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M ein Knöchel war nicht gebrochen. Dr. Bernette verband ihn mit einer breiten weißen Bandage und wies mich an, ihn ein paar Tage nicht zu belasten. Sein Auto war noch nicht mal am Ende unserer langen Auffahrt angekommen, da widersetzte ich mich bereits seinen Anweisungen, indem ich zum Kochen in die Küche humpelte. Es war gut, dass ich das tat, denn Verletzung hin oder her, mein Vater, Og und Seth erschienen alle wie jeden Abend um sieben Uhr hungrig in der Küche und erwarteten, dass ich bis dahin ein Essen zubereitet hatte. Ich hatte hastig das Abendessen zusammengewürfelt – Rindfleischstücke, gebraten mit Kohl aus unserem Küchengarten, eine Schale mit übrig gebliebenen Buttermilchbrötchen vom Vorabend, vier Kolben gebutterter Mais und die letzten Stücke von einem zwei Tage alten Pfirsichkuchen – aber keiner beklagte sich. Das einzige Geräusch während des Abendessens war das Kratzen von Besteck auf den Tellern und ab und zu ein Rülpser von Onkel Og. Seth hielt den Kopf gesenkt, um seine blaue, geschwollene Nase möglichst zu verstecken, und schlang sein Essen in großen Bissen herunter. Entweder hatte der Kampf ihn so gierig gemacht, oder er wollte einfach so schnell wie möglich vom Tisch aufstehen. Er aß seinen Teller doppelt so schnell leer wie wir und stand sofort auf.

»Du gehst heute Abend nicht raus, mein Sohn«, entschied mein Vater, bevor Seth Gelegenheit hatte, seine Pläne zu verkünden.

»Was scherst du dich darum?«, gab Seth zurück. Er blinzelte, als wären die Lampen in der Küche zu grell. Seine entstellte Nase ließ sein Gesicht ganz fremdartig aussehen.

»Pass bloß auf deinen Ton auf, Junge«, warnte ihn mein Vater. Er bestrich sich ein Brötchen mit Butter und biss herzhaft hinein, wobei er auf die freie Tischfläche zwischen sich und Seths Platz starrte.

Seth trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Mein Vater schluckte und befahl ihm, sich wieder hinzusetzen. »Abendessen ist noch nicht vorbei«, fügte er hinzu.

Meine Mutter hatte unsere Familie nach den strengsten Regeln der Etikette, Methodistenlehre und praxisbezogenem Handeln geführt. Für sie gab es eine anständige und eine unanständige Art, so ziemlich alles zu tun: angefangen bei Tischmanieren über Sprechen und Sticken bis hin zur korrekten Weise, Mayonnaise auf einem Sandwich zu verstreichen, Teppiche auszuklopfen oder die Hühner zu überreden, dass sie mehr Eier legten. Wir durften in der Kirche nicht die Beine übereinanderschlagen, mit Älteren nicht reden, wenn sie uns nicht selbst angesprochen hatten, oder nicht ohne Sattel reiten, und ich, als Mädchen, durfte in der Öffentlichkeit nicht rennen, außer damals in Leibeserziehung, als ich noch zur Schule ging. Nachdem Mutter gestorben war, versuchte mein Vater, ihre hohen Standards und ihre allgegenwärtigen Regeln aufrechtzuerhalten, aber sie zu befolgen, hatte nie seiner Natur entsprochen, und über ihre Einhaltung zu wachen noch weniger. Kindererziehung war immer Mutters Domäne gewesen, und er schien nie zu wissen, was er tun sollte, nachdem sie weg war. Er bestand auf der Einhaltung der Regeln, wenn sie ihm wieder einfielen, eher als eine Art Hommage an Mutter oder um seiner schlechten Laune Luft zu machen, als aus echter Sorge um unser Benehmen. Er wandte die alten Regeln so sporadisch an, dass Seth und ich nie wussten, an welche Grundsätze wir uns halten sollten und wann. Meistens stand Seth vom Essen auf, wenn er fertig war. Von mir wurde erwartet, dass ich das Geschirr abspülte, das war klar, also ließ ich mir Zeit und aß meinen Teller immer als Letzte leer. Aber an jenem Abend wurden neue Regeln aufgestellt.

»Du machst heute Abend den Abwasch«, sagte mein Vater zu Seth, bevor er noch einen Bissen von seinem Brötchen nahm.

