Kurz nach Mitternacht hat er sich wieder auf den Stuhl gesetzt, den Blick auf die Tapete geheftet, die Hände ruhen auf den Oberschenkeln. Vor ihm auf dem Tisch steht eine unberührte Tasse Tee.
Er ist vollkommen reglos und hat Angst. In sich spürt er das diffuse Verlangen nach einer Zigarette.
Er weiß, nun ist alles zu Ende. Das Gefühl, verloren zu haben, alle Brücken einstürzen zu sehen, macht ihm nicht so viel aus wie die Fremdheit seines eigenen Körpers. Er fühlt, wie er sich auflöst, als wäre er nicht länger eine Einheit, sondern bestünde aus verstreuten Teilen, ohne Verbindung zueinander. Von einem scharfen Heulen wie von einer Hochspannungsleitung zerspringt ihm beinahe der Kopf. Das Geräusch wird immer stärker, und er fragt sich, wie lange er das noch aushält. Er bezweifelt, noch irgendeinen Widerstand leisten zu können. Der scharfe, hohe Ton gleicht einem Brenner, der Blech schneidet. Die Flamme kommt näher und näher, und er ist sich nicht mehr sicher, ob es Einbildung ist oder die Flamme gleich an dem Punkt durch die Tapete fahren wird, auf den er starrt.
Plötzlich erinnert er sich an etwas. Als er hier einzog, nachdem er im Sägewerk zu arbeiten begonnen hatte, musste er das Zimmer gründlich saubermachen. Er sieht den Rattendreck und die dicken Staubschichten noch vor sich. Aber er erinnert sich auch daran, dass er auf dem Boden des Schranks eine kaputte Schutzbrille fand. Hat er sie damals weggeworfen? Das Heulen ist jetzt unerträglich. Er steht auf und geht über den Korkteppich zum Schrank. Er macht Licht und beginnt zu suchen.
Die Schutzbrille hängt an einem Haken. Er nimmt sie und schließt die Schranktür. Dann kehrt er zu seinem Stuhl zurück und setzt sie auf.
Wartet.
Nach einer Weile glaubt er zu spüren, dass das Heulen langsam schwächer wird und in ein taubes Vibrieren an den Schläfen übergeht. Bertil starrt weiter auf die Tapete, die durch die Schutzbrille einen lila Farbton bekommen hat. Er nimmt seine frühere Haltung wieder ein, der Rücken gerade und die Hände auf den Schenkeln ruhend.
So sitzt er da, und alles ist zu Ende.
Und doch auch nicht.
Er kann einfach nicht aufgeben, sich besiegen lassen. Irgendwo hinter all dem Elend, das sich so hartnäckig behauptet, kämpft das Leben, unbeschadet und unberührt. Aber wie soll er dorthin finden? Wie soll er sich aus dem Zustand befreien, der ihn jetzt beherrscht und ihn verrückt zu machen droht?
Wie ringt man einen unsichtbaren Feind nieder?
Er sitzt da in seinen dicken Wollsocken mit großen Löchern an den Fersen. Undeutlich nimmt er wahr, dass er friert, dass die Kälte des Fußbodens langsam die Beine hinaufkriecht.
Er betrachtet seine Hände, bewegt vorsichtig die Fingerspitzen, lässt sie über die raue Oberfläche der Hose streichen.
Auf einem Hosenbein hat er einen Farbfleck. Der Nagel des kleinen Fingers kratzt daran. Der hohe, heulende Ton hat einer drückenden Stille Platz gemacht, und er fängt wieder an zu denken. Die unzusammenhängenden Wortfetzen und Bilder, die wie wilde Ratten in seinem Kopf herumrasten, sind verschwunden, jetzt reihen sich Gedanken aneinander, die er beherrschen kann. Er legt die Arme auf den Tisch und beugt sich vor, bis er sein Gesicht im Tee sieht. Er beobachtet sein Spiegelbild, nimmt die Tasse und leert sie in einem Zug.
Dann steht er hastig auf, geht zum Waschbecken und dreht den Wasserhahn auf. Er wäscht sich lange und gründlich die Hände. Als er sie abgetrocknet hat, reißt er sich die Schutzbrille vom Gesicht und wirft sie ins Waschbecken.
Er setzt sich auf die Bettkante und zieht die Gummistiefel an.
Und er denkt nach.
Er muss etwas tun, irgendetwas. Die Passivität zieht ihn zum Grund des Flusses hinab, er ertrinkt, wenn er seine Kräfte nicht zum Gegenangriff sammelt. Er muss hinaus, zurückschlagen, auch wenn er nur gegen Schatten kämpfen kann.
Als er vor dem Haus im Schnee steht, spürt er, wie kalt es ist. Er zieht die Mütze bis zu den Augenbrauen hinunter und steckt die Hände in die Manteltaschen, obwohl er Handschuhe trägt.
Eine Minute lang steht er ganz ruhig da.
Dann geht er in Richtung Ort.
Es sticht und zerrt in seinem Inneren, aber er leistet Widerstand. Die Gummistiefel knirschen im Schnee, und er bewegt sich schnell.
Er geht auf ein Ziel zu, das er noch nicht kennt.
Als er den Bahnübergang erreicht, auf dem er einmal ausgerutscht und hingefallen ist, biegt er von der Straße ab und folgt den Schienen. Er geht in der Mitte des Gleises und wendet sich hin und wieder zurück, um seine Fußspuren zu betrachten. Vor ihm liegt der gelb beleuchtete Rangierbahnhof. Auf der Gleisanlage sieht er die Güterwagen und Loks, die kalt und unbeweglich dastehen.
