, dass sie sich um ihr zukünftiges Kind allein kümmern werde. Seinen Vater werde sie niemals heiraten.
Sie gelangten an eine Uferstelle, wo das Hochwasser in jenem Frühjahr ein Weiterkommen unmöglich machte. Als sie dort standen und beobachteten, wie das Wasser über die Steine im Flussbett rauschte und an Wurzeln und Ästen riss, sagte Birgit, dass sie den früheren Kontakt mit Margot gern wiederaufnehmen würde. Sie sah ihr dabei in die Augen und sagte, dass sie ihre beste Freundin sei. Margot fiel es schwer, den Blick zu erwidern, doch sie antwortete leise, sie wolle es versuchen, auch wenn es vielleicht nicht einfach wäre.
Danach waren sie in den Ort zurückgegangen und hatten sich von da an wieder Briefe geschrieben. Margot schickte Fotos von Rubinchen und erzählte, dass sie einen Mann namens Bertil getroffen hatte, der neu in ihrem Ort war.
Einige Tage vor der Elchjagd kam ein Brief von Birgit, in dem sie mitteilte, dass sie vorhabe zu kommen. Sie nannte den Grund nicht, aber Margot glaubte, in ihren Worten einen betrübten Ton zu erkennen. Sie saß mit dem Brief auf dem Sofa, als Bertil vom Schlachthof nach Hause kam. Margot erklärte ihm, dass der Brief von Birgit stammte, jener Birgit, mit der sie seit so vielen Jahren befreundet war. Bertil nickte. Margot und er waren mit Rubinchen einmal an dem Sandkasten beim Genossenschaftsbau vorbeigekommen. Der Holzrahmen war kaputtgegangen, als Bertil sich setzte, und Margot hatte ihm lachend erzählt, dass dies Birgits und ihr Reservat gewesen sei und Birgits toter Vater den Sandkasten für sie gezimmert habe, als sie noch klein waren. Sie hatte Bertil auch die wenigen Fotos gezeigt, die sie von Birgit besaß. Von den vielen Briefen erfuhr er allerdings nichts. Die hatte sie in einem Schuhkarton ganz hinten im Schrank verstaut.
Als Birgit zu Besuch kam, schlief Rubinchen schon. Margot hatte Kaffee und Sandwiches vorbereitet. Ihr Wiedersehen begann dieses Mal völlig anders. Die Vorbehalte, die sie bei früheren Treffen erst nach einigen Tagen auflösen konnten, waren gar nicht erst aufgetreten. Alles war ganz natürlich, als Birgit in der Tür stand, eintrat, zu Rubinchens Bett ging und das Kind lange anschaute. Sie sah sich in der Wohnung um, in der sie zuvor noch nie gewesen war, während Margot auf dem Sofa saß und ihr erzählte, dass Bertil auf Elchjagd war. Sie tranken Kaffee, und Birgit war so hungrig, dass Margot ihr noch weitere Brote machte. Sie unterhielten sich bis weit in die Nacht hinein. Margot hatte das Deckenlicht ausgeschaltet und Kerzen angezündet. Birgit hockte zusammengekauert im Sessel. Sie sah Margot mit ernstem Blick an und erzählte von ihrer Situation in Örebro. Sie komme mit der Arbeit nicht mehr zurecht und habe sich krankschreiben lassen. Sie schlafe schlecht, sei rastlos und nervös. Die Arbeit komme ihr sinnlos vor, und sie fühle sich in der Stadt isoliert. Sie wolle weg von dort und habe beschlossen, hierher zurückzukehren.
»Oder ich gehe ins Ausland«, sagte sie, und Margot sah auf ihre unruhigen Finger, die sie nach einem heimlichen Muster zu verschränken schien.
»Vielleicht kann ich hier am Bezirksgericht eine Stelle bekommen«, fuhr sie fort. »Die Ausbildung, die ich habe, ist recht gut, und meine Qualifikationen sollten ausreichen.« Sie erzählte, dass sie sich auf eine ausgeschriebene Stelle beworben hatte und morgen den Bezirksrichter zu einem Gespräch treffen würde.
An diesem Abend war es vor allem Birgit, die sprach. Erst als Birgit ein paar Tage später erneut zu Besuch kam, war Margot an der Reihe. Rubinchen war auf ihrem Schoß eingeschlafen, und sie brachte sie nicht ins Bett, sondern legte sie in eine Ecke des Sofas und deckte sie zu. Margot erzählte von Bertil. Sie beschrieb, wie sie sich kennengelernt hatten und wie rasch er Rubinchen ein Vater geworden war. Ruhig und bedachtsam redete sie über die Gerüchte, die Bertil umgaben, über seine politischen Überzeugungen, über den Brand im Sägewerk, die Misshandlung und die Probleme, mit denen sie zu kämpfen hatten. Sie berichtete auch, wie verzweifelt sie über ihre unsichere Zukunft war. Wie sollte sie es ertragen, falls die Gerüchte nicht aufhörten? Und wie lange würde Bertil es ertragen? Was passierte, wenn Rubinchen alt genug wäre, um zu verstehen, was man über ihn erzählte? Es dauerte lange, bis sie ein Ende fand. Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, erwähnte Birgit ganz nebenbei, dass sie mit der Stelle am Bezirksgericht rechnen könne und wohl zurückkommen werde. Danach redeten sie weiter über Bertil und die Gerüchte und darüber, wie krankhaft es sei, wenn jeder jeden kenne, weshalb es in abgeschotteten Orten immer zu Hexenjagden gekommen sei. Sie erinnerten einander daran, wie sie sich als kleine Mädchen zu Ostern die Wangen rot angemalt, sich als alte Weiber verkleidet hatten und mit der Kaffeekanne durch ihr Genossenschaftshaus und die angrenzende Nachbarschaft gezogen waren. Sie lachten darüber, und Margot begann zu erzählen, was aus ihren ehemaligen Klassenkameraden und den Lehrerinnen und Lehrern geworden war. Jede Abzweigung, die ihr Gespräch nahm, wurde zu einer eigenen langen Geschichte. Birgit blieb bis zwei Uhr. Dann stand sie auf und ging ins Hotel Engberg. Sie hatten sich dort für den nächsten Tag zum Mittagessen verabredet, bevor Margot in die Konditorei musste. Als Birgit gegangen war, trug Margot Rubinchen ins Bett. Danach zog sie sich aus und legte sich ebenfalls hin. Da sie nicht einschlafen konnte, stand sie bald wieder auf und stellte sich ans Fenster, zog das Rollo vorsichtig ein Stück hoch und schaute auf die Straße. Hier, in diesem Ort und in diesem Augenblick, dachte sie, lag der Mittelpunkt ihres Lebens. Hier nahm alles seinen Anfang, von hier bezog alles seine Kraft. Einen anderen Ausgangspunkt gab es für sie nicht. Die schwarze nachtleere Straße, das schlafende Rubinchen, die Sehnsucht nach Bertil, die Klarheit, nach der sie suchte. All das kam zusammen, während sie mit dem Kettenzug des Rollos in der Hand dastand und hinaussah.
Als Margot am nächsten Tag mit Birgit zu Mittag aß, erfuhr sie, was Birgit in der Nacht noch erlebt hatte. Im Hotel gab es keinen Nachtportier, und Birgit benutzte ihren eigenen Schlüssel für den Haupteingang, als sie kurz nach zwei ankam. Sie ging am leeren Speisesaal vorbei und über die Treppe in den ersten Stock. Auf der Höhe des dunklen Raucherzimmers glaubte sie, Geräusche zu hören. Sie blieb im Flur stehen, um zu lauschen. Nach ungefähr einer Minute war ihr klar, dass in dem Zimmer jemand weinte. Sie schob vorsichtig die Glastüren auf. Im Licht, das vom Flur hineinfiel, sah sie in der finstersten Ecke des Zimmers eine Frau in einem Ledersessel. Die Frau hatte den Kopf auf die Hände gelegt, und Birgit hörte und sah jetzt, wie heftig sie weinte, winselnd wie ein geschlagener Hund. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie hineinging und leise, um die Weinende nicht zu erschrecken, fragte, ob sie helfen könne. Die Frau sah mit geröteten Augen auf. Birgit setzte sich auf einen Stuhl neben sie, legte ihr die Hand auf die Schulter und fragte noch einmal, ob sie etwas für sie tun könne. Die Frau schüttelte nur den Kopf, dann wurde sie von einem neuen Weinkrampf erfasst. Birgit war ratlos und blieb einfach mit der Hand auf der Schulter der Frau sitzen. Es sei so eigenartig gewesen, mit dieser unbekannten weinenden Frau in dem verlassenen Hotel, meinte sie. Als hätte alles andere zu existieren aufgehört. Allmählich waren die Tränen versiegt, die Frau hatte sich im Sessel zurückgelehnt und ausgeatmet, wie jemand, der sich gerade übergeben hatte. Die Tränen begannen zu trocknen und hinterließen schimmernde Spuren in ihrem Gesicht.
Nach einer Weile hatte die Frau ihr den Kopf zugewandt und sie angesehen. Mit krächzender Stimme fragte sie, wer Birgit sei. Birgit sagte ihren Namen und dass sie im Hotel wohne. Die Frau im Sessel schwieg wieder und sprach dann von ihrer Einsamkeit. Ihr Mann sei auf Elchjagd, und sie habe es am Abend nicht mehr ertragen, allein zu Hause zu sitzen, also habe sie sich umgezogen und sei zum Abendessen ins Hotel gegangen. Dabei hatte sie zu viel und zu schnell getrunken, das war sie nicht gewohnt, und es war ihr nicht bekommen. Sie hatte ihre Rechnung bezahlt und war in den ersten Stock gegangen, um sich im dunklen Raucherzimmer noch einen Moment auszuruhen. Hier war sie eingeschlafen, und als sie wieder aufwachte, war niemand mehr da. Das Personal war gegangen, und offenbar waren keine anderen Gäste im Hotel. Sie war durchs Haus geirrt und hatte in dem dunklen Speisesaal plötzlich zu weinen begonnen. Anstatt nach Hause zu gehen, hatte sie sich hier ins Raucherzimmer gesetzt und den Tränen freien Lauf gelassen. Sie sprach ohne Pause. Birgit hatte den Eindruck, in ihrer Verzweiflung habe diese Frau den Mut gefasst, sich ihr anzuvertrauen.
Sie erzählte, sie hätte keine Kinder und sei den ganzen Tag allein zu Hause. Aber sie fühle sich auch einsam, wenn ihr Mann da sei. Sie und ihr Mann hätten keinen Kontakt zueinander. Plötzlich hatte sie traurig gelacht und gemeint, sie verstehe gar nicht, warum sie so panisch geworden sei, sie sei doch seit Jahrzehnten an diese Einsamkeit gewöhnt. Aber auf einmal habe sie den Eindruck gehabt, kein Gesicht mehr zu besitzen. Als sie im Badezimmer in den Spiegel schaute, habe sie gedacht, ihr Gesicht sei zersprungen. Ihre gesamte Identität habe sich aufgelöst, und sie habe Angst vor den eigenen Händen bekommen. In ihrer Verzweiflung sei sie dann ins Hotel gegangen.
Birgit war in dieser Situation ziemlich ratlos gewesen. Die Frau tat ihr leid, und sie schlug ihr vor, sie nach Hause zu begleiten. Doch die Frau schüttelte nur den Kopf. Nach einer Weile stand sie auf, Birgit half ihr in den Mantel und bemerkte dabei, dass die Frau immer noch betrunken war. Als Birgit ihr noch einmal anbot, sie zu begleiten, schüttelte sie erneut den Kopf und tätschelte Birgit mit einem betrübten Lächeln die Wange. Danach war sie die Treppe hinuntergegangen und auf der nächtlichen Straße verschwunden.
Während Birgit all dies erzählte, rannte Rubinchen zwischen den Tischen herum und durfte die Kellnerinnen in die Küche begleiten. Birgit zündete sich eine Zigarette an und meinte, sie habe in der Nacht neben dieser Frau ein merkwürdiges Glück empfunden. Sie konnte es nicht recht erklären.
»Aber muss man denn für alles eine Erklärung haben?«, fragte sie und schaute Margot an. »Reicht es nicht, dass ich glücklich war? Dass ich ihr helfen konnte? Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange es her ist, seit ich so etwas zum letzten Mal empfunden habe. Hier im Ort gehören die Dinge zusammen. Nichts ist so groß, dass man den Überblick verliert. Manchmal glaube ich, dass das nur hier möglich ist, wo ich meine Wurzeln habe. Ich bin ja schon über dreißig. Ich sollte endlich erwachsen genug sein, um einzusehen, dass ich nicht länger davonlaufen kann.«
Sie drückte die Zigarette aus und lächelte Margot an. Sie amüsierten sich über Rubinchen, die im Speisesaal Verstecken spielte. Margot wollte wissen, ob die Frau ihren Namen genannt habe. Birgit verneinte. Auch als sie ihr das Aussehen der Frau beschrieb, fiel Margot nicht ein, um wen es sich handeln könnte. Doch Birgit war sich sicher, dass sie aus dem Ort stammte. Sie schätzte sie auf etwas über fünfzig. Sie war kräftig gebaut und hatte schwarzes, zurückgekämmtes Haar.
Als sie gerade aufbrechen wollten, erinnerte sich Birgit, dass die Frau erwähnt hatte, ihrem Mann gehöre der Eisenwarenladen. Da begriff Margot, dass es um Linnea Enström ging. Birgit merkte Margots plötzliche Irritation. Margot sagte, sie wisse nun, um wen es sich handle, sie kenne diese Frau, ihr Mann sei in Bertils Jagdgruppe. Sie blieben einen Moment stumm sitzen. Margot schien unangenehm berührt, und Birgit stand auf, um Rubinchen einzufangen und ihr den Mantel anzuziehen. Gemeinsam gingen sie zur Konditorei Kronberg, wo sie sich verabschiedeten. Birgit wollte sich den Rest des Tages um Rubinchen kümmern, und Margot übergab ihr die Wohnungsschlüssel. Als Birgit bereits im Gehen war, hielt Margot sie fest und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Birgit strich ihr kurz über den Nacken. Dann gingen sie in unterschiedliche Richtungen davon.
Am Freitag, einen Tag, bevor Bertil von der Jagd zurückkam, reiste Birgit ab. Margot und Rubinchen begleiteten sie zum Nachtzug, der abends um sieben Uhr ging. Sie standen im Rauch der Dampflok und versprachen, einander zu schreiben. Margot würde sich nach einer Wohnung umhören. Birgit wollte an Weihnachten oder in den ersten Januartagen kommen. Margot bot an, dass sie anfangs auch bei ihr wohnen könnte, falls sie keine geeignete Unterkunft fände. Dann stieg Birgit in den Zug, und Margot und Rubinchen machten sich auf den Heimweg. Kurz darauf hörten sie, wie der Zug über die Flussbrücke donnerte. Als Margot im Bett lag, dachte sie, dass mit Birgits Besuch und ihrer geplanten Rückkehr alles leichter geworden war. In gewisser Weise würde sich ein Kreis schließen, wie ein schützender Ring, der Margots Leben zusammenhielt. Was auch immer mit ihr und Bertil geschah, sie wäre nicht allein. Sie würde nicht wie Linnea im dunklen Raucherzimmer des Hotels Engberg sitzen und weinen, war ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen.
Am nächsten Tag hatte sie Spätschicht. Rubinchen war quengelig und widerspenstig. Sie wollte nicht nach draußen zum Spielen, sondern im Bett bleiben. Während einer ihrer Wutanfälle betrat Bertil die Wohnung. Margot hörte ihn erst, als er bereits im Zimmer war. Sie zuckte zusammen, als sie ihn plötzlich im Türrahmen stehen sah. Rubinchen hörte zu weinen auf, und Bertil umarmte sie beide. Er berichtete nur kurz von der Jagd und ging dann noch rasch zum Einkaufen, bevor die Geschäfte schlossen.
Margot kehrte erst gegen ein Uhr zurück. Die Fußballsektion des Gemeindesportvereins hatte die Konditorei für ihr Jahrestreffen gebucht. Als sie heimkam, lag Bertil auf dem Sofa und schlief. Das Radio rauschte. Das Programm war zu Ende, der Apparat zischte nur noch. Margot drehte ihn ab, und Bertil wurde mit einem Schlag wach. Die plattgedrückte Kugel lag auf dem Sofatisch. Margot entdeckte sie, während Bertil auf der Toilette war. Als er wieder ins Zimmer kam, hielt sie sie in der Hand.
»Was ist das hier?«, fragte sie.
Bertil setzte sich neben sie aufs Sofa und legte den Arm um sie.
»Eine Kugel aus einem Gewehr«, sagte er.
Ausführlich erzählte er ihr, was geschehen war. Wie er sich verfolgt gefühlt hatte, welche Angst er gehabt hatte und dass er von seinem Posten aus nach Gesichtern im Wald Ausschau hielt. Und er erzählte von der Kugel, die am fünften Tag im Stamm der Kiefer hinter ihm eingeschlagen war. Dass sie in Augenhöhe eindrang und entweder ein Fehlschuss oder ein meisterhafter Treffer war. Auch von Svante erzählte Bertil und davon, dass auch er eine Kugel in einem Baumstamm gefunden hatte.
»So war das«, endete er.
Margot war verstummt. Sie wollte einfach nicht glauben, dass das, was Bertil ihr da erzählte, wahr sein konnte. Ein Mordversuch? Jemand aus der Jagdgruppe, der versuchte, Bertil und Svante zu erschießen oder zumindest einzuschüchtern? Sie sah, dass Bertil niedergeschlagen war, und merkte, wie eine große Wärme in ihr aufstieg. Sie rückte näher zu ihm und streichelte mit der Hand seine Wange.
»Es sieht also nicht so aus, als ob die Sache ausgestanden wäre«, sagte er nach einer Weile. »Offenbar ist alles beim Alten. Ich bin immer noch der Brandstifter und Kommunist, von dem man denkt, man muss ihn ausrotten. Aber eben das verstehe ich nicht. In der Jagdgruppe sind doch alle Kommunisten, außer Paulus Blomgren natürlich. Der ist aber immerhin Sozialdemokrat. Die teilen zwar nach links härter aus als nach rechts, aber trotzdem.«
»Aber wer kann das denn gewesen sein? War es nur einer? Oder mehrere?«
Bertil schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Man kann das ja eigentlich gar nicht glauben.«
»Das muss angezeigt werden. Du musst am Montag zu Lönngren gehen.«
Bertil schaute sie an und schüttelte erneut den Kopf.