Ich weiß nicht, wer erstaunter war über diese sachliche Verkündigung – Seth oder ich. Ein Prinzip, das in meiner Familie von jeher gegolten hatte, war das, dass die Frauen sämtliche Hausarbeiten erledigten. Meine Mutter hatte das immer gemacht, ohne sich zu beschweren. Ob die ungewöhnliche Forderung meines Vaters auf die Sorge um meinen Knöchel zurückzuführen war oder als Strafe für Seth gedacht war, oder vielleicht auch beides, sagte er nicht. Seth warf den Kopf zurück und stöhnte. Onkel Og stieß ein asthmatisches, höhnisches Kichern aus.

Mein Vater aß sein Brötchen auf, wischte sich den Mund mit einer Musselinserviette ab und sagte: »Dieser mexikanische Junge ist mittlerweile über alle Berge. Und wenn er es nicht ist, dann wird es dieser Familie nur unnötigen Ärger bringen, wenn man ihm nachgeht.«

Die Annahme meines Vaters, dass Wil Mexikaner war, erregte unser aller Aufmerksamkeit.

»Mexikanisch?« Og grunzte verächtlich, klatschte sich auf seinen kurzen rechten Beinstummel, dann schimpfte er in Richtung Seth: »Du lässt dich von so einem Latino austricksen, du Taugenichts?«

»Vielleicht war er ja gar kein Mexikaner«, gab Seth giftig zurück. »Ich weiß nicht, was zur Hölle er war, außer ein Hurensohn.«

»Das reicht«, befahl mein Vater. Ich wusste nicht, ob es ihre Scheinheiligkeit oder ihre Bösartigkeit oder einfach nur der Klang ihrer Stimmen war, den er nicht mehr ertragen konnte.

Ich wollte aufstehen und ihnen klarmachen, dass sie nicht das geringste bisschen über Wilson Moon wussten. Ich hatte schon da das Gefühl, Wil irgendwie zu besitzen, dass die Männer hier am Tisch zwar mit mir verwandt waren, aber mir weniger bedeuteten als er.

Eine Regel, die meine Mutter mir immer vorgelebt hatte, war die, dass eine Frau sich selbst einen Gefallen tut, wenn sie sehr wenig sagt. Ich erlebte sie oft zurückhaltend in Unterhaltungen, vor allem gegenüber den Saisonarbeitern, die mit uns am Tisch aßen. Doch mir wurde irgendwann klar, dass sie, genauso wie ich, genauso wie Frauen in allen Zeitaltern, um den Wert des Schweigens als Wachhund für ihre Wahrheit wusste. Indem sie nach außen hin nur einen Bruchteil ihres Inneren zeigte, bot eine Frau den Männern weniger Angriffsfläche. Ich heuchelte also Gleichgültigkeit, als das Gespräch auf Wilson Moon kam, obwohl meine Adern summten wie elektrische Leitungen, als sein Name erwähnt wurde. Ich aß meine Mahlzeit auf. Ich trank meine Milch. Ich bat, aufstehen zu dürfen. Als ich aufstand, merkte ich, wie Seth mich wütend anschaute, selbstverständlich erbost über diesen Rollentausch, aber da war auch noch etwas Unergründliches, Beängstigendes in seinen Augen. Ich humpelte aus der Küche und die ausgetretenen Holzstufen hinauf in den Trost meines Schlafzimmers, während ich im Geiste nach einer Beschreibung für das Gefühl suchte, das ich gerade in Seths Blick gesehen hatte. Ich konnte es nicht benennen. Ich wollte nicht, dass es Argwohn war, und an diesem Punkt meines Lebens wusste ich noch nichts über das unbezähmbare Buschfeuer der Rache.

In der Nacht lag ich im Bett und vermisste meine Mutter.

Es war Jahre her, dass ich mich auf diese Art nach ihr gesehnt hatte, und ich war überrascht, dass meine Erinnerung an sie in diesem Moment zu mir kam, wo ich mich doch von meinem pochenden Knöchel hätte ablenken können, indem ich an Wil dachte, Pläne für unser Wiedersehen schmiedete oder im Geiste noch einmal das wundervolle Gefühl durchlebte, von seinen Armen getragen zu werden. Nicht, dass ich in den fünf Jahren nach ihrem Tod nicht immer wieder an Mutter gedacht hätte, aber sie hatte mir beigebracht, vernünftig und effizient zu sein, und wenn man sich nach etwas sehnt, was man nicht haben kann, kann man keine von diesen beiden Tugenden umsetzen. Ich versuchte, sie nicht zu vermissen, indem ich ihre Praxisorientierung übernahm, was sich in meinem Herzen so absurd anfühlte, wie es klingt. Wenn ich ehrlich sein soll, tat es einfach zu weh, mich nach ihr zu sehnen.