Es ist nachts um Viertel nach eins.
Bertil betritt die Anlage, auf der sich die einzelnen Gleisspuren zu unregelmäßigen Schienensträngen verästeln, hält inne und nimmt die Mütze ab. Er lauscht, aber ringsum ist nichts als Stille. Er blickt sich um, wie damals, als er in dem kleinen Marktflecken ankam und nach einem Zifferblatt suchte.
Dann wirft er die Mütze in den Schnee und lässt ein Brüllen los. Er ballt die Hände zu Fäusten, legt den Kopf in den Nacken und stößt einen Schrei aus, der kein Echo findet.
Und dann geht alles wie von selbst.
Er weiß, dass es falsch ist, aber es ist nötig, um überhaupt weitermachen zu können.
Und genau das möchte er. Weitermachen.
Deshalb beschließt er, der Wut freien Lauf zu lassen.
Gegen seine Schatten zu kämpfen, um dann gegen seine Feinde kämpfen zu können.
Anfangs geht er vorsichtig, mit federnden Schritten, dann beginnt er, auf einen Güterwagen zuzulaufen, der neben dem Depotgebäude steht. Er stolpert über eine Weiche, kann sich aber auf den Beinen halten. Vor dem Güterwagen geht er in die Knie, stützt sich gegen einen Puffer, reißt mit einem Ruck den Bremsklotz weg und wirft ihn zur Seite. Er stemmt sich mit aller Kraft gegen den Waggon, bis dieser zu rollen beginnt. Dann läuft er zum nächsten Güterwagen und macht das Gleiche. Die ganze Zeit begleitet von dem Gedanken, dass es falsch ist, aber nötig, um weiterzumachen. Er zerrt und rüttelt an einer Weiche. Kurz darauf hört er ein gewaltiges Krachen hinter seinem Rücken. Als er sich umdreht, sieht er, dass der erste Waggon mit einem Kohlewagen kollidiert ist. Der Knall pflanzt sich durch die Nacht fort, und ihn befällt ein Gefühl von Reue. Aber er zwingt sich, weiterzumachen, rennt über den Rangierbahnhof, schleudert seine Handschuhe weg und überlässt sich dem Wahnsinn, den er nun endlich ausleben kann. Bald rollen mehrere Waggons über die Verschiebeanlage und stoßen mit langanhaltendem Krachen ineinander. Der erste Güterwagen neigt sich und kippt wie in Zeitlupe zur Seite, eine langsame Bewegung, die mit einem ohrenbetäubenden Donner endet. Einmal stürzt Bertil schweißüberströmt auf seinem Weg zwischen den Waggons. Er ist außer Atem, aber er jagt weiter.
Als die ersten Leute, vom Lärm geweckt, herbeigelaufen kommen, ist alles bereits vorbei. Mit verschlafenen Stimmen rufen sie einander nervöse Kommentare zu. Sie geraten zwischen den Waggons ins Stolpern und verstehen nicht, was geschehen ist. Unschlüssig irren sie herum, knöpfen ihre Hosenschlitze zu und stopfen die Enden ihrer Hemden in den Bund.
Er steht im Schutz des dunklen Depotgebäudes und sieht ihnen zu. Immer noch außer Atem, spürt er, wie auf seinem Rücken der Schweiß abzukühlen beginnt. Er sinkt zu Boden und setzt sich auf etwas Kaltes, ohne zu wissen, was es ist. Er denkt, dass es noch eine Weile dauern wird, bevor sie systematisch anfangen zu suchen, und bis dahin werden sie ihn nicht finden.
Plötzlich ist er sehr müde und legt den schweren Kopf auf die Hände. Er zittert vor Kälte, aber er ist nicht mehr kraftlos. Jetzt hat er den nötigen Fehler begangen, jetzt kann er weitermachen. Er kratzt sich am Haaransatz und denkt, gleich werden sie kommen.
Als sie ihn schließlich fanden, war er aufgestanden und erwartete sie stehend. Sie näherten sich vorsichtig und versuchten, seinen Blick einzufangen, aber er sah an ihnen vorbei, in eine Zukunft, in der er nicht mehr gegen Güterwagen und Schatten kämpfen musste. Er wusste nun, dass die Zukunft unwiderruflich ihm gehörte. Er war seinen Zweifeln auf den Grund gegangen und hatte sich von ihnen befreit. Er hatte Schläge zu spüren bekommen und wusste, wer geschlagen hatte. Er war der Verfolgte gewesen.
Nun gehörte er zu denen, die verfolgen würden.
In der Zukunft, die er jenseits des Rangierbahnhofs sah, würden die Ursachen, die ihn zu dieser Nacht getrieben hatten, nicht nur für ihn selbst erkennbar werden, sondern sie wären auch ein sichtbarer Teil jener größeren Wirklichkeit, die sich eines Tages immer zeigt.
Nun würde er wieder kämpfen, gemeinsam mit seinen Freunden. Als die Menschen, die ihn fanden, einige Meter von ihm entfernt zögerlich einen Halbkreis bildeten, nickte er ihnen zu.
Dann bat er sie, ihm bei der Suche nach der Mütze und den Handschuhen zu helfen, die er zwischen den Schienen in den Schnee geworfen hatte.