»Lönngren?«, sagte er. »Das kümmert doch Lönngren nicht. Was kann er schon groß machen? Es gibt keine Spuren. Bloß zwei flache Kugeln in zwei Kiefern.«
»Aber was willst du denn tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss darüber nachdenken.«
Am Sonntag fragte Margot, ob sie die Kugel, die noch auf dem Tisch lag, wegwerfen solle, doch Bertil nahm sie und steckte sie in die Hosentasche. Er war unruhig, trat immer wieder ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Als Margot ihn fragte, ob sie nicht spazieren gehen wollten, sagte er, dass er dazu keine Lust habe.
Eines späten Abends, in der Woche nach der Elchjagd, klopfte jemand an Margots und Bertils Tür. Sie waren schon zu Bett gegangen, und Bertil schlich hinaus in die Küche und öffnete. Vor der Tür stand Nils-Erik Erlandsson.
»Tut mir leid, falls ich euch geweckt habe«, sagte er.
»Nein, nein, komm ruhig herein«, sagte Bertil. »Setz dich.«
Er wies auf einen Küchenstuhl.
»Ich gebe nur schnell Margot Bescheid«, sagte er und ging ins Zimmer. Er teilte Margot mit, wer der Besuch war, und zog sich Hemd und Hose an.
Erlandsson war gekommen, um zu erzählen, dass er einen Brief von Svante Eriksson aus Stockholm erhalten habe. Svante hatte ihn gebeten, seine Freunde zu grüßen und vor allem seine Mutter zu informieren. Er wollte auf einem Schiff anheuern. Erlandsson zufolge hatte Svante den Druck nicht mehr ausgehalten. Kommunist hin oder her, auch für ihn gebe es eine Grenze. Seiner Einschätzung nach hätten sich Sozialdemokraten und Bürgerliche zusammengetan, um die Kommunisten auszurotten. Er glaube nicht, dass es in Amerika schlimmer sein könnte. Zunächst habe er überlegt, in den Norden zu gehen und in einer der Erzgruben anzufangen, wo sie den stärksten politischen Rückhalt hätten, aber dann habe er die Seefahrt gewählt. Und er schloss seinen Brief mit dem Satz, der Mensch, den er mittlerweile am meisten bewundere, sei Hilding Hagberg, ihr Parteivorsitzender. In einem PS hatte er noch etwas ergänzt, das Erlandsson nicht recht entziffern konnte. Doch er hielt es für eine Mitteilung an Bertil, etwas in dem Sinne, dass die Kugeln von Blomgren stammten.
Als sich Erlandsson wieder auf den Weg machte, fragte er, ob Bertil sich einen Reim auf diese Bemerkung machen könne, aber Bertil schüttelte den Kopf. Er habe keine Lust gehabt, Erlandsson von dem Vorfall zu erzählen, sagte er später im Bett zu Margot. Erlandsson hatte seiner Aussage zufolge auch Svantes Mutter aufgesucht, die sich über die Nachricht gefreut hatte. Svante, meinte sie, wäre bestimmt in nicht allzu langer Zeit wieder hier. Im Frühling, wiederholte sie ein ums andere Mal.
Sie lagen noch lange wach und redeten miteinander. Bertil kündigte an, dass er am nächsten Tag Enström besuchen wolle und dass Erlandsson ebenfalls komme. Auf Margots Frage, wie denn Harpo zu all dem stehe, erwiderte er, Harpo halte sich da heraus. Die Tatsache, dass Svante in dem Brief Paulus Blomgren beschuldigte, kommentierte Bertil nicht, auch wenn Margot an nichts anderes denken konnte.
Zehn Minuten nach sechs klopfte Bertil an die Tür des Eisenwarenladens. Enström sperrte auf, und zusammen gingen sie in das hintere Zimmer, wo Erlandsson bereits saß und an seiner Pfeife zog. Bertil legte den Mantel ab und setzte sich auf den Hocker neben dem Kamin. Enström nahm auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz. Vom Kamin strahlte Wärme aus.
»Du hast schon zu heizen begonnen?«, fragte Bertil.
Enström antwortete mit einem Nicken.
»Mittlerweile fange ich jedes Jahres früher damit an. Ist vermutlich das Alter. Da friert man viel leichter.«
Bertil fand, dass Enström tatsächlich älter aussah. Er hatte Tränensäcke unter den Augen, und die Haut in seinem Gesicht schuppte, als hätte er sie mit einer harten Bürste bearbeitet. Bertil fand auch, dass sich sein Blick verändert hatte. Nicht mehr so direkt wie früher, sondern unruhig hin und her wandernd. Außerdem schien der Schreibtisch ungewöhnlich aufgeräumt. Die Unterlagen waren ordentlich gestapelt und lagen nicht mehr auf einem verrutschten Haufen durcheinander. Der Schreibtisch erinnerte Bertil auf eigenartige Weise an die Eisschmelze auf dem Meer, und er hatte das Enström gegenüber sogar erwähnt, der erst verwundert die Augenbrauen hob und dann lachte, ohne dass Bertil wusste, ob Enström damals den Vergleich eigentlich verstanden hatte.
Erlandssons Stimme unterbrach seinen Gedankengang. Er hatte die Pfeife aus dem Mund genommen und fragte, ob Bertil denn diesen schwer zu entziffernden Kommentar am Ende von Svantes Brief verstehe.
»Paulus«, sagte er. »Die Kugeln? Was meint er damit?«
Enström schaute prüfend zu Bertil hinüber, der plötzlich das Gefühl hatte, dass Enström Bescheid wusste, sich aber nichts anmerken lassen wollte.
»Als Kind hatte ich solche farbigen Tonkugeln zum Werfen«, antwortete Bertil. »Mit denen haben wir gespielt. Meistens Mulde oder Pyramide. Ich habe gesehen, das spielen sie hier auf dem Schulhof immer noch. Und immer noch schummeln die älteren Buben oder nehmen den jüngeren die Pyramide weg. Ich weiß nicht, was Svante genau meint, aber ich nehme an, dass man bei Blomgren im Konsum solche Spielkugeln kaufen kann. Weiß einer von euch, was die heutzutage kosten?«
»Kinderspielzeug?«, sagte Erlandsson. »Das meint er bestimmt nicht.«
»Wenn er Patronen gemeint hätte, dann hätte er wohl Patronen geschrieben«, sagte Enström kurz angebunden.
Bertil schaute ihn überrascht an. Wusste er Bescheid? Aber warum tat er dann so, als hätte er keine Ahnung? Bertil merkte, wie sich etwas in ihm sträubte. Er sah auf einmal keinen Grund mehr, die Sache für sich zu behalten. Er saß hier zwischen zwei Menschen, die mehr sein sollten als seine Freunde, die seine Weltanschauung, seine Moral und seine Ziele teilten. Warum sollte er es ihnen nicht erzählen? Je länger er damit wartete, umso seltsamer würde es erscheinen. Das Elchfleisch war schon zu mehreren Mahlzeiten verarbeitet, und bald hätten alle das Gefühl, die nächste Jagd läge zeitlich näher als die letzte.
»Ich glaube, ich weiß, was er meint«, sagte Bertil schließlich. »Während der Jagd, am letzten Tag, etwa zu der Zeit, als Harpo die Elchkuh schoss, hat auch ein anderer zwei Schüsse abgegeben. Innerhalb einer Stunde. Keiner hat es gehört, jedenfalls hat keiner etwas gesagt. Zwei Schüsse. Einer ging in einen Baum unmittelbar hinter mir, auf meinem Posten. Der andere traf einen Baum in Svantes Nähe. Beide in Augenhöhe. Entweder knapp danebengeschossen oder meisterhaft getroffen. Da wollte uns jemand töten oder einen Schrecken einjagen. Aber warum gerade uns beiden? Warum nicht euch beiden? Oder Harpo und Blomgren? Wer war der Schütze? Oder die Schützen?«
Er holte die plattgedrückte Kugel hervor, wischte die Fusseln ab und legte sie auf den Schreibtisch. Sie hob sich scharf von dem weißen Papier ab. Enström saß reglos da und starrte auf das kleine Stück Metall. Erlandsson nahm die Pfeife aus dem Mund, schaute Bertil ungläubig an und beugte sich dann in seinem Sessel vor, um die Kugel ebenfalls zu betrachten. Der Korbsessel knarzte geräuschvoll, als er sich bewegte.
»Hör doch auf!«, stieß er am Ende hervor. »Was ist denn das für eine Scheißgeschichte?«
Bertil zuckte mit den Schultern.
»Es war, wie ich es sage. Du wolltest eine Erklärung haben. Da hast du die Antwort.«
»Aber warum hast du denn nichts gesagt? Wir sind doch schon über eine Woche wieder zurück.«
»Weiß ich nicht. Wie du dir denken kannst, war das Ganze ziemlich unangenehm.«
Enström war weiß im Gesicht geworden. Er hatte die Lippen zusammengepresst und starrte ununterbrochen auf die flache Kugel.
»Darauf habe ich gewartet«, sagte er leise, fast zischend. »So weit ist es also gekommen.«
»Es muss doch möglich sein herauszufinden, wer das war«, sagte Bertil. »Ich habe hin und her überlegt. Es muss jemand aus der Jagdgruppe gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wer sonst in Frage käme. Es muss sich doch feststellen lassen, aus welchem Gewehr oder welchen Gewehren die Schüsse stammen. Und warum niemand etwas gehört hat. Gibt es für eines dieser Gewehre einen Schalldämpfer? Für welches? Das muss man doch testen können. Ich glaube, man nennt das ballistische Prüfung. Man muss doch herausfinden können, wer dieser Jemand ist. Wir müssen Lönngren dazu bewegen, etwas zu unternehmen. Der, der geschossen hat, war sich offenbar sicher, dass niemand etwas unternehmen würde. Es wäre doch falsch, politisch falsch, da nicht nachzuforschen.«
Bertil merkte, dass er die Hürde genommen hatte. Er war jetzt nicht mehr allein. Jetzt zog er seine Freunde zu Hilfe.
»Oder etwa nicht?«, fügte er hinzu.
Erlandsson ließ ein Streichholz aufflammen und zündete sich damit die Pfeife an. Enström starrte auf den Tisch.
»Wer ist es gewesen?«, fragte Enström.
»Blomgren«, antwortete Bertil. »Wissen tu ich’s nicht, ich kann es ja nicht beweisen. Aber wenn ich mich selbst, Svante, euch beide und Harpo wegrechne, bleibt, wie man die Sache auch dreht, nur mehr einer übrig. Paulus Blomgren, Leiter der Konsumfiliale. Und Sozialdemokrat. Genauer gesagt also politischer Feind. Das werden wir Lönngren so nicht sagen. Wir werden einfach Anzeige erstatten, erzählen, was passiert ist, und ihm diese Kugel geben. Ist ja seine Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden.«
»Aber warum hat er es getan?«
Bertil wusste nicht, was er antworten sollte. Er hoffte, dass einer der beiden anderen etwas sagen würde. Als ihn die Situation plötzlich an die Zeitungsartikel über das Lager und die Zeit nach dem Brand erinnerte, wurde ihm unwohl. Wenn es wichtig war, sich zu Wort zu melden, hielten immer alle den Mund.
Auch jetzt sprach niemand. Wieder war es Bertil, der das Schweigen brach.
»Enström«, sagte er. »Erlandsson. Wie steht es um die Partei? In unserem Bezirk, meine ich. Wie viele sind wir noch? Sieben? Acht? Mehr keinesfalls. Von uns dreien und Svante abgesehen, noch zwei, drei weitere. In einer Bezirksorganisation, die noch vor ein paar Jahren hundertfünfzig Mitglieder hatte. Hätte man Svante und mir den Schädel weggeschossen, wären es nur mehr fünf oder sechs. Und zu den Versammlungen wärt nur ihr zwei gekommen. Zwei! Das wäre wirklich ein Witz, und das ist es auch jetzt vermutlich schon. Wer tritt einer Bezirksgruppe bei, die zwei aktive Mitglieder hat. Würde ich das tun? Einer von euch? Wenn ich wirklich etwas erreichen wollte, würde ich dann glauben, meine Ziele mit einer Partei zu verwirklichen, die zwei Mitglieder hat? Ich glaube nicht! Wie kommt es, dass die Partei so geschrumpft ist? Woher diese Agonie? Wir kennen die Ursache. Wir können auch Hatz dazu sagen. US-amerikanische Einflüsse. Und vor allem liegt es an den Sozialdemokraten, die die Partei ständig attackieren. Die Sozis wollen uns ausrotten. Ihr Kampf gilt nicht den Bürgerlichen, da führt man nur hin und wieder kleinere Scharmützel. Zum Spaß. Aber gegen uns kämpfen sie mit vollem Ernst. Blomgren oder irgendein anderer, wer, ist mir scheißegal. Hier geht es um Parteimord, nicht darum, uns den Kopf wegzublasen. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Bezirksgruppe untergeht, müssen wir zurückschlagen. Auch wenn wir nur so wenige sind. Es geht darum, einen Mörder zu finden, der Kommunisten jagt und keine Elche. So müssen wir das sehen. Das müssen wir bei Lönngren anzeigen. Klar, dass er steht, wo er steht. Aber er kann sich nicht einfach vor seiner Arbeit drücken.«
Bertil schwieg einen Augenblick, ehe er weitersprach. Sein Mund fühlte sich trocken an, und er merkte, wie er schwitzte.
»Beim Fahrradbotendienst in Stockholm habe ich gehört, dass man an abgelegenen Orten, auf den Schären oder in den Wäldern, früher das Leben der Alten und Schwachen dadurch beendete, dass man einen Nagel kappte und ihnen den Stift in den Schädel trieb. Das blutete nicht, und die Wunde oder Einschlagstelle war so klein, dass man es kaum sah. Und niemand kam auf die Idee, einen alten Menschen zu obduzieren, der ohnehin bald gestorben wäre. Als es hier im Ort darum ging, einen Brandstifter zu finden, war das ähnlich. Die Gerüchte galten nicht in erster Linie mir persönlich. Sie richten sich gegen unsere Partei. Das dürfen wir nicht vergessen. Auch wenn alles dafür spricht, dass Rader das Feuer selbst gelegt hat, die Schuldigen sind immer die Kommunisten. Nicht ich, sondern wir. Ganz selbstverständlich. Und nicht schlecht ausgedacht. Vor knapp zwanzig Jahren hat in Deutschland der Reichstag gebrannt. Das Feuer hatte die SS gelegt und es dann den Kommunisten in die Schuhe geschoben. Zwischen einem Sägewerk und einem Reichstagsgebäude besteht kein riesiger Unterschied, auch wenn auf den Brand hier kein Weltkrieg folgt. Die Art des Vorgehens ist dieselbe. Um uns herum wollen die Sozialdemokraten ihr Volksheim bauen. Sie kleiden sich rot, aber dahinter leuchtet es blau. Das wird ihnen natürlich nicht gelingen. Aber es wird lange dauern, bis das Kartenhaus einstürzt. Sie werden jahrelang daran herumflicken. Wer sagt denn laut, dass das Volksheim ein einziger Bluff ist? Wir! Sonst niemand. Und wenn unsichtbare Nägel in die Schädel zu schlagen nicht reicht, greift man zur sichtbaren Gewalt. Ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine.«
Enström stand auf, um das Fenster einen Spalt zu öffnen. Im Zimmer war es warm und verraucht. Erlandsson saß da und schaute seine erloschene Pfeife an. Bertil hatte ein heftiges Verlangen zu rauchen. Es war nun bald ein Jahr her, seit er es aufgegeben hatte.
»Der größere Teil unserer Bezirkspartei ist praktisch hier versammelt«, sagte er und lachte leise. Zugleich schüttelte er den Kopf.
»Ich muss nachdenken«, sagte Enström. »Das geht mir alles zu schnell. Ich begreife es nicht. Ich muss nachdenken.«
Erlandsson nickte.
»Bloß nicht zu lange«, sagte Bertil.
»Ich begreife einfach nicht, warum Svante wegwollte«, sagte Enström.
»Das verstehst du nicht?«, fragte Bertil.
»Nein. Du vielleicht?«
»Ja. Er hatte wohl Angst. Ganz einfach. Ich fürchte mich auch. Und dir würde es genauso gehen. Grüble also nicht zu lange.«
Bevor sie sich an diesem Abend trennten, beschlossen sie zwei Dinge. Sie würden sich zwei Tage später wiedersehen, um noch einmal über die abgegebenen Schüsse zu reden, und sie wollten für Montag in drei Wochen eine ordentliche Parteisitzung einberufen.
Als Bertil am nächsten Tag in den Schlachthof der Genossenschaft kam, erwartete ihn ein Brief. Bojan rief ihm durchs Fenster etwas nach und wedelte dabei mit einem braunen Kuvert. Es stand kein Absender darauf, und Bertil öffnete es erst in der Mittagspause. Er setzte sich im Heizraum auf eine ausrangierte Bank, aß sein Vesperbrot, wischte sich die Hände ab und öffnete den Umschlag. Er hatte bereits am Poststempel gesehen, dass der Brief aus Stockholm kam, und ihm war klar, dass er von Svante sein musste. So war es auch. Er las den langen Brief zwei Mal hintereinander. Wenn dieser Brief bei Bertil einträfe, schrieb Svante, habe er bereits als Jungmann auf einem der Eisenerztanker aus der Grängesbergsflotte angemustert. Der Tanker nehme Kurs auf Gent und weiter nach Narvik. Die anderen Stationen kenne er nicht. Er sitze bereits in der Kajüte, mit Ausblick auf die Brücke nach Lidingö. Svante beschrieb die Angst, die er empfand, das Gefühl, feig gehandelt zu haben, weil er sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Aber er habe es einfach nicht mehr ausgehalten, jetzt im Moment, habe Zeit gebraucht und allein sein wollen, um zu sich selbst zu finden. Für ihn sei es so, als hätte die Kugel, die in den Kiefernstamm ging, ihn tatsächlich getroffen. Er könne nicht schlafen und leide unter ständigen Kopfschmerzen. Seine Abreise sei nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung gewesen. Er habe die Gründe, heimlich, hinter dem Rücken seiner Mutter zu verschwinden, selbst nicht richtig verstanden. Es sei ihm so vorgekommen, als wäre er von sich selbst gekidnappt worden. Eine bessere Formulierung finde er dafür nicht. In seinen Gedanken sei er hin- und hergerissen. Er zweifle an jedem Wort, das er hier schreibe, zwei Briefe habe er bereits zerrissen. Am Ende des vierten und letzten Blatts schrieb er, dass er sich vor seiner eigenen neuen, unbegreiflichen Angst fürchte. Aber er werde nicht zurückkommen, bevor er nicht herausgefunden hätte, was ihm so zusetzte. Er habe geträumt, seine Haut sei zu eng für seinen Körper, etwas wolle aus ihm heraus, sich einen Weg sprengen, wie man einen Tunnel in einen Berg sprengt. Schweißgebadet sei er aufgewacht. Er bat Bertil, seine Mutter zu besuchen und sie von ihm zu grüßen, den Brief aber für sich zu behalten. Falls Bertil wolle, könne er ihm an die Büroadresse der Reederei in Stockholm schreiben. Abschließend entschuldigte er sich dafür, dass der Brief so verworren sei, aber er wolle diesen letzten nicht auch zerreißen.