Nach dem Unfall hatte ich zuerst gedacht, dass ich Calamus am meisten vermisste. Er hatte bei uns gelebt, seit ich ein kleines Kind war, nachdem seine Eltern, die große Schwester meiner Mutter und ihr Mann, von einem Tornado getötet worden waren, der über ihre Putenfarm in Oklahoma gezogen war. Wie sie wirklich zu Tode kamen, wurde nie ausgesprochen, also malte ich mir in meiner kindlichen Fantasie aus, wie ihr ganzes Haus gen Himmel gerissen wurde, wo es dann inmitten Hunderter kollernder Puten herumwirbelte, die in den letzten Momenten ihres Lebens die wunderbare Erfahrung des Fliegens machten, während der kleine achtjährige Cal magischerweise im Boden verwurzelt blieb, mit einer Mischung aus Staunen und Resignation zu der Szenerie hinaufblickte und ihnen nachwinkte. Unter welchen Umständen auch immer er letztlich zu uns gekommen ist, eines weiß ich: Solange ich zurückdenken kann, war der gutmütige Cal immer derjenige gewesen, der die getrennten Ströme unserer Familie zu einem Fluss vereinigen konnte. Er brachte Mutter manchmal zum Lachen, und seine präzise und bereitwillige Arbeit schien das Einzige zu sein, was meinen Vater stolz machte – abgesehen von einer besonders reichen Pfirsichernte. Cal verstand es, Seths Energie auf nützliche Dinge zu lenken, wie Fliegenfischen oder Motorenreparieren, und konnte ihn manchmal sogar beruhigen, wenn er seine Wutanfälle hatte. Für mich war Cal oft der einzige Schoß, auf den ich mich flüchten konnte, wenn ich einen Kuss auf ein aufgeschürftes Knie brauchte oder einfach einen Freund.

Doch als meine Erinnerungen an Cal nach einer Weile verblassten, wurde mir klar, was es bedeutete, auf dieser Welt ein Mädchen ohne Mutter zu sein. Umgeben ausschließlich von Männern, fehlte mir einfach jedes Vorbild. Nach Mutters Tod erwarteten die Männer von mir, dass ich geräuschlos ihre Rolle übernahm – ihnen ihr Essen kochte, ihr Pipi von der Toilette wischte, ihre schmutzigen Sachen wusch und zum Trocknen aufhängte und mich um jedes noch so kleine Ding im Haus und den Ställen und im Garten kümmerte. Meine Mutter hatte mir zwar die Grundlagen der Hausarbeit beigebracht, aber als ich auf einmal im zarten Alter von zwölf Jahren diese Arbeiten allein erledigen sollte, wusste ich nicht, ob ich sie alle korrekt erfüllte. Ganz sicher nicht so gut, wie sie es getan hätte. Mehr als alles andere war ich unsicher, ob ich diese Arbeiten überhaupt tun wollte, und wenn nicht, ob ich das dann sagen durfte. Nach einer Weile wusste ich die Antworten.

Was noch schlimmer war: Wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter begann sich mein Körper zu verändern. Ich wurde schneller reif als meine wenigen gleichaltrigen Schulkameradinnen, und ich wusste überhaupt nicht, was mit mir geschah und was ich zu erwarten hatte. Ich war zu schüchtern, und ich arbeitete zu viel, um mit irgendeinem Mädchen wirklich ein vertrautes Verhältnis zu haben. Meine einzige Hoffnung war, Hänseleien auf dem Schulhof aus dem Weg zu gehen, indem ich mich versteckte. Da ich nicht wusste, wo oder wie ich einen BH hätte kaufen können, zog ich weite Pullover an und mehrere Schichten von Oberteilen. Als das nicht mehr ausreichte, fing ich an, meinen Oberkörper mit einer elastischen Binde zu umwickeln, die ich per Spezialorder über Mr. Jernigan bezog, nachdem ich ihm eine genauestens ausgearbeitete Lüge von einem schlimmen Knie aufgetischt hatte.