Den Rest des Tages stand Bertil an seiner Arbeitsbank und zerteilte die Rücken der frisch geschlachteten Schweine mit einem Beil, das sich ungewohnt schwer anfühlte. Er schnitt sich an einem spitzen Knochen und musste sein Handgelenk bandagieren.
In Gedanken versetzte er sich in seine Zeit bei dem Stockholmer Fahrradbotendienst zurück. Er dachte darüber nach, was geschehen wäre, wenn er sich damals nicht den Knöchel verstaucht hätte und nicht im Wartezimmer eines Arztes beim Durchblättern der Zeitschriften auf die Idee gekommen wäre, sich eine Stelle in der Holzverarbeitung zu suchen. Aber in seinem Kopf gab es keine Alternativen. Aus diesem Wartezimmer führte der Weg nirgendwohin außer in diesen Ort, zu dem gestohlenen Rucksack und einem Sägewerk, das eines Morgens als rauchende, stinkende Brandruine vor ihm lag.
Am Abend ging er ins Kino, um 12 Uhr mittags zu sehen. Der Kinosaal im Gemeindehaus war beinahe vollbesetzt, und er hatte einen schlechten Platz weit hinten. Die Bänke knarzten, und die Tonspur schien nicht synchron zu laufen.
Als er nach der Vorführung auf die Straße trat, fühlte sich die laue Luft wie eine Befreiung an. Die letzten Tage waren ungewöhnlich mild gewesen. Obwohl die Straßen trocken waren, knirschte unter seinen Füßen eine dünne Eisschicht. Er machte sich auf den Weg zum Bahnhofskiosk und kaufte eine Abendzeitung und einen Nuss-Schoko-Riegel. Während er die Zeitung in die Tasche steckte, fiel ihm ein, er könnte Svantes Mutter besuchen. Er erinnerte sich, dass Svante irgendwann erwähnt hatte, dass seine Mutter stets lang aufblieb und abends vor acht Uhr gar nicht richtig munter war. Er ging zu dem Kiosk zurück, der eben schließen wollte, und kaufte noch eine kleine Tafel Schokolade, die er ihr mitbringen wollte.
»Du bist das also, Bertil«, sagte sie, griff nach seinem Arm und zog ihn in den dunklen Flur, der nach Naphtalin und alter Kleidung roch.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Bertil. Brita packte seinen Arm wie mit einer Klaue. Er spürte, wie sich ihre Nägel in den Verband an seinem Handgelenk gruben.
»Überhaupt nicht«, sagte sie. »Über Besuch freue ich mich immer. Zum Schlafen und Alleinsein habe ich Zeit genug. Du möchtest doch bestimmt Kaffee. Komm herein. Zieh den Mantel aus und häng ihn auf. Dort, ja. Und jetzt komm.«
Sie redete ohne Unterbrechung und ließ Bertils Arm erst los, als er anfing, sich aus dem Mantel zu schälen. Bertil dachte an ihre letzte Begegnung kurz vor der Elchjagd, als er hier war, um sich von Svante einen Regenmantel zu leihen. Mit Wärme erinnerte er sich daran, wie gut er sich bei ihr aufgehoben fühlte, während Svante so still und verschlossen war. Beim Aufhängen des Mantels fragte er sich kurz, wo Svantes Motorrad wohl stand. Vor dem Haus hatte er es nicht gesehen. Er nahm die Schokolade, setzte sich in einen Ledersessel und überlegte, was alles passiert war, seit er Brita zuletzt gesehen hatte. In diese Gedanken war er so versunken, dass er gar nicht merkte, wie sie mit einem Kaffeetablett hereinkam.
»Alles fertig«, rief sie vergnügt und setzte sich auf einen Stuhl dicht neben ihn. Er überreichte ihr die Schokolade. Sie öffnete die Tafel sofort und bot ihm davon an.
Erst bei der zweiten Tasse erwähnte er, dass er gekommen war, weil er heute einen Brief von Svante erhalten hatte. Er erzählte ihr, dass Svante angeheuert habe und bei welcher Reederei, dass es ihm gutgehe und er sicher bald wieder hier wäre. Bertil spürte einen kleinen Stich, weil er Brita damit vielleicht falsche Hoffnungen machte. Svante hatte ja nur erwähnt, dass er erst zurückkäme, wenn er aus seiner chaotischen Situation herausgefunden hätte, aber keinen Zeitpunkt genannt
»Ja, im Frühling«, sagte Brita. »Das habe ich die ganze Zeit gewusst. Ist schon richtig, dass er sich ein bisschen herumtreibt. Tut ihm sicher gut, eine Weile von hier wegzukommen.«
Brita verblüffte Bertil auch jetzt wieder. An ihr, ihrem Alter, ihrem abgearbeiteten, aber zähen Körper war etwas so Unbekümmertes. Eine Ruhe umgab sie, die auch Bertil erfasste. Langsam ließ sie die Schokoladestücke im Mund schmelzen und trank dann einen Schluck Kaffee. Sie wirkte hellwach, und die Tageszeitungen auf dem Tisch zeigten, mit welch großem Interesse sie das Weltgeschehen verfolgte. Er beschloss, ihr auch die Abendzeitung hierzulassen. Brita erkundigte sich nach verschiedenen Leuten und Ereignissen im Ort, ohne dabei an Klatsch interessiert zu sein. Bertil brachte sie, so gut er konnte, auf den neuesten Stand.
Es war elf, als er sagte, dass er nun aufbrechen müsse. Die Zeit war schnell vergangen, und der viele Kaffee, den er getrunken hatte, stieß ihm sauer auf. Sie hörten gemeinsam die Abendnachrichten, schüttelten beide den Kopf über die neuesten Berichte aus Korea, und erst beim Wetterbericht stand Brita auf und machte das Radio aus. Sie begleitete Bertil auf den Flur hinaus und freute sich sichtlich, als er die Zeitung aus der Manteltasche nahm und sie ihr gab. Als sie ihn fragte, ob er sie schon gelesen hätte, bejahte er.
»Haben wir es nicht gut hier?«, fragte sie, als er schon auf der Treppe war.
»Doch«, sagte er und lächelte. »Das haben wir wirklich.«
Sie wünschten einander eine gute Nacht, und Bertil trat auf den Kiesweg. Er blieb stehen und sah sich in der Dunkelheit nach dem Motorrad um, konnte es aber nirgends entdecken.
Er und Margot kamen gleichzeitig nach Hause. Sie sah müde aus. Es sei ungewöhnlich viel los gewesen, und außerdem hätte etwas an einem Herd nicht funktioniert, erzählte sie. Aber das Trinkgeld an diesem Abend sei gut gewesen, und sie glaube, dass es nun auch für einen neuen Mantel für Rubinchen reichen müsse. Als sie ihn später fragte, ob er etwas von Svante gehört habe, war er so überrascht, dass er bejahte, obwohl er eigentlich vorgehabt hatte, den Brief ihr gegenüber nicht zu erwähnen. Er wollte sie mit seinen Problemen nicht belasten. Er wusste ja, wie sehr sie unter den Gerüchten litt, und wollte sie nicht immer wieder an die Schatten erinnern, die auf seiner Existenz im Ort lagen. Aber jetzt kam er nicht umhin, über den Brief zu reden und in groben Zügen zu erzählen, was Svante geschrieben hatte. Eine Falte erschien auf Margots Stirn, sie kommentierte aber nichts von dem, was Bertil sagte.
»Woran denkst du?«, fragte Bertil.
Margot hielt inne und sah zu Boden, als suche sie dort nach der Antwort.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich mache mir einfach große Sorgen. Geht es dir nicht so? Man denkt ständig, dass irgendwas passieren wird. Es gibt keinen konkreten Hinweis, aber man ist sich trotzdem sicher. So fühlt sich das an. Ich mache mir Sorgen.«
»Und du weißt gar nicht, warum?«
»Nein. Aber es ist ja nicht verwunderlich, dass all die Gerüchte und die Sache mit der Gewehrkugel mir nachgehen. Es wundert mich eher, dass ich nicht noch mehr Angst habe. Hast du mit Enström geredet?«
»Ja. Mit ihm und mit Erlandsson. Morgen Abend treffen wir uns wieder. Ich habe ihnen vorgeschlagen, dass wir zu Lönngren gehen.«
»Gut. Du darfst damit nicht länger warten.«
Margot schaute ihn ernst an, und er begriff, wie sehr sie sich sorgte.
Als Bertil am nächsten Abend in den Eisenwarenladen kam, herrschte Schweigen. Enström saß an seinem überfüllten Schreibtisch, und Erlandsson hockte im Korbsessel neben dem Kamin. Im Raum war es dunkler als sonst, und es dauerte eine Weile, ehe Bertil entdeckte, dass eine der beiden Glühbirnen in der Deckenleuchte kaputt war.
Das Schweigen irritierte ihn. Er hatte den Eindruck, dass sich die beiden von ihm gestört fühlten.
»Also?«, sagte er.
Erlandsson drehte ihm den Kopf zu und schaute ihn an.
»Wie sollen wir jetzt vorgehen?«, fuhr Bertil fort. »Hat einer von euch einen guten Vorschlag?«
»Vorschlag?« Erlandsson fixierte Bertil.
Mit einem Mal fand Bertil die Situation bedrohlich. Eine seltsame Kälte schlug ihm von den beiden Gestalten im Raum entgegen. Er merkte, wie er Angst bekam und sich zugleich über sie ärgerte.
»Es gibt nur eine einzige Frage, die wir klären müssen«, sagte er. »Ob wir gemeinsam handeln wollen oder nicht. Ich weiß nicht, worauf wir eigentlich warten. Und worüber ihr beiden da noch nachdenken müsst. Aber jetzt hattet ihr Zeit dazu. Wie habt ihr es euch also vorgestellt?«
»Warum bist du so wütend?«, fragte Erlandsson.
»Weil ich von all dem genug habe. Wenn man dir ein solches Elend beschert hätte wie mir, glaubst du nicht, dann hättest du auch genug?«
Bertil merkte, dass er dabei war, die Fassung zu verlieren.
Er stand auf, murmelte eine Entschuldigung und ging hinaus in den Verkaufsraum. Neben dem Ladentisch blieb er stehen und starrte auf eine Quittung, die am Boden lag. Aus dem hinteren Zimmer hörte er, wie Erlandsson seine Pfeife auskratzte und sie vorsichtig gegen den Aschenbecher auf dem Schreibtisch schlug. Er fragte sich, ob Erlandsson dabei absichtlich so leise war. Nach ein paar Minuten hatte er sich beruhigt und kehrte zu den beiden zurück. Weder Enström noch Erlandsson schauten ihn an, als er sich wieder auf den Hocker setzte.
»Ja?«, sagte er. »Was machen wir also?«
Keiner antwortete. Bertil hatte plötzlich das Gefühl, er sei ganz allein. Als setzten Enström und Erlandsson alles daran, sich unsichtbar zu machen.
»Morgen gehe ich zu Lönngren«, sagte er.
Enström sah ihn skeptisch an. Erlandsson blickte mit der Pfeife in den Händen zu Boden. Der säuerliche Geruch des Tabaksuds hatte sich im Zimmer ausgebreitet.
»Ich habe gesagt, dass ich morgen zu Lönngren gehe.«
»Hab ich gehört«, sagte Erlandsson unerwartet scharf.
»Ja? Und was sagst du dazu?«
»Was soll ich dazu sagen. Ich verstehe dich.«
»Verstehen? Was heißt das denn, du verstehst mich? Findest du es richtig, oder hast du einen anderen Vorschlag?«
Erlandsson zuckte mit den Schultern.
»Natürlich sollst du zu Lönngren gehen«, sagte er leise.
Bertil fixierte ihn kurz, bevor er sich Enström zuwandte. Er konnte Enströms Gesichtsausdruck nicht deuten. Das Gefühl, allein und isoliert zu sein, wurde immer stärker.
»Was ist mit dir?«, sagte er. »Verstehst du mich auch?«
Enström vermied es, ihn anzusehen.
»Natürlich sollst du zu Lönngren gehen«, sagte dann auch Enström und starrte dabei auf den Schreibtisch. Bertil sah von einem zum anderen. Er hatte zwei gesenkte Schädel mit äußert spärlichem Haarwuchs vor sich. Das wirkte so komisch, dass er sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Erlandsson hob den Kopf.
»Worüber lachst du?«, fragte er.
»Nichts«, sagte Bertil. »Über absolut nichts.«
Er hatte keine Lust, noch länger in dem stickigen Zimmer zu bleiben, und wollte nach draußen. Die beiden waren ihm plötzlich zuwider. Er bückte sich nach seinem Mantel und stand auf.
»Ich komme dann hier vorbei und lasse euch wissen, was Lönngren gesagt hat«, sagte er und zwängte sich in den Mantel. »Und falls nicht, sehen wir uns eben bei der Sitzung.«
In der Mitte des Zimmers blieb er kurz stehen. Erneut sah er die zwei beginnenden Glatzen.
»Adieu also«, sagte er und ging. In der Tür hörte er das Knarzen des Korbsessels.
»Adieu«, hörte er von hinten.
Lönngren kam um halb acht Uhr morgens in sein Büro. Er war erkältet und hatte Halsschmerzen. Als er zum Drehschalter neben der Tür griff, um das Licht anzumachen, bekam er einen Stromschlag. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass die Leitung kaputt war. Er rief bei Mogren an, dem Elektriker, wo man ihm versprach, dass so rasch wie möglich jemand vorbeikommen werde. Erst nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, zog er sich den Mantel aus. Den Schal behielt er um den Hals und dachte kurz daran, auch die Pelzmütze aufzubehalten. Aber schließlich zog er sie doch vom Kopf und warf sie auf einen Stuhl am Fenster. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schnäuzte sich und legte den Handrücken auf die Stirn. Er hatte Fieber. Er griff nach einem schwarzen Aktenordner und schlug ihn auf. Es ging um einen Bericht über einen Einbruch in einer Waldhütte. Er las durch, was Ekblad geschrieben hatte, und unterzeichnete mit seinem Namen. Dann ließ er sich im Stuhl zurückfallen und überlegte, ob es nicht besser wäre, nach Hause zu gehen.
Bertil kam um Viertel nach neun. Er klopfte an und öffnete die Tür. Lönngren sah vom Schreibtisch auf. Anstatt Bertil zum Eintreten aufzufordern, musste er niesen.
»Erkältet?«, fragte Bertil und ging auf den Schreibtisch zu.
Lönngren nickte und deutete auf einen Stuhl.
Ohne lange zu zögern, erzählte Bertil von den beiden Kugeln. Als er fertig war, dachte er, dass an Lönngren keinerlei Reaktion zu erkennen war. Er hatte nur dagesessen, an seinem Schal gezupft und auf die Tischplatte gestarrt. Als Lönngren schließlich Anstalten machte, etwas zu sagen, kam der Elektriker zur Tür herein. Lönngren entschuldigte sich, begrüßte Svedberg, den er kannte, mit einem Nicken, stand auf und erklärte ihm, was geschehen war. Nachdem Svedberg mit der Reparatur begonnen hatte, schlug Lönngren Bertil vor, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Bertil nickte und sagte, er könne aber erst nach der Arbeit wieder vorbeikommen. Er habe sich heute Morgen bereits eine Stunde frei genommen und um mehr Zeit wolle er nicht bitten. Als er durch den Ort zurück in den Schlachthof ging, bedauerte er, dass Lönngren nun einen halben Tag Zeit zum Nachdenken hatte. Es wäre besser gewesen, wenn er sofort hätte reagieren müssen. Im Schlachthof erwartete ihn eine schriftliche Nachricht. Betriebsleiter Asp wollte ihn oben in seinem Büro sehen. Bertil steckte den Zettel in die Tasche und machte sich sofort auf den Weg. Er grüßte Bojan und klopfte an Asps Tür.
Asp teilte Bertil mit, dass seine Vertretungszeit in Kürze zu Ende gehe. Der verletzte Kollege sei wieder genesen und komme bald zurück. Eine Möglichkeit, Bertil zu behalten, sah Asp nicht. Eine Expansion war im Moment nicht geplant, falls aber etwas frei werden sollte, stehe Bertil natürlich an vorderster Stelle. Asp gab Bertil zu verstehen, dass er mit seiner Arbeit zufrieden war, und fragte ihn, ob er ein Zeugnis benötigte. Bertil bejahte achselzuckend. Er könne seinen Platz noch bis zum fünfzehnten Dezember behalten und bekomme seinen Lohn bis inklusive der ersten Januarwoche ausbezahlt. Bertil dankte und stand auf. Asp schüttelte ihm die Hand und sagte, dass es ihm leid tue, Bertil als Mitarbeiter zu verlieren. Bertil war kurz erstaunt, als er bemerkte, dass er Asp das tatsächlich glaubte.
»Das war’s dann also«, sagte er zu Bojan, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Sie nickte und wusste offenbar Bescheid.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht«, sagte Bertil. »Keine Ahnung.«
»Zur Zeit gibt’s wenige offene Stellen.«
»Ja, sieht so aus.«
Als Bertil wieder in Lönngrens Büro kam, hatte dieser den Schal abgenommen. Lönngren eröffnete das Gespräch, sobald Bertil sich gesetzt hatte. An seiner Stimme war nun deutlich zu hören, dass er erkältet war.
»Du behauptest also, dass jemand versucht hat, dich und Svante Eriksson umzubringen?«
»Ja«, sagte Bertil. »Zumindest wollte uns jemand auf eine lebensgefährliche Weise erschrecken.«
»Erschrecken?«
»Ja, wie ich es sage. Es müssen ja keine Fehlschüsse gewesen sein. Es kann sich ja auch um zwei Treffer handeln. Das kann man jedenfalls nicht ausschließen.«
Lönngren nickte, bevor er weiterfragte.
»Wie groß war der Abstand zwischen dir und Svante Eriksson?«
»Vier Kilometer, würde ich meinen. Luftlinie.«
»Luftlinie?«
»Ja, ich weiß nicht, ob da möglicherweise ein Sumpf dazwischenliegt. Ob man also vielleicht einen Umweg gehen muss.«
»Und wie viel Zeit ist zwischen den beiden Schüssen vergangen? Ihr habt sie ja nicht gehört.«
»Fünfzig Minuten, eine Stunde ungefähr.«
»Wie könnt ihr das wissen?«
»Man schaut während der Jagd ja oft nach, wie spät es ist. Das machst du vermutlich auch. Vor allem, wenn es rundherum zu krachen beginnt.«
Lönngren nickte zustimmend. Wenn er jagen war, schaute er oft auf seine Armbanduhr.
»Wie kommt es, dass keiner von euch oder den anderen die Schüsse gehört hat? Die Schüsse, die den Elch trafen, habt ihr doch auch gehört. Nur ein paar Minuten davor.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bertil. »Das ist ja das Komische. Schalldämpfer vielleicht?«
»Möglich, ja. Hatte denn jemand einen Schalldämpfer dabei?«
»Gesehen habe ich keinen.«
»Die beiden Kugeln, glichen die sich?«
»Ja, aber sie sind auf unterschiedliche Weise verformt.«
Lönngren nestelte an der Kugel herum, die Bertil ihm am Morgen dagelassen hatte.
»Ich muss auch mit Svante Eriksson sprechen.«
»Der ist nicht mehr hier.«
»Nein?«
»Er ist weggefahren.«
»Ach ja?«
»Der ist auf See.«
»Auf See?«
»Was passiert ist, hat ihm Angst eingejagt.«
»Hatte er denn einen Grund, Angst zu haben?«
»Was soll das denn heißen?«
»Schon gut. Aber ich müsste ihn ebenfalls befragen.«
»Reicht meine Aussage denn nicht?«
»Doch. Aber reden muss ich schließlich mit allen.«
»Svante wird ja wohl kaum auf mich geschossen haben. Oder ich auf ihn.«
Lönngren antwortete nicht. Er legte die Kugel auf den Tisch, so vorsichtig, als wäre sie aus Glas.
»Wart ihr beide mit einem der anderen übers Kreuz?«
»Nein. Im Gegenteil.«
»Im Gegenteil?«
»Na, du weißt doch, wo wir politisch stehen. Da sind ja nur Freunde dabei.«
Lönngren sagte auch hierzu nichts.
»Mit einer Ausnahme allerdings«, fuhr Bertil fort.
Lönngren schaute auf.
»Ich rede von Paulus Blomgren. Du kennst ihn ja. Aber mit ihm hatten wir keine Probleme, auch wenn man nicht sagen kann, dass wir befreundet sind.«
Lönngren saß eine Weile stumm da und trommelte mit dem Bleistift auf den Tisch. Wie so oft fiel ihm nicht ein, was er noch fragen sollte, und er fühlte sich kränker als noch vor ein paar Stunden.
»Ja, dann wär’s das wohl fürs Erste«, sagte er. »Ich muss der Sache nachgehen und melde mich wieder.«
»Behältst du die Kugel?«
»Ja, das muss ich wohl.«
Bertil nickte und stand auf.
»Ich arbeite im Schlachthof der Genossenschaft«, sagte er. »Eine Zeit lang zumindest noch.«
Als er gerade gehen wollte, stellte Lönngren noch eine Frage.
»Hat Svante Eriksson gesagt, wann er zurückkommen will? Kommt er überhaupt zurück?«
»Nein und ja.«
»Warum ist er weg?«
»Ich weiß auch nicht mehr als das, was ich schon gesagt habe.«
»Warum wollte er ausgerechnet zur See?«
»Keine Ahnung.«
»Na gut, also dann.«
Nachdem Bertil gegangen war, blieb Lönngren sitzen, obwohl er eigentlich hätte nach Hause gehen sollen. Er starrte auf den neuen Schalter, den Svedberg montiert hatte, und der Gedanke, den Strom abdrehen zu müssen, beunruhigte ihn. Der Schlag am Morgen war unangenehm gewesen. Und dann auch noch das hier. Er wusste nicht, was er glauben sollte. Es war ihm zuwider, erneut mit Svante Eriksson und Bertil Kras und den anderen zu tun zu haben. Vor allem mit Enström. Lönngren dachte noch oft daran, wie der ihn bei dem verbrannten Sägewerk zusammengeschlagen hatte. Irgendwie schien es zwischen allem eine Verbindung zu geben. Ihm wäre es eigentlich egal gewesen, wenn man die beiden erschossen hätte. Man hätte es dann einfach als Unfall abtun können, und es hätte keine große Rolle gespielt. Dieser Gedanke erschreckte ihn nicht einmal. Er seufzte, griff nach der Zeitung und schlug die Seite mit dem Schachrätsel des Tages auf. Er riss es heraus und steckte es in die Tasche. Dann stand er auf, zog seinen Mantel an und blieb vor dem Lichtschalter kurz stehen, bevor er ihn mit einer schnellen Bewegung betätigte.
Der Schlag blieb aus.
Als er nach Hause kam, nahm er zwei Aspirin und legte sich mit dicken Socken ins Bett. Er schloss die Augen und schlief kurz danach ein.
In der Nacht wurde er frierend wach. Er spürte, dass sich die Erkältung weiter ausgebreitet hatte. Der Hals fühlte sich geschwollen an. Sein Mund war trocken und das Schlucken beschwerlich. Lönngren drehte sich auf die Seite und starrte auf die braune Tapete. Im Zimmer war es hell, denn er hatte vergessen, das Deckenlicht auszuschalten. Er dachte an die beiden Schüsse, die in den Kiefern stecken geblieben waren. Er strengte sich an, die Sache zu verstehen, und überlegte, wo er anfangen sollte. Widerwillig dachte er, dass es wohl nicht zu vermeiden wäre, mit Enström zu reden. Mit den anderen kam er zurecht, mit Enström jedoch war es schwieriger. Lönngren kauerte sich noch enger zusammen und wünschte sich sonst wohin. Er dachte an den Sommer kurz vor dem Krieg, als er zum ersten und bisher letzten Mal in Stockholm gewesen war. In gewisser Weise war das ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen, ohne dass er es näher hätte erklären können. Nichts war dort zu Ende gegangen oder hatte begonnen. Er kannte einfach zwei Zeitrechnungen, eine vor diesem Sommer und eine danach.
Seine Gedanken kehrten zu Bertil Kras’ Besuch zurück. Er hatte nicht die Kraft, seine Überlegungen in eine geordnete, logische Reihenfolge zu bringen. Er ließ ihnen ihr Eigenleben, so lange es ihnen beliebte. Danach wollte er nur noch schlafen, bis sich das Fieber gelegt hatte und sein Hals nicht mehr geschwollen war.
Er schlief ein und träumte, er wäre gesund.
Als er am nächsten Tag aufwachte, fühlte er sich unverändert schlecht. Zudem war die Erkältung in die Lunge gewandert. Er stand lange im Badezimmer und hustete gelbgrünen Schleim. Danach war er so erschöpft, dass er sich auf die Toilette setzen und sich ausruhen musste. Schließlich ging er in die Küche und sah nach, ob er Tee hatte, fand aber keinen. Er seufzte und machte stattdessen Milch warm. Als er sie getrunken hatte, fühlte er sich etwas besser. Er überlegte kurz, ob er sich wieder hinlegen sollte, beschloss dann aber, zumindest für ein paar Stunden auf die Polizeistation zu gehen. Aus einer Kommode holte er lange Unterhosen und zog sich so warm an, wie er nur konnte. Er suchte nach einer Ursache für seine Erkältung, kam aber nicht darauf, wer ihn angesteckt haben könnte. Auch in den Regen war er nicht geraten. Er fand keine Erklärung und seufzte erneut, als er sich auf den Weg machte. Um nicht ins Schwitzen zu kommen, lief er langsam. Als er eintraf, war Ekblad zurück. Er war wieder einmal auf einer Ermittlungsreise in die abgelegenen Bezirke des Polizeireviers gewesen. Lönngren fand diese vielen Fahrten irritierend. Er war zwar froh, sie nicht selbst machen zu müssen, darum ging es nicht, aber es störte ihn, dass Ekblad mit diesem Beruf so viel besser zurechtkam als er selbst. Ekblad hatte einen Modus gefunden, mit dem er zufrieden schien. Er kam oft in die Berge und schaffte es immer, noch etwas Zeit zum Angeln oder etwas Ähnlichem zu finden. Beim Betreten des Polizeigebäudes hörte Lönngren an Ekblads Pfeifen, dass sein Kollege im Archiv war. Er erkannte die Melodie, die Ekblad pfiff, aber der Titel fiel ihm nicht ein. Er legte seinen Mantel ab und zögerte kurz, bevor er den Lichtschalter betätigte. Er ließ sich ohne Stromschlag drehen. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, öffnete eine Schublade und holte die plattgedrückte Gewehrkugel hervor. Er legte sie vor sich auf den Tisch und dachte nach. Ein paar Minuten später stand er auf, musste niesen und ging ins Archiv, wo Ekblad immer noch saß und vor sich hin pfiff.
»Was für eine Melodie ist das?«, fragte er.
Ekblad blickte hoch.
»Hallo«, sagte er. »Bist du gerade erst gekommen? Was hast du gesagt?«
»Was für eine Melodie pfeifst du da? Ich kenne sie.«
Eklad schaute ihn kurz verwundert an.
»Ach, das meinst du. Ja, weiß der Teufel, wo die her ist. Aus irgendeiner Operette vielleicht?«
»Wenn ich es wüsste, müsste ich ja nicht fragen.«
Lönngren bereute, dass er sich nach der Melodie erkundigt hatte.
»Hast du einen Moment Zeit?«, sagte er.
»Ja, was ist?« Ekblad sah ihn an, während er eine dicke Staubschicht von einem Packen mit vergilbtem Papier blies, der von einem Stoffband zusammengehalten wurde.
»Ich such da nach was«, sagte Ekblad erklärend. »Soll ich mitkommen?«, fügte er hinzu und ließ den Packen fallen.
Lönngren nickte und ging hinaus. Die Erkältung ließ ihn wieder frieren.
In seinem Büro wusste Lönngren plötzlich nicht, was er sagen sollte. Er schnitt eine Grimasse und deutete auf die plattgedrückte Kugel auf der Schreibtischunterlage. Ekblad verstand nicht.
»Was?«, sagte er.
»Sieh dir das an.«
Ekblad nahm das Metallstück mit spitzen Fingern und ließ es dann zurück auf den Schreibtisch fallen. Lönngren schaute ihn finster an.
»Eine Kugel«, sagte Ekblad und konnte sich weiterhin keinen Reim darauf machen.
Lönngren wurde klar, dass er sich zusammenreißen und etwas Vernünftiges sagen musste. Er nahm die Kugel in die Hand und sah wieder zu Ekblad.
»Wurde aus einem Baumstamm geholt, von diesem Bertil Kras, du weißt schon. Er ist hier gewesen und hat gesagt, jemand habe versucht, ihn zu ermorden. Nicht nur ihn übrigens, sondern Svante Eriksson ebenfalls.«
Ekblad starrte ihn misstrauisch an. Er kratzte sich an der Nase, sah kurz auf den Finger und setzte sich dann mit vollem Gewicht auf Lönngrens Schreibtisch.
»Was sagst du da? Jemand soll versucht haben, Svante und diesen Kras kaltzumachen? Wer hätte denn daran Interesse?«
»Genau das wollte Kras auch wissen«, sagte Lönngren.
»Wer war’s also?«
»Weiß ich nicht.«
Lönngren machte sich Vorwürfe, Ekblad in diesem frühen Stadium in die Ermittlungen eingeweiht zu haben. Wäre er doch zu Hause im Bett geblieben.
»Ich werde eine Untersuchung einleiten. Ich möchte, dass du Kras’ gestrige Aussage durchliest.«
Er schob Ekblad zwei Seiten zu. Ekblad begann zu lesen.
»Nimm sie mit und komm am Nachmittag wieder«, sagte Lönngren müde. Er wollte allein sein.
»Soll ich dich in Ruhe lassen?«
Lönngren nickte angestrengt. Ekblad nahm die beiden Seiten und ging hinaus. In der Tür begann er dieselbe Melodie zu pfeifen wie zuvor. Lönngren legte den Kopf in die Hände und überlegte, was zu tun sei.
Da läutete das Telefon. Lönngren nahm den Hörer ab und räusperte sich.
»Lönngren.«
»Paulus Blomgren hier. Hallo.«
Lönngren fuhr vor Schreck zusammen und ließ den Hörer fallen. Er schlug mit lautem Knall auf den Boden. Lönngren griff danach und hielt ihn wieder ans Ohr.
»Entschuldige«, sagte er. »Mir ist gerade der Hörer runtergefallen.«
»Klingt, als wärst du krank?«, sagte Blomgren.
»Nein, bin ich nicht«, sagte Lönngren und fragte sich, warum er log.
»Schnupfen?«
»Nein. Mir ist nur der Hörer runtergefallen.«
»Störe ich?«
»Aber nein.«
»Ich möchte dich gern etwas fragen. Sicher, dass ich nicht störe?«
»Du störst überhaupt nicht.«
Lönngren begann die Geduld zu verlieren. Blomgren konnte einem manchmal wirklich auf die Nerven gehen.
»Ist irgendwas Besonderes vorgefallen?«
»Was meinst du denn? Was ist denn was Besonderes?«
»Na, du weißt schon. Heute war Enström hier und hat eingekauft. Macht er ja fast immer. So weit ist es mit seinem Kommunismus dann doch wieder nicht her.«
Lönngren hörte, wie Blomgren schallend lachte.
»Ja, also, er war hier im Laden. Ich war gerade mit einem neuen Regalsystem beschäftigt, das wir bekommen haben.«
»Ja, und?«
»Er hat dann etwas gesagt, was ich nicht recht begriffen habe. Er hat sich erkundigt, ob du bei uns im Geschäft gewesen bist.«
»Ach so?«
»Ja.«
»Ach so? Was, glaubst du, hat er damit gemeint?«
»Das wollte ich dich fragen.«
»Ach so?«
»Kannst du nichts anderes sagen als ›Ach so?‹«
»Doch. Aber ich verstehe nicht recht, worauf du hinauswillst.«
Lönngren wollte sich schnäuzen und fragte sich, wie lange dieses Gespräch wohl noch dauern werde. Eigentlich hätte er die Ohren spitzen müssen, als er erfuhr, was Blomgren zu sagen hatte. Aber ihm fehlte die Kraft, und er war nun fest entschlossen, sofort heimzugehen, wenn dieses Telefonat beendet war.
»Ich wollte einfach wissen, warum Enström mich gefragt hat, ob du im Laden warst. Irgendwas muss er damit doch gemeint haben. Du kaufst ja nie bei uns ein.«
»Nein.«
»Solltest du übrigens.«
»Ja, das hast du mir schon öfter gesagt. Es liegt für mich aber nicht auf dem Weg.«
»So beschwerlich kann das wohl kaum sein. Ein Umweg von zwei Minuten.«
»Ja, vielleicht. Aber was genau willst du jetzt wissen? Ich habe keine Ahnung, was Enström gemeint haben könnte. Warum hast du ihn nicht gefragt?«
»Ich bin nicht dazu gekommen. Du weißt also nichts?«
Lönngren dachte einen Augenblick nach.
»Kannst du morgen vorbeikommen?«, sagte er dann. »Heute geht es nicht. Ich muss nach Hause. Ich habe Fieber und fühle mich nicht so wohl.«
»Du hast doch gerade gesagt, dass du nicht krank bist.«
»Hab ich das?«
»Ja.«
»Kann schon sein. Was ist jetzt? Kannst du morgen kommen?«
»Ja, lässt sich einrichten. Wann?«
»Nicht zu früh.«
»Um zwölf?«
»Nein. Zehn ist besser.«
»Worum geht’s?«
»Ich möchte dir ein paar Fragen stellen.«
»Ziemlich eigenartig. Ich rufe dich mit einer Frage an. Dazu kannst du nichts sagen, willst mich aber morgen alles Mögliche fragen.«
Lönngren fühlte sich sehr müde. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Eigentlich wollte er nur noch auflegen. Er griff zu einer Notlüge.
»Ich kann im Moment nicht so gut reden.«
»Ach so. Ja, verstehe. Jemand ist bei dir im Zimmer.«
»Ja«, sagte Lönngren mit müder Stimme.
»Dann komm ich eben morgen. Aber denk bis dahin darüber nach, was ich dich gefragt habe. Was Enström gemeint haben könnte. Hast du übrigens gehört, dass Svante Eriksson unter die Seefahrer gegangen ist?«
»Ja«, antwortete Lönngren. »Hab ich schon gehört.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Wie besprochen also?«
»Ja, ich komme morgen. Bis dann.«
»Bis dann.«
Lönngren legte den Hörer auf die Gabel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann stand er auf, sagte Ekblad Bescheid und ging heim.
Am nächsten Tag ging es ihm eine Spur besser, und er aß ein ordentliches Frühstück, ohne dass ihm davon übel wurde. Bereits um acht war er wieder auf der Polizeistation und fest entschlossen, in der Sache der beiden Mordversuche weiterzukommen. Er suchte Ekblad in seinem Zimmer auf und fragte ihn, was er von dem Bericht hielt. Ekblad gab ihm die beiden Seiten zurück und sah ihn skeptisch an.
»Wirkt eigenartig. Wie kann es sein, dass niemand die Schüsse gehört hat?«
»Schalldämpfer.«
»Nein. Glaubst du das?«
»Nein.«
»In meinen Augen sieht das nach einer erfundenen Geschichte aus.«
»Glaub ich nicht.«
»Was glaubst du dann?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Nein, jedenfalls jetzt noch nicht. Aber ich glaube nicht, dass es ein Märchen ist. Nur so ein Gefühl. Dieser Kras scheint nicht zu lügen.«
»Bist du dir da sicher? Vielleicht kannst du ihn jetzt ja wegen dem Sägewerk drankriegen?«
»Er war das nicht.«
»Sicher?«
»Nein.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich werde wohl auch mit den anderen aus dieser Jagdgruppe reden müssen. Paulus Blomgren kommt gleich vorbei. Kannst du dabei sein?«
»Ja, das müsste gehen. Wenn ich danach gleich wegfahren kann. Ich muss nach Insjöbyn.«
»Insjöbyn?«
»Ja. Dort waren Wilderer unterwegs. Ich hab hier eine Anzeige.«
»Ach so.«
»Ich kann also fahren?«
»Aber ja. Fahr ruhig. Wie lange wirst du bleiben?«
»Zwei, drei Tage vielleicht.«
»Gut. Ich sage dir Bescheid, wenn Blomgren hier ist.«
»Ich werd ihn ohnehin hören. Der stampft ja so furchtbar laut auf.«
Lönngren ging zurück in sein Büro. Als er sich bereits gesetzt hatte, fiel ihm ein, dass der Bericht noch in Ekblads Zimmer lag. Doch er ging ihn nicht holen.
Ekblad wird ihn schon mitbringen, dachte er.
Nun ließ sich das, was zu tun war, nicht länger aufschieben. Irgendwo musste die Untersuchung der angeblichen Schüsse schließlich anfangen.
Die Frage war bloß: wo?
Blomgren kam gegen halb elf. Ohne anzuklopfen, betrat er polternd Lönngrens Zimmer und sank keuchend in den Besuchersessel. Er entschuldigte sich für die Verspätung und meinte, dass er es nicht eilig habe. Lönngren schaute ihn an und wusste plötzlich, wie er die Sache anstellen musste. Es gab da nur eine Methode.
Ohne Umschweife zu fragen.
»Hast du auf der Jagd versucht, jemand umzubringen?«
Blomgren öffnete erstaunt den Mund.
»Was soll das denn heißen?«, fragte er.
»Hast du auf jemand aus der Jagdgruppe geschossen? Was für ein Gewehr benutzt du? Hast du dafür einen passenden Schalldämpfer?«
Blomgrens Gesicht war versteinert. Lönngren sah, wie Ekblad zur Tür hereinschlich und lautlos zum Fenster ging. Blomgren zuckte von dem leisen Geräusch zusammen, als Ekblad sich mit einem Bein auf das Fensterbrett setzte.
»Also?«, sagte Lönngren.
Blomgren schien kein Wort herauszubringen. Er schüttelte nur den Kopf.
»Irgendwas wirst du sagen müssen«, meinte Lönngren und warf Ekblad, der mit ausdrucksloser Miene dasaß, einen Blick zu.
Blomgren antwortete schließlich. Er sprach langsam, fast als buchstabiere er die Wörter.
»Was, zum Teufel, wird das hier? Heißt das, du beschuldigst mich, ich hätte versucht, auf der Jagd jemand umzubringen?«
»Nein, ich beschuldige dich nicht. Ich frage bloß. Ich werde die anderen aus eurer Gruppe genau dasselbe fragen.«
Lönngren öffnete die oberste Schreibtischschublade und holte die Kugel heraus. Er legte sie auf den Tisch und gab Blomgren mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle sie sich genauer ansehen.
»Diese Kugel hier«, sagte Lönngren, »hat Bertil Kras auf seinem Posten aus einem Baum geholt. Der Einschlag erfolgte genau auf Augenhöhe. Svante Eriksson hat ebenfalls so eine Kugel aus einem Stamm gekratzt. Die habe ich zwar noch nicht gesehen, aber bis auf weiteres gehe ich davon aus, dass das stimmt.«
Er putzte sich die Nase, ehe er fortfuhr.
»Jetzt will ich herausfinden, wer geschossen hat«, sagte er. »Unangenehme Sache. Hast du etwas dazu zu sagen?«
Blomgren schüttelte wortlos den Kopf.
»Gar nichts?«
Mit der nächsten Frage wartete Lönngren kurz ab. Etwas war ihm eingefallen. Aber er entschied sich, es vorerst dabei bewenden zu lassen.
»Paulus«, sagte er. »Du hast gestern angerufen, weil Enström etwas Eigenartiges zu dir gesagt hat. Er wollte wissen, ob ich bei dir im Laden war. Nicht wahr?«
Als Antwort bekam er ein angedeutetes Nicken.
»Er hat also dasselbe gesagt, was ich eben sagte?«
Blomgren nickte. Ekblad setzte sich im Fenster auf die andere Seite.
»Was, glaubst du, kann er damit gemeint haben? Ich will wissen, was du glaubst.«
»Ich weiß es nicht. Ich habe absolut keine Ahnung.«
Lönngren schaute ihn einen Augenblick an.
»Ich werde mir wohl das Gewehr ansehen müssen, das du auf der Jagd benutzt hast. Die von allen anderen auch. Du kannst es mir morgen hierherbringen. Morgen reicht.«
Blomgren richtete sich im Sessel auf.
»Kann ich jetzt gehen?«
Lönngren nickte. Er hatte eigentlich das Bedürfnis, noch etwas zu sagen. Es fühlte sich ungewohnt und völlig falsch an, mit Blomgren auf diese Weise zu reden. Es war ihm so unangenehm, dass die Hand, in der er den Bleistift hielt, zu zittern begann. Er spürte, wie das Hemd auf seiner Brust klebte, und er wünschte insgeheim, ganz woanders zu sein und sich mit ganz anderen Dingen zu befassen. Aber er sagte nichts weiter, sondern sah nur zu, wie Blomgren seinen massigen Körper aus dem Sessel stemmte und zur Tür ging.
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt auf Wiedersehen sagen soll«, meinte Blomgren, als er die große, fleischige Hand auf die Klinke legte. Dann trat er hinaus und ließ die Tür krachend ins Schloss fallen. Lönngren lauschte dem Knall hinterher und schwieg. Ekblad stand noch eine Weile am Fenster und schaute hinaus.
»Mist«, sagte er nur, als er sich wieder umgedreht hatte und einige Schritte in den Raum machte.
»Was für ein Mist«, sagte er noch einmal.
»Wenn dir nichts anderes dazu einfällt, kannst du genauso gut dein verdammtes Maul halten.«
Lönngren und Ekblad waren gleichermaßen überrascht. Es kam äußerst selten vor, dass Lönngren fluchte, so selten, dass es jedes Mal ein kleines Ereignis war. Als Ekblad eben Anstalten machte, sich zu Wort zu melden, wusste Lönngren auf einmal genau, was zu tun war. Er stand entschlossen auf, stützte die Hände auf der Schreibtischplatte ab und fixierte mit seinem Blick Ekblad.
»Also«, begann er. »Wir müssen die Gewehre einsammeln und untersuchen. Es wäre am besten, wenn du das noch am Vormittag erledigst. Bring auch das von Bertil Kras mit. Alle zusammen. Außer dem von Paulus natürlich. Der wollte es ja morgen selbst vorbeibringen.«
Er machte eine kurze Pause.
»Und das wird er auch tun«, fügte er hinzu und ließ sich geräuschvoll in den Stuhl fallen.
»Irgendwelche Fragen?«, sagte er dann noch und biss auf den Bleistiftstummel. Ekblad schüttelte den Kopf.
»Nein«, antwortete er. »Alles sonnenklar.« Im Hinausgehen schloss er vorsichtig die Tür. Lönngren hörte, wie sich Ekblads Schritte auf dem schmalen Korridor langsam entfernten.
Zum ersten Mal seit langem spürte Lönngren ansatzweise, dass er zufrieden war.
Zufrieden damit, was er getan hatte.
Am nächsten Tag um halb eins lagen sechs Gewehre auf Lönngrens Schreibtisch. Er hob eins nach dem anderen hoch, während ihn Ekblad informierte, welches Gewehr wem gehörte. Blomgren hatte seines früh am Morgen gebracht, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte Lönngren die Hülle mit dem Gewehr in die Hand gedrückt, sich dann schnell umgedreht und war wieder gegangen. Und nun waren auch die Waffen der anderen hier versammelt.
»Was wirst du jetzt machen?«, fragte Ekblad zögerlich.
»Was würdest du tun?«, erwiderte Lönngren.
»Herausfinden, aus welcher Waffe die Kugeln stammen, natürlich.«
Lönngren nickte.
»Genau damit werde ich jetzt beginnen«, sagte er. »Du bleibst hier im Büro, dann kann ich mich auf den Weg machen.«
Ekblad sah auf die Uhr.
»Enströms Laden hat jetzt sicher Mittagspause«, antwortete er. »Falls du dorthin willst.«
Lönngren nickte.
»Dann warte ich eben«, sagte er. »Aber nach dem Mittagessen musst du hier eine Weile die Stellung halten.«
Als Lönngren in die Eisenwarenhandlung kam, legte Enström gerade Batterien in eine Stablampe ein. Er nickte Lönngren zu.
»Was ist?«, fragte er. »Brauchst du noch mehr Gewehre?«
»Nein«, antwortete Lönngren. »Aber Munition. Ich nehme an, du weißt, womit deine Jagdkollegen schießen. Oder etwa nicht?«
Enström nickte und legte die Taschenlampe auf die Theke. Er ging in das hintere Zimmer und kam mit drei verschiedenen Schachteln zurück.
»Hier«, sagte er. »Das ist alles, was bei uns verwendet wird.«
»Keine anderen Typen?«
Enström schüttelte den Kopf.
»Kann ich die Schachteln mitnehmen? Höchstens für zwei, drei Tage.«
»Sicher.«
»Soll ich es dir schriftlich bestätigen?«
»Ist das bei der Polizei denn nötig?«
»Natürlich nicht.«
Lönngren nahm die Schachteln und ging. Als er sich dem Polizeigebäude näherte, sah er, dass Ekblad am Fenster seines Büros stand und auf die Straße starrte.
Warum glotzt der bloß so, dachte Lönngren. Er ging in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und bemühte sich, die Deckel von den Munitionsschachteln runterzubekommen. Dann war er eine Weile damit beschäftigt, die Patronen nach Kaliber zu sortieren und jeweils neben das richtige Gewehr zu legen. Schließlich lehnte er sich zurück und betrachtete sein Arrangement. Die Waffen hatte er so platziert, dass alle Läufe auf ihn zeigten. Danach ging Lönngren zu Ekblad, um ihm mitzuteilen, dass er ungefähr eine Stunde wegmüsse, und lieh sich das lange Mora-Messer aus Ekblads Schreibtischschublade. Eigentlich handelte es sich dabei um altes Beweismaterial, das ins Archiv des Bezirksgerichts gehörte, aber Ekblad war es irgendwie gelungen, sich das Messer heimlich zu beschaffen. Es war mittlerweile sein bevorzugtes Werkzeug, um Fische auszunehmen.
Lönngren ging auf den Hof und verstaute die Gewehre auf dem Rücksitz seines Autos. Dann verließ er den Ort Richtung Norden. Nach etwa zehn Kilometern bog er in einen knorrigen Waldweg, den er mit dem Auto entlangschaukelte. Er hielt neben dem Wurzelballen einer umgestürzten Kiefer, die den Weg blockierte. Als er ausstieg, ärgerte er sich, dass er keine Stiefel mitgenommen hatte. Er packte die Gewehre auf den Rücken, kletterte über die Kiefer und erreichte nach wenigen Metern den örtlichen Schießstand, der nichts anderes war als ein gerodetes Stück Wald. Im Krieg hatte häufig die Heimwehr hier trainiert. Mittlerweile wurde der Platz fast nur noch vom Schützenverein verwendet. Lönngren wählte eine dicke Kiefer am Rand des Schussfelds. Er legte die Gewehre ab und lud das erste. Zwanzig Meter von der Kiefer entfernt bezog er Position und feuerte einen Schuss ab, der in den Baum einschlug. Der Rückstoß traf ihn hart an der Schulter, und er verzog das Gesicht, als er zu dem Stamm ging und begann, die tiefsitzende Kugel herauszuschneiden. Doch Ekblads Mora-Messer funktionierte einwandfrei, und bald hatte er die plattgedrückte Kugel freigelegt. Er nahm ein Kuvert aus der Manteltasche, legte die Kugel hinein und schrieb einen Namen auf die Vorderseite. Danach wiederholte er die Prozedur so oft, bis er mit allen sechs Gewehren jeden Munitionstyp abgefeuert hatte. Von der Menge an Kuverts wölbten sich seine Manteltaschen nach außen. Er merkte, dass er fror. Eine Weile sah er einer großen Elster zu, die auf einem Baumwipfel saß. Als er vor Kälte zu zittern begann, ging er zum Auto. Auf der Fahrt zurück zur Polizeistation spürte er, wie die Spannung in seinem Körper langsam stieg. In der Küche kochte er Kaffee, setzte sich dann in sein Büro und nahm sich ein Kuvert nach dem anderen vor, bis er sämtliche Kugeln mit der von Bertil Kras verglichen hatte. Er brachte Ekblad das Messer zurück und erkundigte sich, wo die Lupe sei. Ekblad schaute ihn neugierig an, aber Lönngren zog es vor, nichts zu sagen.
Um halb fünf war er mit seiner Untersuchung fertig. Er blieb lange reglos sitzen. Es war bereits nach sechs, als er schließlich Gewehre und Kugeln in das brandsichere Archiv sperrte. Den Schlüssel nahm er an sich, statt ihn wie sonst auf den Haken unter der Schreibtischplatte zu hängen. Obwohl er die Polizeistation sorgfältig abgeschlossen hatte und bereits auf dem Bürgersteig stand, ging er noch einmal zurück und prüfte, ob die Tür tatsächlich verschlossen war. Er nahm den kürzesten Weg ins Hotel Engberg, wo er zu Abend aß und danach mehrere Gläser Kognak bestellte. Gegen zehn ging er nach Hause, machte Kaffee und setzte sich aufs Bett. Erst nach ein Uhr zog er sich aus, wusch Gesicht und Hände, putzte nachlässig seine Zähne und legte sich hin. Die Nachttischlampe ließ er brennen, nahm aber kein Buch mehr zur Hand.
Als er am nächsten Morgen wach wurde, wusste er, dass etwas bevorstand. Er konnte nicht sagen, ob es sich um etwas besonders Schreckliches handelte oder um etwas, das einfach bloß unangenehm war.
Bertil Kras tauchte bereits um Viertel vor neun auf. Lönngren hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt, Gewehre und Munition wieder aus der Brandkammer zu holen. Es irritierte ihn, dass Bertil so früh dran war.
Sie begrüßten sich kurz. Bertil setzte sich, nahm Mütze und Schal ab und legte sie auf seinen Schoß.
»Irgendwas herausgefunden?«, fragte er.
Lönngren beobachtete ihn einen Moment. Dann antwortete er.
»Die Untersuchung ist abgeschlossen.«
Bertil erstarrte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ach ja?«, kam es schließlich aus seinem Mund. Seine Stimme überschlug sich. Während er sich räusperte, fing Lönngren zu sprechen an.
»Ja. Ist beendet. Ich habe sämtliche Gewehre untersucht und mit jedem einen Probeschuss abgegeben.«
»Und?«
Bertil spürte, wie sein Herz schneller schlug.
»Was ist dabei herausgekommen?«, hakte er nach, als Lönngren nichts sagte.
»Es hat sich gezeigt, dass die Kugel, die ich von dir bekommen habe, aus keinem der Gewehre eurer Jagdgruppe stammt.«
Lönngren schaute Bertil gespannt an und konnte kaum verhehlen, dass er auf seine Reaktion neugierig war.
»Das kann nicht sein«, sagte Bertil.
»Leider. Oder zum Glück, sollte ich vielleicht sagen. Alles, was sich untersuchen lässt, habe ich getan. Ich hatte sämtliche Gewehre hier bei mir, habe damit geschossen und die Kugeln dann mit deiner verglichen. Es ist nirgendwo die kleinste Übereinstimmung zu finden.«
Bertil saß schweigend da. Er suchte verzweifelt nach einer Erklärung.
»Hast du die Gewehre nach wie vor hier?«, fragte er schließlich.
»Ja, im Archiv. Warum?«
»Kann ich sie sehen?«
»Sicher.«
Lönngren stand auf, und als er eben unter dem Schreibtisch nach dem Schlüssel greifen wollte, fiel ihm ein, dass er ihn in der Tasche hatte. Er sperrte auf, holte die Gewehre und legte sie vor Bertil auf den Tisch. Dann setzte er sich wieder in seinen Stuhl. Er beobachtete Bertils Gesichtsausdruck, der den Blick von einem Gewehr zum nächsten wandern ließ. Nach einer Weile hob Bertil langsam den Kopf und blickte Lönngren direkt an.
»Hast du genug gesehen?«
Bertil nickte. Dann fing er an.
»Da ist nur eine Sache.«
»Und zwar?«
»Ich glaube dir nicht.«
»Nein?«
»Ich glaube dieser Untersuchung nicht. Jemand hat auf Svante und auf mich geschossen. Ich glaube, du lügst.«
»Du solltest dich in Acht nehmen, bevor du einem Polizisten vorwirfst, er würde nicht die Wahrheit sagen. Meine Untersuchung ist abgeschlossen. Du hast gehört, was ich gesagt habe.«
Bertil spürte, wie sich in ihm eine merkwürdige Sicherheit breitmachte. Als hätte er endlich einen Faden gefunden, der stark genug war, um daran ziehen zu können. Er stand auf und begann den Mantel zuzuknöpfen.
»Ich bin mir sicher, du weißt, wer geschossen hat, Lönngren«, sagte er. »Dir ist klar, wen du mit deiner Behauptung schützt, die Untersuchung sei ergebnislos verlaufen. Du weißt ganz genau, was du da tust. Aber diesmal kommst du nicht damit durch.«
»Drohst du mir etwa?«
»Nenn es, wie du willst. Diesmal wird die Wahrheit herauskommen.«
Bertil setzte die Mütze auf. Er hatte es plötzlich eilig. Wortlos verließ er den Raum. Als Lönngren die Eingangstür ins Schloss fallen hörte, stand er auf und ging zu Ekblad hinüber.
»Kannst du einen Moment zu mir kommen?«, fragte er.
Ekblad nickte und folgte ihm. Er sah Lönngren neugierig an.
»War das Bertil Kras, der eben hier war?«
»Ja. Die Untersuchung ist abgeschlossen. Kam nichts heraus. Alles negativ. Die Kugel stammt aus keinem der Gewehre.«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich.«
Lönngren hatte den Eindruck, dass Ekblad enttäuscht war. Das irritierte ihn. Bertils Worte hallten immer noch nach.
»Kannst du die Gewehre nehmen und zurückbringen?«
»Klar.«
»Und gib Enström auch diese Patronenschachteln und bezahl, was wir ihm schulden. Vergiss aber die Quittung nicht.«
»Die werden wohl alle was von mir wissen wollen.«
»Dann sag einfach, wie es ist. Dass wir die Untersuchung abgeschlossen haben und nichts dabei herausgekommen ist.«
Ekblad nickte und begann, sich die Gewehre über die Schultern zu hängen. Er steckte die Munitionsschachteln in die Taschen und wollte gerade gehen, als Lönngren ihn aufhielt.
»Findest du, dass es hier drinnen kalt ist?«
»Nein. Nicht besonders. Frierst du?«
»Nein. Ich habe mir bloß eingebildet, dass es zieht. Du machst dich jetzt besser auf den Weg.«
Als Lönngren wieder allein war, fragte er sich, was Bertil Kras nun vorhatte. Er fragte sich auch, ob sie sich hier in diesem Büro noch einmal treffen würden. Sein Gefühl sagte ihm, dies werde wohl leider der Fall sein. Er war hungrig und schaute auf die Uhr. Bis zum Mittagessen war es noch lange hin, aber da er keine Ruhe fand, entschied er, früher als sonst aufzubrechen. Außerdem wollte er nicht mehr über die Sache nachdenken. Die Untersuchung war abgeschlossen, und er hoffte, sich weitere Scherereien zu ersparen. Der Bericht, den er bereits verfasst hatte, konnte im Archiv verschwinden. Er ging hinaus und merkte, dass er vor allem einen Kaffee brauchte. Auf dem Weg ins Hotel tauchte vor ihm das Bild auf, wie er mit einem Gewehr in einer riesigen Tasse Kaffee rührte. Er hatte den Lauf mit einer Hand umfasst und löste mit dem hölzernen Gewehrkolben den Zucker auf dem Boden der Tasse auf.
Er, der nicht einmal Zucker verwendete.
Als er nach dem Essen auf den Kiesplatz vor dem Hotel trat, widerstrebte ihm der Gedanke, zur Polizeistation zurückzukehren. Er blieb in der Einfahrt stehen und versuchte herauszufinden, woher dieser Unwille kam. Planlos lief er auf die Straße und weiter in Richtung der südlichen Ortsausfahrt, die Hände in den Manteltaschen vergraben, das Kinn dicht an die Brust gedrückt. Nachdem er die Kirche erreicht hatte, entschied er sich, seinen Spaziergang auszudehnen und den Waldweg zu nehmen, der am Fluss entlangführte. Es war bestimmt über ein Jahr her, seit er das letzte Mal dort gegangen war. Jetzt aber erfasste ihn plötzlich die Lust, einfach zu gehen, und auf der abfallenden Straße zum Fluss steigerte er das Tempo. Der Boden unter seinen Füßen war trocken, und in dem schnellen Takt hielt er sich warm. Es dauerte nicht lange, bis er in die weite Stille des Fichtenwalds eintauchte. Zu seiner Rechten lag braun und zäh das Wasser des Flusses. Der Pfad schlängelte sich zwischen dichtem Gestrüpp hindurch, und obwohl er nur wenige Meter vom Flussbett entfernt ging, entzog dieses sich immer wieder seinem Blick. Ein Eichhörnchen flüchtete an einem Kiefernstamm nach oben, und zwischen den Bäumen war kurz ein schwarzer Vogel zu sehen, von dem Lönngren nicht wusste, ob es eine Elster oder Krähe war. Im Wald lag ein säuerlicher Geruch, den er mit einem wohligen Gefühl einatmete. Er folgte dem Pfad einige Kilometer. Erst als sich der Wald lichtete und er zu der stillgelegten Sandgrube kam, blieb er stehen und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er von dem langen Spaziergang nicht außer Atem war. Er strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, fühlte aber nur wenige Schweißtropfen. Er setzte sich auf einen halb verfallenen Baumstumpf, der an der Abbruchkante der Sandgrube verwurzelt war. Die Sonne drang durch die dünne Wolkendecke, und er nahm die Ruhe und Reglosigkeit des Waldes in sich auf.
In dieser Stille stand plötzlich das gesamte Bild deutlich vor ihm. Die undurchsichtigen Zusammenhänge, die ihn seit langem belasteten, breiteten sich in niederschmetternder Klarheit vor ihm aus. Schlagartig begriff Lönngren, wie alles zusammenhing. Das verborgene Muster trat anschaulich hervor. Alle Teile fügten sich zu einem großen Ganzen. Der Brand, Raders Tod im Schnee, die anonymen Briefe, die Schüsse, alles. Er saß reglos auf dem Baumstumpf und folgte den Gedanken, die in seinem Kopf eine schlüssige Kette bildeten. Alles, was er untersucht, was er analysiert hatte, erwies sich als das, was es immer schon gewesen war: Scheinmanöver, sinnlose Nachahmungen tatsächlichen Handelns. Das, womit er sich beschäftigt und seine Arbeitszeit ausgefüllt hatte, war eine Art zeremonielles Verhalten und diente nur dazu, die Merkmale des Verbrechens selbst zum Verschwinden zu bringen. Und wenn sich das Verbrechen einmal näher definieren ließ, hatte er bewusst alle Spuren bis zur Unkenntlichkeit gelöscht. Er hatte kein Verbrechen aufgedeckt, er hatte keine Verbrecher gejagt; er hatte diejenigen bekämpft, die Wahrheit und Transparenz forderten. Ihm fiel ein, was er im Krieg gedacht hatte, als er sich Gesetzen beugen musste, deren Inkrafttreten er mit Widerwillen betrachtete. Aber hatte er diese Gesetze tatsächlich als so belastend empfunden? War es ihm besonders schwergefallen, sie zu befolgen? Hatte ihm seine Beamtenpflicht erkennbare Probleme bereitet? Hatte es ihm viel abverlangt, an der Einrichtung eines politischen Internierungslagers mitzuwirken, einer der größten Eiterbeulen im Gesicht der bürgerlichen schwedischen Demokratie?
Vielleicht war ja auch das passive Unbehagen eine Konstruktion? Damals hatte er gedacht: Das hier, das tust du, weil es ein Gesetz gibt, das besagt, dass du es tun musst. Und die Verfasser dieses Gesetzes verlangen von dir blinden Gehorsam und Loyalität. Genau jene Loyalität, die dich zu einem moralisch ehrenhaften Beamten macht. Solche Gesetze waren für die Politiker Kulissen. Die Gesetze schufen Raum, Handlungsradius, gaben den Aktionen den Takt vor und lieferten ein Alibi, eine unendlich variable Bühne für die politische Inszenierung und um sich die Opposition vom Hals zu schaffen. Ein verlassener Wald, aus dem ein geheimer Nationalpark wird, das Reservat für die Unzuverlässigen. Von diesem Lager führen eindeutige Verbindungslinien in die Gegenwart. Ein Sägewerk brennt ab, vieles spricht dafür, dass das Feuer gelegt wurde. Eine Untersuchung würde Spuren offenlegen, die für die Mächtigen unangenehm sein könnten. Stattdessen wird ein irreführendes Gerücht in die Welt gesetzt, das die tatsächlichen Ereignisse nicht nur verschleiert, sondern auch einem propagandistischen Ziel dient. Die ganze Zeit war er, der in seinem Leben nur ein einziges Mal in Stockholm gewesen war, als Aufpasser auf dieser politischen Bühne hin und her gelaufen. Damals, als er dem Lagergesetz Folge zu leisten hatte, gab es genaue Anweisungen. Anweisungen, die gelesen, interpretiert und dann verbrannt werden mussten. Die Gesetze hingegen, die er jetzt einhalten sollte, kannte er auswendig und befolgte sie automatisch. Die Verbrechen werden ausradiert, hinterlassen nur gerüchteweise noch einen schwachen Widerschein. Raders unnatürlicher Tod bleibt ein Rätsel. Das abgebrannte Sägewerk wird zu einem unerklärlichen Brandunglück. Und auch für die anonymen Briefe und die Gewehrschüsse wird es keine Erklärung geben. In dem Volksheim, das man errichtet, werden die Vorhänge vor die Fenster gezogen.
Als er da auf dem Baumstumpf bei der Sandgrube saß, fiel Lönngren kein Grund mehr ein, warum er diesen Gedanken nicht freien Lauf lassen sollte.
Und plötzlich wusste Lönngren auch, was er war.
Er war schlicht und einfach ein politischer Polizist, an der Leine, ohne das Recht auf eine andere Moral als die der Loyalität.
Er fühlte sich nicht einmal schlecht dabei.
Er dachte nicht nur, dass er ein Polizist war.
Er dachte, dass er vermutlich ein sehr guter Polizist war.
Wieder hörte er Bertils Worte: Dir ist klar, wen du schützt, Lönngren. Er verstand jetzt, dass Bertil völlig recht hatte. Seine Aufgabe als Polizist war nicht der vorbehaltlose Schutz der Bürger. Seine Aufgabe war es, den Wachhund zu spielen. Er sollte darüber wachen, dass die Bürger nicht über den Zaun kämen, in jene Umgebung vorstießen, wo Recht gesprochen und Macht ausgeübt wurde.
Er dachte wieder an die Schüsse. Natürlich hatte jemand geschossen. Natürlich ließe sich mit beharrlicher Arbeit herausfinden, wer das war und wie es sich zugetragen hatte. Aber sein Polizisteninstinkt sagte ihm, dass es besser wäre, den Fall auf sich beruhen zu lassen. In dieser Situation war es besser, einen Unsichtbaren zu schützen.
Auf dem Rückweg glaubte er, den lautlosen Schatten eines Birkhahns zwischen den Bäumen zu sehen. Er blieb lange stehen und atmete so leise wie möglich, in der Hoffnung, der Vogel käme noch einmal zurück. Aber im Wald war nichts als reglose Stille. Er ging zum Fluss hinunter und trank Wasser aus der hohlen Hand. Es war kalt und frisch. Er fuhr sich über die Stirn.
Sein Kopf war plötzlich leicht, und er hatte gute Laune.
Langsam fügten sich seine Gedanken zu einem Schachzug, den er am Abend auf eine Postkarte schreiben wollte. Morgen würde er sie in den Briefkasten werfen. Es war sein zweiter Zug in einer vor kurzem neu begonnenen Partie Fernschach.
Bertil Kras war ohne Zwischenstopp zu seiner Unterkunft am Fluss gegangen. In seinem Inneren hatte sich eine wachsende Wut breitgemacht, das Gefühl, endlich vor der Möglichkeit zu stehen zurückzuschlagen. Jetzt wollte er sich einfach nur ein paar Stunden ausruhen und über alles nachdenken. Er war versucht gewesen, gleich zu Enström zu gehen und ihm von seinem Besuch bei Lönngren zu erzählen, hatte sich aber noch zurückgehalten. Seinen Gedanken folgend, beschleunigte oder verlangsamte er seine Schritte. Wer ihn gehen sah, dachte sicher, was für ein sonderbares Verhalten.
Doch natürlich hatte niemand etwas gesagt.
Als er zu Hause war, trank er Kaffee. Mit der Tasse in der Hand ging er auf und ab und sprach laut mit sich selbst. Er unterhielt sich mit Enström und merkte, wie sein Enthusiasmus und Kampfgeist wuchsen. Dieses Mal würden sie zurückschlagen. Als er sich schließlich auf die Bettkante setzte, merkte er, dass er verschwitzt war. Er legte seine Kleidung ab, wusch sich, zog ein frisches Hemd an und ging zum Eisenwarenladen.
Er hatte Glück. Enström war nicht allein. Erlandsson war ebenfalls da. Bertil warf den Mantel über die Lehne und ließ sich in den Korbsessel fallen.
»Jetzt aber«, sagte Bertil. »Jetzt sind wir am Zug.«
Hastig berichtete er von seinem Treffen mit Lönngren. Enström und Erlandsson saßen reglos in dem dunklen Raum und beobachteten ihn.
»Ich weiß«, sagte Enström, als Bertil schwieg. »Ekblad war mit den Gewehren hier.«
Bertil hatte nicht bedacht, dass die Gewehre natürlich zurückgebracht werden mussten und dass das auch mit einem Kommentar einherging.
»Na, dann wisst ihr ja Bescheid«, sagte er. »Und das heißt, dass wir jetzt endlich die Chance haben, uns zur Wehr zu setzen, eine Möglichkeit, die es seit vielen Jahren nicht gegeben hat.«
Erlandsson richtete sich auf.
»Wie meinst du das?«, fragte er.
Erlandssons Trägheit irritierte Bertil. Seiner Antwort war das aber nicht anzumerken.
»Versteht ihr denn nicht? Das ist doch vollkommen klar. Jemand hat auf Svante und mich geschossen. Lönngren untersucht die Sache, ohne dass dabei etwas herauskommt. Warum kommt nichts dabei heraus? Warum kommt bei Lönngrens Ermittlungen nie was heraus, wenn einer von uns etwas zur Anzeige bringt? Weil Lönngren den Verbrecher schützt. Die Polizei schützt keine Kommunisten. Die Polizei schützt die, die versuchen, uns umzubringen.«
»Wen meinst du, Bertil?«, sagte Enström rasch. Bertil fand, dass Enström hinter seinem Schreibtisch ungewöhnlich angespannt wirkte.
»Paulus Blomgren. Entweder er oder eben ein anderer Paulus Blomgren. Von solchen gibt es ja viele.«
Enström stand mit einem Ruck auf. Eine Quittung segelte zu Boden, ohne dass er sie weiter beachtete. Er blieb stehen und stemmte die Hände auf den Tisch.
»Du hast ja recht, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugeht«, sagte er. »Aber Blomgren namentlich zu beschuldigen geht dann doch ein bisschen zu weit, oder?«
»Findest du? Wer sollte es denn sonst sein? Du? Oder du, Erlandsson? Es kann natürlich ein Außenstehender gewesen sein, auch wenn das sehr weit hergeholt scheint. Aber genau das wollen wir ja jetzt herauskriegen. Alles muss auf den Tisch. Lönngren lügt diesmal so eindeutig, dass er damit einfach nicht durchkommen kann. Das ist doch unsere Chance, zum Teufel noch mal! Wir müssen einfach nur loslegen.«
Im Raum wurde es still. Erlandsson beschäftigte sich mit seiner Pfeife. Bertil hatte den Eindruck, dass er sie unnötig langsam stopfte. Enström bückte sich mühevoll nach der Quittung, die auf dem Boden lag. Als er sie endlich zwischen die Finger bekam, setzte er sich. Die ganze Situation erschien Bertil auf einmal unbegreiflich. Der überschäumende Enthusiasmus, der ihn bis eben noch erfüllt hatte, wich einem Staunen über die Trägheit seiner Freunde.
»Sollen wir nicht endlich versuchen, in die Gänge zu kommen, verfluchte Scheiße?«, fragte er schließlich.
Enströms Antwort kam unmittelbar, als hätte er sich darauf vorbereitet.
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Ganz konkret jetzt?«
»Das ist doch ziemlich einfach. Zuerst verlangen wir von Lönngren, die Untersuchung wiederaufzunehmen und offenzulegen, wie er denn zu seinem Ergebnis gekommen ist. Er muss schließlich beweisen können, dass er nichts beweisen kann. Und falls das nichts bringt, wenden wir uns an die nächsthöhere Stelle. Außerdem sollten wir mit dem Fall an die Öffentlichkeit gehen, finde ich. Uns steht alles offen, wir haben ja nichts zu verlieren. Nur verpassen dürfen wir diese Chance nicht! Wenn wir uns nicht völlig zerstören lassen wollen, dann müssen wir jetzt wieder kämpfen! Was für verdammte Kommunisten sind wir denn, wenn wir nicht kämpfen? Oder was denkst du, Erlandsson?«
»Ja. Vielleicht hast du recht.«
Bertil war selbst von der Heftigkeit seiner Wut überrascht, die plötzlich aus ihm hervorbrach und sich nicht aufhalten ließ.
»Vielleicht hast du recht? Was ist das denn für eine Antwort?«
Erlandsson schien unangenehm berührt und beugte sich wieder über seine Pfeife.
»Ich meine es, wie ich es sage. Du hast vermutlich recht.«
Bertil schaute die beiden an. Er merkte, wie ihm der Mut abhandenkam. Die Kraft, die er zuvor so deutlich gespürt hatte, wurde ihm nun zur Last.
»Findet ihr denn, wir sollen das einfach so stehenlassen? Wir sollen nicht kämpfen? Wir sollen uns abschlachten lassen, ohne einen Finger zu rühren? Wollt ihr mir das sagen?«
Enström rutschte auf dem Schreibtischstuhl herum.
»Natürlich nicht, Bertil. Ich finde, wir machen es, wie du sagst. Wir denken zwei, drei Tage darüber nach, und dann machen wir es, wie du sagst.«
»Darf ich dich was fragen?«, sagte Bertil unerwartet schnell.
»Ja?«
»Als du heute von Lönngrens Untersuchung erfahren hast, hattest du da nicht den gleichen Gedanken wie ich?«
»Nein, den hatte ich tatsächlich nicht.« Enström ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Warum nicht?«
»Im Laden war viel los.«
Bertil sagte dazu nichts weiter, sondern nickte nur. Er war nahe daran, in seiner rasenden Enttäuschung unterzugehen.
»Fehlt uns wirklich jede Kraft?«, fragte er schließlich. »Sind wir wirklich schon besiegt?«
»Selbstverständlich trifft weder das eine noch das andere zu«, hörte er plötzlich aus Erlandssons Richtung. »Aber wir arbeiten im Moment unter schwierigen Bedingungen. Das dürfen wir nicht vergessen.«
»Arbeiten Kommunisten in einem bürgerlichen Staat nicht immer unter schwierigen Bedingungen?«, fragte Bertil.
»Doch, natürlich. Aber jetzt, wo es den Leuten allmählich besser geht, interessieren sich nicht besonders viele für den Kommunismus.«
Bertil merkte, wie ihn erneut Kampflust erfasste. Er richtete sich in dem Korbsessel auf.
»Aber ist es nicht wichtig, dass wir als Kommunisten dann noch härter arbeiten und den Leuten sagen, dass wir auf diesen Volksheimbluff nicht hereinfallen? Dass der im Grunde nichts ändert?«
»Doch, natürlich. Aber es ist nicht leicht.«
»Ja, was denn sonst, verfluchte Scheiße! Klar ist es nicht leicht. Es ist schwer. Und hart. Aber das sind wir der Sache doch schuldig!«
»Fangt jetzt nicht zu streiten an, Leute«, unterbrach Enström.
»Ach, streiten sollen wir jetzt also auch nicht?«, brüllte Bertil. »Wir sollen überhaupt nichts mehr tun? Ich dachte, diskutieren sei wichtig, um die gegensätzlichen Standpunkte klarzumachen!«
»Beruhig dich jetzt, Bertil«, fuhr Enström fort. »Ich glaube nicht, dass wir so weiterkommen. Wir sind uns ja einig. Wir machen es, wie du sagst.«
»Weil ich es sage, ja.«
»Wie bitte?«
»Scheiß drauf!« Bertil fuhr aus dem Sessel hoch und riss den Mantel an sich. Er blieb kurz stehen und machte Anstalten, noch etwas zu sagen. Aber er überlegte es sich anders und floh aus dem Eisenwarenladen, hinaus in die Kälte des Abends.
So weit sind wir also, dachte er, als er planlos durch die Straßen irrte. Es war kurz nach sieben, und das Ortszentrum leerte sich langsam. Sind wir wirklich so erbärmlich, dachte er weiter, dass uns die Mutlosigkeit völlig beherrscht? Wir sind wenige, vielleicht weniger als je zuvor, aber statt noch härter zu kämpfen, lassen wir uns als Verlierer behandeln, ohne überhaupt gekämpft zu haben. Wie sagt man im Sport dazu? Walk-over?
Bertil schlug eine Richtung ein, die ihn aus dem Zentrum hinausführte. Als er zum Krankenhaus kam, bog er links ab und steuerte auf die Genossenschaftshäuser zu, die sich bis zu den Bahngleisen erstreckten.
Er verlangsamte seine Schritte, ging fast unnatürlich bedächtig, den Blick zu Boden gerichtet. Er versuchte, die widerstandslose Entmutigung zu verstehen, die Enström und Erlandsson ausgestrahlt hatten. Darauf war er überhaupt nicht vorbereitet gewesen. Dass er es als große Chance empfand, den Kampf wiederaufzunehmen, daran hatte er keinen Zweifel gelassen. Er begriff, es war dieses Unvorbereitetsein gewesen, was zu seiner unbeherrschten Flucht geführt hatte. Seine Enttäuschung war so groß, dass er davor zurückschreckte, sie überhaupt anzuerkennen.
Er blieb stehen und dachte nach. Würden sie gezwungen sein, so lange unaufhörlich Schläge einzustecken, bis die Schläger mit ihren unzähligen Armen so müde waren, dass sie eine Pause einlegen mussten? Waren diese wiederkehrenden Niederlagen unabwendbar oder eine Voraussetzung dafür, die Schläger künftig dank ihrer ungenützten Kräfte zu Boden werfen zu können? Es fiel ihm schwer, die Notwendigkeit solcher Schläge einzusehen. Seiner Meinung nach mussten sie den Widerstand verstärken. Den Widerstand gegen die Mutlosigkeit, gegen den äußeren und den inneren Feind. Dieser innere Feind, die Zögerlichkeit, der Zweifel, hatten in einer Weise zugenommen, die er bisher nicht mitbekommen hatte. Er dachte an Svante, der fortgegangen war, der schrieb, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte, jetzt im Moment.
Jetzt im Moment? Was heißt das? Ein Jahr, zehn? Bertil wird von eiskalter Angst erfasst, die er kaum unter Kontrolle halten kann. Mit einer Klarheit, die ihn fast zu Boden zwingt, weiß er, dass sich die Frage nach der verbleibenden Kraft nun auch ihm stellt.
Er lässt diesen Gedanken nur kurz zu und geht Richtung Hotel. Auf dem Weg kommt er am Rangierbahnhof vorbei, der von Scheinwerfern gelb erleuchtet ist. Er hält an und schaut zu den frostigen, unbeweglichen Waggons und den schwarzen Lokomotiven hinüber.
Dann geht er weiter.
Im Hotel isst er zu Abend und sieht durch die Türen des Speisesaals, wie nacheinander mehrere alte Menschen die Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen, wo ein fahrender Chiropraktiker für einige Tage seine Ordination eingerichtet hat. Er sieht, wie sie ihre Körper mühevoll nach oben schleppen. Er versucht herauszufinden, ob zwischen den Hinaufgehenden und den Herunterkommenden ein Unterschied zu erkennen ist. Aber er findet nichts, was auf eine Veränderung hindeutet, keine Zeichen, die sich als neue Hoffnung oder konkrete Verbesserung deuten ließen. Die Treppe ist eine Altersleiter, die hinauf wie hinunter ins Grab führt.
Nach dem Kaffee, als er bei einem Glas Kognak sitzt und bereits etwas betrunken ist, betritt der Chiropraktiker den Speisesaal und lässt sich an einem Tisch am Fenster nieder. Bertil kann ihn von der Seite beobachten. Der Chiropraktiker ist höchstens vierzig. Er trägt elegante Kleidung und besitzt offenbar viel Selbstvertrauen. Das Essen bestellt er mit lauter Stimme, was Bertil an die Mitglieder einer reisenden Theatergesellschaft erinnert, die er hier einmal antraf und die sich selbstsicher und laut unterhalten hatten. Der Chiropraktiker wirkt gutsituiert und trägt an seinen wunderwirkenden Händen mehrere Ringe. Er raucht lange Zigarillos und beklagt sich darüber, dass das Fleisch nicht gar sei. Er wirft Bertil einen scharfen Blick zu.
Chiropraktiker, denkt Bertil. Knochenbrecher. Sicher hat das, was er tut, auch sein Gutes. Aber genauso sicher ist daran vieles faul. Er lebt von seinem Können, aber auch vom Glauben der Menschen an Märchen und von der nicht kleinzukriegenden Hoffnung auf ein Wunder. Wie er selbst wohl darüber denkt? Bertil hat plötzlich das Bedürfnis, zu seinem Tisch hinüberzugehen und ihn zu fragen. Doch etwas an dieser Gestalt bewirkt, dass er es sein lässt und grübelnd bei seinem Kognak sitzen bleibt. Seiner Auffassung nach wird die Gesellschaft von Politikern geführt, die mit dem Segen der Kapitalisten behaupten, auf stabilem Grund das Projekt Volksheim zu errichten, während es in Wirklichkeit ein Kartenhaus auf sumpfigem Boden ist, ein Kartenhaus, das mit ein paar chiropraktischen Tricks aufgestellt wurde. Am Tisch des Chiropraktikers könnte genauso gut ein wohlsituierter Politiker sitzen, über das Essen klagen und teure Zigarillos rauchen.
Bertil weiß, dass er dem Chiropraktiker mit diesem Gedanken vielleicht unrecht tut, aber das ist ihm im Moment egal. Er betäubt seine Enttäuschung mit Alkohol, er ist aggressiv und hat Angst. Er weiß, dass er zu Margot gehen sollte, kann sich aber dazu nicht durchringen. Es gibt so vieles, das er erst noch verstehen muss. Allein. Er bestellt noch einen Kognak und kritzelt mit einem Kugelschreiber auf der Rückseite einer Stoffserviette herum.
Erik Enström, schreibt er. Feuerwehrhauptmann, Eisenwarenhändler, mutlos.
Dann wirft er die Serviette zur Seite. Er versucht, sich wieder zu konzentrieren, ruhig und methodisch nachzudenken, aber es klappt nicht. Er ist zu unruhig.
Eine der Kellnerinnen nähert sich dem Tisch des Chiropraktikers.
»Herr Aronsson«, sagt sie. »Ein älterer Mann ist am Telefon, der vergessen hat, dass Sie heute den letzten Tag Ordination bei uns haben. Er möchte wissen, ob Sie ihn jetzt noch drannehmen können, auch wenn es schon Abend ist. Was soll ich antworten?«
»Herrgott noch mal«, sagt Aronsson. »Dass die sich aber auch nie meine Termine merken können. Was fehlt dem Kerl?«
»Er hat Rückenschmerzen. Schon seit dreißig Jahren, sagt er. Vor kurzem ist er fünfundachtzig geworden.«
Der Chiropraktiker drückt schlecht gelaunt seinen Zigarillo aus.
»Nein«, antwortet er. »Sagen Sie einfach, ich sei bereits abgereist oder irgendetwas in dieser Richtung. Lügen Sie sich was Passendes zusammen. Bringen Sie es ihm so bei, dass ihm nicht gleich die Luft wegbleibt. Haben Sie mich verstanden?«
Die Kellnerin nickt zögerlich und geht.
Der Chiropraktiker und Bertil sind jetzt allein im Speisesaal. Bertil merkt, dass er im Begriff ist, die Kontrolle zu verlieren. Aronssons Antwort hat ihn erbost. Er hält das Kognakglas fest und kann sich nicht mehr zurückhalten.
»Arschloch«, sagt er laut.
Aronsson dreht sich um und schaut Bertil an.
»Wie bitte? Haben Sie etwas gesagt?«
»Arschloch, habe ich gesagt.«
Aronsson ist verdutzt, behält aber die Fassung.
Im selben Augenblick kommt die Kellnerin zurück. Sie will gerade etwas sagen, als Aronsson die Hand hebt.
»Ich verbitte mir, dass dieser Gast dort Unverschämtheiten gegen mich loslässt. Das werde ich nicht tolerieren.«
Die Kellnerin hat keine Ahnung, wovon er redet. Erst als er sich umdreht und auf Bertil zeigt, versteht sie. Unsicher geht sie auf Bertil zu.
»Ich habe gesagt, dass er ein Arschloch ist. Mehr nicht. Kann ich zahlen?«
Nachdem er die Rechnung beglichen hat, bleibt er sitzen, bis die Kellnerin in der Küche verschwunden ist. Schließlich steht er auf und geht zum Tisch des Chiropraktikers. Er sieht ihm ins Gesicht.
Dann spuckt er ihn an. Die Spucke bleibt auf dem weißen Hemd kleben.
Er verlässt das Hotel, ohne noch ein Wort von Aronsson zu hören.
Auf der Straße merkt Bertil, dass er betrunken ist, aber er wankt noch nicht. Der Schnaps wärmt ihn, und er spürt nicht, wie kalt es ist. Wieder lässt er sich durch die Straßen des Ortes treiben. Er bereut, den Chiropraktiker angespuckt zu haben. Aber kommt es nicht oft vor, dass man einem Unschuldigen mit der Faust ins Gesicht schlägt, wenn der eigentliche Schuft unerreichbar ist? Eigentlich wäre es richtig, jetzt zurückzugehen und sich zu entschuldigen. Zugleich kann Bertil nicht vergessen, wie gleichgültig der Mann im Hotel den Alten, der Hilfe brauchte, abgefertigt hat. Er belässt es also dabei, setzt seine einsame abendliche Wanderung fort und biegt beim Gemeindehaus um die Ecke. Nachdem er sich etwas beruhigt hat, versucht er seine Gedanken zu ordnen. Zuerst denkt er an die Jagdwoche im Wald zurück, an seinen Posten neben den Kiefern und Steinblöcken, dann springt das Bild zu dem morgendlichen Treffen mit Lönngren. Er versucht, die Situation als Teil eines größeren Ganzen zu sehen, und fängt an, hörbar vor sich hin zu murmeln.
»1951, 1952«, denkt er laut. »Als ich ein Kind war, wurde das Volksheim geschaffen. Im Krieg hat man daraus wieder das Vaterland gemacht. Nach dem Krieg kehrte das Volksheim auf die Bühne zurück. Und jetzt wird wie verrückt daran gebaut. Ein Flickwerk an Reformen, ein Versuch, immer mehr Menschen einen Zugang zur bürgerlichen Gesellschaft zu verschaffen. Der Blick zurück ist nur so weit zugelassen, als er dem Ursprung des Volksheims gilt, seiner Partei, seinem Gehirn, seinen Händen. Aber die Bedingung für dieses Volksheim ist, dass es tausend Geheimtüren gibt, durch die man Kritik und Opposition in die Finsternis jagt, wo die Kommunisten ein Leben in der Isolation führen. Eine Finsternis, so dicht wie dieser Abend.«
Vor dem Konsumladen bleibt er stehen. Kann es so sein? Paulus Blomgren? Plötzlich beginnt auch Bertil zu zweifeln. Ist das alles nur eine verrückte Einbildung? Aber er hat die Kugel doch selbst aus dem Stamm geholt, das war keine Erfindung. Nein, Einbildung ist das nicht. Er ringt seine Zweifel nieder.
»Wenn ich glaube, dass es nicht wirklich passiert ist«, sagt er laut, »dann muss ich ja annehmen, dass die Welt und die Menschen im Grunde nicht zu begreifen sind. Und das denke ich nicht. Ich weiß aber, dass eine Minderheit aus Eigeninteresse alles daransetzt, dem Rest der Bevölkerung die Wirklichkeit unbegreiflich erscheinen zu lassen. So ist das.«
Er geht weiter. In Gedanken kehrt er in das Hinterzimmer des Eisenwarenladens zurück. Er ist jetzt überzeugt, dass Enströms und Erlandssons Mutlosigkeit nur vorübergehend war, dass sie ihn morgen aufsuchen und sagen werden, jetzt aber, jetzt packen wir es an! Ist er selbst vielleicht zu enthusiastisch gewesen und hat seinen Gefühlen zu sehr freien Lauf gelassen? Auf einmal spürt er Reue, dass er seine beiden Freunde so leichtfertig verurteilt hat.
Doch etwas stimmt trotzdem nicht. Die Art, wie sie mit ihm umgegangen sind, bleibt für ihn undurchschaubar. Seine Unrast kehrt zurück, er versucht, dagegen anzukämpfen. Was weiß er denn schon von Enström? Mangelt es ihm bloß an Fantasie, um das Verhalten der beiden zu verstehen? Aber was hat das denn mit Fantasie zu tun? Er schüttelt den Kopf. Nein, da stimmt etwas nicht. Er hat den gesamten Ort auf einen Schlag satt. Nie ist er ein Teil dieser kleinen Gemeinde geworden, mit all ihren unsichtbaren Verbindungen und Abhängigkeiten. Vielleicht ging es ja von Anfang an darum, ihn auszustoßen, aber auf eine so raffinierte Weise, dass niemand dafür die Verantwortung übernehmen muss? Er soll mit seinen Habseligkeiten einfach verschwinden. Und wenn er im Schienenbus nach Süden sitzt, dann soll er nichts von dem begriffen haben, was geschehen ist. Nein, das stimmt auch nicht. Schließlich begreift er ja alles, die Zusammenhänge sind ihm klar. Es geht einzig und allein darum, seine Freunde mitzureißen und zu kämpfen. Er muss ihnen vertrauen, er muss ihnen helfen, wieder etwas zu wagen. Wieder Kraft zu finden.
Abermals steht er da und schaut über den Rangierbahnhof. Die schweren Güterwagen stehen wie angehalftert an den Prellböcken, die gelben Bremsklötze zwischen Räder und Schienen geklemmt. Neben den Schatten der Lokomotiven zeichnen sich die gewölbten Kohlewagen ab. Blitzartig fühlt er seine hilflose Unsicherheit verschwinden und hat ein Bild vor Augen, das ihn im Kampf mit den Loks und Güterwagen zeigt.
Er geht weiter. Den nächsten Halt legt er vor den beleuchteten Schaufenstern der Lokalzeitung ein. Schaut sich die Fotos an und liest die Bildtexte.
Bilder von Fußballspielen.
Kriegsbilder aus Korea.
Die Fotografie eines Traktors.
Ein toter Schriftsteller.
Lawinenabgänge in den Alpen.
Der Sozialdemokrat Tage Erlander und der Vorsitzende der Volkspartei Bertil Ohlin, lächelndes Händeschütteln.
Bilder in scharfem, zischendem Blitzlicht.
Überbelichtet, grobkörnig.
Der Esel, der Werbung für den Karlsson-Kleber macht.
Ingrid Bergman trifft Esther Williams.
Bademode.
Lange betrachtet er die Fotos der beiden händeschüttelnden Politiker. Dabei fasst er den Entschluss, Enström aufzusuchen. Er hält es allein mit seinen Gedanken nicht mehr aus.
Bertil musste lange an die Tür schlagen, bevor geöffnet wurde. Enström stand im Türrahmen, in einem alten Bademantel, und Bertil begriff, dass er ihn geweckt hatte. Er hatte nicht daran gedacht, wie spät es war.
»Ich muss mit dir reden«, sagte er.
Er legte seinen Mantel im Flur ab, ging dann in die Küche und setzte sich an den Tisch. Enström war in den ersten Stock hinaufgegangen, um seine Pantoffeln zu holen. Durch die Decke konnte Bertil hören, wie Enström mit Linnea sprach. Als Enström zurückkam, hatte er Hose und Hemd an und dicke Wollsocken an den Füßen. Er setzte Kaffee auf und nahm Bertil gegenüber Platz.
»Du hast wohl schon geschlafen«, meinte Bertil.
»Kein Problem.«
Danach sagten sie nichts mehr, bis der Kaffee auf dem Tisch stand. Erneut war Bertil unsicher, wie er mit Enström reden sollte. Den Gedanken, die ihm bei seinem Spaziergang so klar erschienen waren, war ihre Selbstverständlichkeit abhandengekommen. Die vertraute Sicherheit, die er normalerweise in Enströms Nähe fühlte, wollte sich nicht einstellen. Er rührte in seiner Tasse, und Enström saß schweigend da. Sie konnten hören, wie Linnea über ihnen herumging.
»Und was wolltest du?«, fragte Enström schließlich vorsichtig.
»Ich versuche zu verstehen, was los ist«, sagte Bertil und schaute ihn an. »Warum ihr, du und Erlandsson, keine Lust habt, euch weiter mit den Gewehrschüssen zu beschäftigen. Denn so ist es doch. Am liebsten wäre euch, dass wir es einfach lassen. Möglich, dass ich ein Idiot bin, aber ich verstehe es einfach nicht. Den ganzen Abend bin ich durch den Ort gegangen und habe darüber nachgedacht. Etwas stimmt da nicht.«
Während Bertil sprach, schaute Enström aufs Tischtuch. Seine Fäuste lagen schwer auf dem Küchentisch. Bertil fand, dass er in dem fahlen Licht sehr alt aussah.
»Klar stimmt vieles nicht«, sagte er mit leiser Stimme, ohne den Blick von dem karierten Wachstuch zu heben. »Wenn du von allein nicht draufkommst, werde ich dir sagen, wie es ist. Ich bin müde. Ich frage mich oft, ob sich das, womit wir uns da abmühen, lohnt, ob es eigentlich einen Nutzen hat. Ich weiß nicht, ob ich aus dieser unterlegenen Position heraus ewig weiterkämpfen kann. Natürlich bin ich überzeugt, dass der Kapitalismus früher oder später endgültig zusammenbrechen wird. Darum geht es nicht. Es ist bloß so, dass ich nicht mehr als das Allernotwendigste schaffe. Sobald etwas geschieht, das einen zusätzlichen Einsatz erfordert, bin ich mir sicher, dass es mit einer Niederlage endet. Das ist furchtbar, aber es ist die Wahrheit. Und dann wird es schwer. Ich beneide dich, du scheinst die Kraft ja zu haben. Aber ich? Egal, wie sehr ich mich aufzuraffen versuche, mein Körper will nur sitzen bleiben. Es ist eine Sache, etwas zu erstreiten, was in einem Monat oder einem Jahr erreicht ist. Aber im Moment fühlt es sich so an, als richte sich alles, was wir tun, auf ein Ziel, das sich vielleicht erst in hundert Jahren verwirklichen lässt. Schrecklich, aber so ist es. Jeder wird ja hin und wieder von Mutlosigkeit gepackt, aber dieses Mal scheint sie mir sehr zählebig.«
Enström verstummte und schaute Bertil an. Er verzog das Gesicht zu einer beschämten Grimasse, als hätte er sich auf eine Weise ausgeliefert, die er eigentlich nicht wollte. Bertil ging zur Spüle und trank ein Glas Wasser. Der Alkohol hatte ein trockenes Gefühl im Mund hinterlassen, und ihm war übel.
»Vielleicht ist es einfach so«, setzte Enström an, als Bertil ihm gegenüber wieder Platz genommen hatte, »dass ich auf eine neue Generation warte, die unsere Arbeit fortführt. In deinem Alter und auch noch Jüngere. Und früher oder später werden sie wohl auch kommen. Uns gehört die Zukunft, wie wir sagen, und das stimmt natürlich. Aber jetzt im Moment? So ist das.«
»Wir müssen eben zusammenstehen«, antwortete Bertil. »Einander helfen, um die Kraft zu finden. Dieses Mal bist es du, das letzte Mal war ich es. Wir vergessen viel zu leicht, dass wir füreinander da sind. Wir vergessen die Solidarität und schleichen wie graue, unglückliche Schatten herum. Wir wissen schließlich, dass die Niederlagen, die uns treffen, nur vorübergehend sind, wir kommen jedes Mal zurück, immer wieder.«
»Aber ja doch. Sicher. So habe ich vor ein paar Jahren auch geredet.«
Enström fragte, ob er noch mehr Kaffee kochen solle, aber Bertil schüttelte den Kopf. Ihm wurde immer übler, er hatte schon Brechreiz. Außerdem bereute er es, Enström so spät am Abend aufgesucht zu haben. Es schien unmöglich, ihn aufzurütteln, ihn dazu zu bringen, den schweren Körper in Bewegung zu setzen.
»Du vergisst nicht, dass wir morgen Abend Sitzung haben?«, sagte Enström.
»Natürlich nicht.«
Enström stand auf, kniff die Augen zusammen und versuchte, an dem Thermometer vor dem Küchenfenster die Temperatur abzulesen. Ohne Kommentar setzte er sich wieder hin.
»Glaubst du wirklich, dass es Blomgren gewesen sein könnte?«, fragte er dann rasch.
»Ja. Natürlich weiß ich es nicht, aber eine Untersuchung müsste das schließlich klären können, oder nicht?«
Enström nickte.
»In einer so kleinen Gemeinde gibt es zwischen den Leuten eine Menge Verbindungen, die nur zum Teil sichtbar sind. Die meisten sind auf irgendeine Weise in Abhängigkeiten verstrickt. Und diese Abhängigkeiten geben den Ausschlag, was hier im Ort geschieht. Wer andere ökonomisch von sich abhängig machen kann, besitzt eine unerhörte Macht, solange diese Abhängigkeiten nicht untersucht und geklärt werden. Woher wissen wir, dass Rader nicht Lönngren Geld geliehen hat? Vielleicht sind ja Ereignisse, die zwanzig, dreißig Jahre zurückliegen, ausschlaggebend, dass man Blomgren dazu anstiften kann, auf dich und Svante zu schießen? Solange wir das nicht wissen, können wir gar nichts mit Sicherheit sagen. Und diese kleine Gemeinde unterscheidet sich ja nicht vom ganzen Land. Überall, im Großen wie im Kleinen, gibt es diese Abhängigkeiten. Zwischen denen, die das Geld haben, und denen, die in ihrem Interesse die Gesellschaft verwalten. Diese Abhängigkeiten müssen aufgedeckt werden, und an dem Tag, an dem dies geschieht, werden wir ganz ungeahnte Dinge sehen. Nur so können wir diese Abhängigkeitsverhältnisse beenden, und dann gibt es für uns keine Niederlagen mehr. Dann wird keiner von uns mehr wissen, was Mutlosigkeit ist. Aber so weit sind wir noch nicht. Und wir können es nicht beschleunigen. Es passiert, wenn die Zeit reif ist. Das müssen wir, glaube ich, einsehen und, so gut es geht, dagegen kämpfen, Kräfte sammeln und uns vorbereiten. Im Augenblick sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt. Derzeit kommen wir nirgendwohin, Bertil. Ich glaube, dass wir unsere Kräfte vergeuden. Wir müssen einsehen, dass die Zeit noch nicht reif ist.«
»Und uns von ihnen erschießen lassen?«
Enström antwortete nicht. Er spann seinen Gedanken weiter.
»Es liegt ja auf der Hand, was geschieht, im Moment gibt es einfach Kräfte, die stark genug sind, uns daran zu hindern, das zu verstehen, was wir verstehen wollen und wozu wir auch das Recht haben.«
»Und wie steht es mit dir?«, fragte Bertil. »Mit deinen Abhängigkeiten?«
»Eine gute Frage. Stelle ich mir auch manchmal. Nein, war nur ein Witz. Ich stehe außerhalb. Wie du.«
Enström gähnte. Er war müde. Bertil merkte, dass er frische Luft brauchte. Die Übelkeit stieg in ihm hoch. Er stand auf.
»Wir sehen uns also morgen«, sagte er.
Enström begleitete ihn auf den Flur hinaus.
»Bestell Linnea Grüße von mir.«
»Die schläft nun wohl. Mache ich morgen. Grüß Margot.«
Als Bertil nach Hause kam, erbrach er sich vor der Tür. Auf der Treppe traten ihm vor Anstrengung Tränen in die Augen. Er setzte sich auf die Bettkante und zog die Uhr auf. Dann spülte er den Mund und zog sich aus.
Das Letzte, an das er vor dem Einschlafen dachte, war, dass der morgige Tag eine Entscheidung bringen würde.
Bertil wurde an diesem Morgen früh wach und setzte sich mit einem Ruck im Bett auf. Er wusste, dass er geträumt hatte, konnte sich aber an nichts erinnern. Er zog sich die Decke ans Kinn und war überrascht, keinen Kater zu haben. Als er nach einer Weile aufstand, spürte er die Kälte im Zimmer und kleidete sich schnell an.
Es war kurz nach sechs, als er an seinem Tisch saß, draußen war es stockfinster. Er hatte das Bedürfnis, eine Art Bilanz über sein Leben zu ziehen. Ohne lange nachzudenken, nahm er einen Pappkarton aus dem Schrank, wischte den Staub ab und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Dokumente, Zeitungen, Eintrittskarten, Fotografien und kaum leserliche Notizen. Langsam und systematisch grub er sich durch diesen Berg an Dingen. Alles war da. Der Arbeitsvertrag mit dem Sägewerk, die Lohntüten. Zeitungsausschnitte mit Artikeln über den Brand, die bereits zu vergilben begannen und spröde wurden wie getrocknete Herbstblätter. Er entdeckte alte Kinotickets und Eintrittskarten zu Fußballspielen, Notizen, die er auf die Rückseite von Rechnungen aus der Kneipe oder dem Hotel Engberg geschrieben hatte. Er sortierte die Papiere in unterschiedliche Stapel. Seltsamerweise bereitete es ihm kein Unbehagen, sich an all die Dinge zu erinnern, die das Rückgrat seines immer weiter schrumpfenden Daseins bildeten. Er überlegte kurz, ob er alles einfach verbrennen sollte, fand dafür aber keinen überzeugenden Grund. Als er alles durchgesehen hatte, blieb er sitzen und schaute auf die unterschiedlichen Stapel. Wenn er die Augen zusammenkniff, ähnelte das Bild vor ihm den Linien eines Feldsteins, die von verschiedenen abgelagerten Gesteinsschichten stammten. Er strich mit den Fingern über die Papierpacken und lauschte dem leisen Rascheln, wie Espenlaub in einem sommerlichen Wald. Erst als er an den Füßen zu frieren begann, wischte er alles wieder in den Karton und stellte ihn in den Schrank zurück. Auf dem Wecker sah er, dass es halb elf war. Draußen war es hell geworden, und das Thermometer zeigte vier Grad minus. Eine schwere Wolkendecke hing über der kleinen Gemeinde, und der Boden war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Er zog sich einen Pullover an und setzte sich wieder an den Tisch.
Er war fünfunddreißig Jahre alt. Sein Leben ließ sich in drei Abschnitte einteilen. Im ersten lebte er als Sohn des Matrosen mit seiner Mutter in einer dunklen Wohnung auf Kungsholmen. Das war die früheste Kindheit, die er als andauernde Dämmerung im Gedächtnis hatte. Aus dieser Zeit erinnerte er sich nur an vereinzelte Sonnenaufgänge und Sonnenstrahlen, die in die Wohnung und in sein Bewusstsein gedrungen waren. Vor allem aber an die Dämmerung, die langsamen Bewegungen der Mutter, die gedämpften Geräusche von Wasserhahn und Töpfen, Nähmaschine und Radio. (Manchmal dachte er, dass er die Lautstärke von Margots Radio auf ähnliche Weise regulierte wie damals seine Mutter.) Die Kindheit war schwarzweiß, die Bilder aus dieser Zeit enthielten keine Farben. Er konnte sich auch nicht erinnern, was er damals gedacht hatte. Erinnerungen an Worte und Stimmen besaß er erst aus der Volksschule. Wie er über die gefliesten Korridore gerannt war. Diese Korridore tauchten oft in seinen Träumen auf, vor allem in den Jahren, als er beim Botendienst arbeitete. Die Erinnerungen aus dieser ersten Zeit waren vage. Der Nebel begann sich mit dem zweiten Abschnitt seines Lebens zu lichten, der vom ewigen Treten in die Fahrradpedale geprägt war. Doch auch hier schien alles grau. Erst mit dem plötzlichen Erwachen gegen Ende seiner Botenzeit verknüpfte er Eindrücke, die ihm Freude bereiteten. Helle schwedische Sommernächte, angenehme Gerüche, Lachen und warme Hände. Eine Art Ursprünglichkeit, ein vorbehaltloser Zustand. In diesen letzten Botendienstjahren ging es vor allem darum, wie er durch seinen Arbeitskollegen eine eigene Identität fand, Teil einer politischen Schule wurde. Von dort schweifte die Erinnerung zu der Fußverletzung und in das Wartezimmer, das ihn in den kleinen Marktflecken und hierher in dieses Zimmer geführt hatte.
Und dann? Genauer gesagt, jetzt?
Er trinkt ein Glas Wasser. Dann stellt er sich ans Fenster und schaut über die kalte weiße Fläche.
Er lässt den gestrigen Tag Revue passieren. Was folgt für ihn daraus, jetzt, da er damit leben muss? Natürlich kann er Enström und Erlandsson dazu zwingen, ihn in seinem Kampf gegen Lönngren zu unterstützen, bei der Suche nach einem potenziellen Mörder. Aber inzwischen zweifelt auch er daran, ob das eigentlich sinnvoll ist, auch er hat an diesem Vormittag das Gefühl, der Kampf sei verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Er versucht, noch einmal die Wut in sich aufsteigen zu lassen, als er Lönngrens Büro verließ, aber er findet nur das Bild, wie er mit geballten Fäusten durch die Straßen des Ortes streift.
Er macht sich eine Dosensuppe warm und denkt, dass er zumindest nie sein Wort gebrochen hat oder abtrünnig wurde und es auch niemals tun wird.
Gegen zwei Uhr nachmittags stieg Bertil die Stufen des Konsumladens hinauf und öffnete die Tür. Er klopfte sich im Eingang den Schnee ab. Im Geschäft befanden sich nur ein paar Kunden. Er wartete an der Theke. Als er an die Reihe kam, erkundigte er sich, ob Paulus Blomgren da sei. Er hatte den Eindruck, dass seine Stimme nicht besonders fest klang, doch die Verkäuferin schien es nicht zu bemerken. Sie bat ihn um etwas Geduld und verschwand hinter den Regalen, um Blomgren zu holen. Kurz darauf kam sie mit ihm zurück. Blomgren hatte sein Sakko ausgezogen und war wohl mit Büroarbeiten beschäftigt gewesen. Bertil sah, dass er einen Tintenfleck auf dem Zeigefinger hatte. Als Blomgren Bertil erblickte, runzelte er die Stirn. Die Überraschung war ihm deutlich anzumerken.
»Hallo. Du bist das also«, sagte er zögernd, »ich habe mich schon gewundert.«
»Ja«, sagte Bertil. »Störe ich?«
»Nein, nein. Überhaupt nicht.«
Blomgren schaute Bertil mit fragendem Blick an.
»Wolltest du etwas Bestimmtes von mir?«, sagte er und nickte einem Kunden zu, der das Geschäft betrat. »Sollen wir ins Büro gehen?«
»Nein, das ist nicht nötig«, antwortete Bertil. »Ich wollte nur wissen, ob du Spielkugeln hast. Du weißt schon, Tonkugeln in verschiedenen Farben. Mit denen die Kinder spielen. Solche, wie wir sie hatten. Weißt du, was ich meine?«
»Ja, sicher haben wir die«, sagte er. »War es das, was du von mir wolltest?«
»Ja.«
»Ach ja?«
Blomgren öffnete eine Schublade und fragte Bertil, wie viele er haben wolle.
»Sind jetzt teurer als in der Zeit, als wir Kinder waren.«
»Für eine Krone«, antwortete Bertil. »In verschiedenen Farben.«
Blomgren nahm eine braune Tüte und ließ die Kugeln der Reihe nach hineinrollen. Dabei zählte er sie sorgfältig. Dann überlegte er einen kurzen Moment und legte eine Kugel extra dazu. Er faltete die Tüte zusammen und legte sie vor Bertil auf die Theke.
»Eine gibt’s gratis. Freundschaftshalber.«
Bertil nahm eine Krone aus der Hosentasche und legte sie neben die Tüte.
»Ich brauche sie für jemand anderen«, sagte er. »Als Geschenk.«
»Verstehe. Für die kleine … wie heißt sie noch gleich?«
»Rubinchen.«
»Wer ist Rubinchen?«
»Margots Tochter. Wir nennen sie Rubinchen.«
»Ach so. Das wusste ich nicht. Ist ja ein komischer Name für ein Kind. An dieses Mädchen hab ich jedenfalls gedacht.«
»Für sie habe ich die Kugeln aber nicht gekauft«, antwortete Bertil. »Ich will sie Enström und Erlandsson schenken.«
Blomgren wurde plötzlich ernst, und Bertil versuchte zu erkennen, ob vor ihm der unsichtbare Schütze stand, dem er während der Jagd im Wald begegnet war. War es Paulus Blomgren gewesen? Nein. Da war nichts zu sehen. Hier stand einfach Paulus Blomgren.
»Tatsächlich? Die beiden haben begonnen, mit Kugeln zu spielen?«, sagte Blomgren. »Um Himmels willen!«
»Ja, nicht wahr?«
Bertil nahm die Tüte und war vollkommen ruhig, als er dem stämmigen Filialleiter in die Augen sah.
»Bist du der, der geschossen hat?«, fragte er.
Blomgren lächelte, er behielt die Fassung, war ganz entspannt.
»Nein«, sagte er.
»Ich glaube, dass du es warst.«
»Was sollte es für Beweise gegen mich geben?«
»Vielleicht gäbe es jede Menge, wenn nicht ausgerechnet Lönngren der zuständige Polizeibeamte wäre, unter einer bürgerlichen Regierung.«
»Wovon redest du denn da, zum Teufel?«
»Von Politik, Blomgren. Und vergiss nicht, dass die Welt sich verändert. Falls du geschossen hast, wird es früher oder später herauskommen.«
»Ich habe nicht geschossen.«
»Hast du gesagt, ja. Danke für die Kugeln. Bezahlt habe ich schon.«
Bertil verließ den Laden. Beim Schließen der Tür sah er, dass Blomgren bewegungslos hinter der Theke stand und ihm nachschaute.
Als Bertil zu dem Gebäude am Fluss kam, in dem seine Unterkunft lag, betrat er die leere Wohnung im Erdgeschoß, leerte die Kugeln auf den Boden und sah sie in verschiedene Richtungen davonrollen. Er warf die braune Tüte hinterher, bereute es sogleich, hob sie wieder auf, blies Luft hinein und ließ sie mit einem Knall zerplatzen. Dann schloss er die Tür und ging die Treppe hinauf. Er legte sich aufs Bett und verschränkte die Hände unter dem Nacken. Der Besuch bei Blomgren bestätigte, worüber Enström in der Nacht gesprochen hatte. Als er im Laden stand und zusah, wie Blomgren die Kugeln in die Tüte packte, war ihm klargeworden, dass sich das Sichtbare nicht begreifen ließ, ehe nicht alle Abhängigkeiten und Zusammenhänge aufgedeckt waren. Erst dann konnte man Fakten und Wirklichkeit besser einschätzen. Doch diese Einsicht vermochte seine Angst nicht zu besänftigen. Er war nicht wirklich Herr seiner Gefühle, sodass er sie mit einem Griff hätte kontrollieren und die Unruhe loswerden können. Eine Unruhe, die aus dem Konflikt zwischen seinen persönlichen Bedürfnissen und dem objektiven Lauf der Dinge herrührte. Er fuhr mit einem Ruck aus dem Bett und setzte sich an den Tisch, um Svante zu schreiben. Aber als er nach einer Stunde den Stift fallen ließ, standen nur wenige Worte auf dem Papier: Lönngrens Untersuchung abgeschlossen. Keine Klärung. Bertil.
Müde kehrte er ins Bett zurück. Er schloss die Augen und schlief mit dem Arm auf dem Gesicht ein.
Fünf vor sieben ging er auf den Hintereingang des Gemeindehauses zu und stieg die knarrende Treppe zum Saal D hinauf, der in einem niedrigen Geschoß über dem Bühnenraum lag. Enström und Erlandsson waren bereits da. Er nickte, legte den Mantel auf einen Stuhl und setzte sich an die Schmalseite des Tischs.
»Mehr werden wir wohl nicht«, sagte Enström. »Wir können also gleich anfangen.«
Erlandsson führte Protokoll, und Enström war der Einzige, der sprach. Er ging einige Aufrufe des Zentralkomitees durch. Dann las er eine Rede Stalins vor, die ebenfalls das Zentralkomitee geschickt hatte.
Bertil fand, dass Enström energischer wirkte als in der letzten Zeit. In seiner Stimme lag Kraft, und er sprach, als wäre der Raum vollbesetzt.
Es wurde ein kurzes Treffen. Nachdem das Datum für die nächste Sitzung festgelegt war, schaute Enström Bertil und Erlandsson an und sagte, nun sollten sie die Internationale singen, auch wenn sie nur zu dritt waren.
Sie standen also auf und sangen. Enström gab mit dröhnendem Bass den Ton an.
Vor dem Gemeindehaus verabschiedeten sie sich.
Die Schüsse wurden nicht erwähnt. Erlandsson sagte auf Wiedersehen und ging, während Bertil und Enström unter einer Straßenlaterne stehen blieben.
»Danke wegen gestern«, sagte Bertil.
»Was gibt es denn da zu danken? Es tut mir leid, dass ich so unwillig und träge war. Als du weg warst, konnte ich nicht einschlafen. Es war wirklich gut, dass du gesagt hast, was zu sagen war.«
»Und was machen wir nun?«, sagte Bertil, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.
»Ich weiß es immer noch nicht. Aber wir halten es am besten so, wie du vorgeschlagen hast. Kannst du in ein paar Tagen zu mir in den Laden kommen, damit wir die Sache in Angriff nehmen? Schade, dass Svante nicht dabei ist.«
»Ja, wäre schön, ihn hier zu haben. Aber er ist nun mal nicht hier.«
»Nein. Leider.«
Sie setzten sich in Bewegung. Ein Schritt nach dem anderen. Seite an Seite.
Als Margot heimkam, war Bertil eingeschlafen. Ohne ihn zu wecken, kroch sie neben ihm ins Bett.
Am nächsten Morgen wachte sie von Rubinchens Gejammer auf und stellte fest, dass er bereits wieder weg war. Sie stand auf und sah sich nach einer Nachricht um, fand aber nur einen Fäustling, den Bertil offenbar vergessen hatte. Sie hielt ihn lange in der Hand und dachte an ihn.
Dann setzte sie Kaffee auf.
Es war kurz vor halb acht.
Bis zum Lucia-Fest des Jahres 1951 waren es noch drei Tage.