Meine erste Monatsblutung kam wenig später. Als ich erwachte, lag ich in einem blutigen Kreis und war sicher, dass ich jetzt sterben würde. Scham und Intuition hielten mich davon ab, mit meinem Vater darüber zu sprechen. Ich riss das Laken herunter und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass es bis in die Matratze gesickert war. Ohne Zeit für eine anständige Reinigung zu haben, bevor ich Frühstück machen und zur Schule gehen musste, knüllte ich kurzerhand das Laken und meine blutige Unterwäsche und das Nachthemd zusammen, schob sie unter mein Bett und zog meinen geblümten Quilt über die beschmutzte Matratze. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, faltete ich einen Stapel Taschentücher zusammen und legte sie in meine saubere Unterwäsche, damit sie das Blut auffingen. Ich zog einen schwarzen Rock und darunter Wollstrümpfe an und darüber noch ein Sommerunterhöschen, damit alles an Ort und Stelle blieb.

»Warum gehst du denn so verdammt langsam?«, hatte Seth sich beschwert, als ich ihm auf dem Weg zur Schule hinterherging.

»Mutter will nicht, dass du fluchst«, erwiderte ich.

»Ja, gut, aber Mutter ist tot, oder?«, gab er zurück, und er ging noch schneller, bis er nur noch ein sich bewegender Klecks in der Ferne war.

Meine Mutter war mir nie so gründlich tot erschienen wie an jenem Tag auf meinem Weg zur Schule, als ich aus meinem Unaussprechlichen blutete und Angst hatte, dass die Taschentücher verrutschen könnten, während brennende Muskelkrämpfe durch meinen Unterleib schossen. Ich war sicher, dass ich zusammenbrechen und an diesem mysteriösen Leiden sterben würde, bevor ich das Schulhaus erreichte.

Als ich nach Hause kam, entdeckte ich einen Eimer Seifenwasser und eine Bürste neben meinem Bett. Das Bettzeug lag nicht mehr unter meinem Bett, sondern in einem Haufen neben dem Eimer, immer noch voller Blut, aber jetzt auch noch dreckig, als wäre es über die Erde geschleift worden. Meine schmutzige Unterwäsche fehlte ganz. Wie ein braves Mädchen begann ich, mein Bettzeug zu waschen, auf den Flecken herumzuschrubben, das Wasser auszuwringen und dann von Neuem zu schrubben. Stille Tränen liefen mir neben der Nase herunter, sammelten sich an der Unterseite meines Kinns und tropften dann in den Eimer.

Plötzlich erschien mein Vater auf der Schwelle, in seinem schmutzigen Overall und seinem ausgefransten Strohhut. Er kräuselte seine geschlossenen Lippen, als würde er die Worte schmecken, die er aussprechen könnte. Ich wollte ihm erzählen, was passiert war, so wie ich ihm einmal berichtet hatte, dass ich eine blutige Wunde entdeckt hatte, als eines unserer besten Schweine ein Stück aus einem anderen herausgebissen hatte. Ich wollte, dass er es mir erklärte, wie er es damals getan hatte – »Territorium«, hatte er gesagt –, und mir versicherte, dass Körper von selbst wieder heilen. Er schien auch wirklich etwas sagen zu wollen, aber dann trat er doch nur rückwärts von der Schwelle und wandte sich um, um den Flur hinunterzugehen.

»Lass deine privaten Sachen nicht da rumliegen, wo die Hunde sie finden und in den Garten zerren können«, murmelte er vom Flur aus. Dann folgten seine schweren Schritte, mit denen er die Treppe hinunterging und durch die Küche marschierte. Die Fliegengittertür quietschte beim Aufgehen und knallte hinter ihm wieder zu.

Wir hatten nur einen Hund, einen schwarz-grau gefleckten Hütehund, den wir einfach Pup nannten, bis er regelmäßig Forellen aus dem Willow Creek holte und sich den Namen Trout verdiente. Er war genau die Art von neugierigem Hund, der mein schmutziges Bettzeug selbstverständlich entdeckt hatte, doch mein Vater hatte Hunde gesagt – Mehrzahl –, und obwohl ich rückblickend weiß, dass er sich bloß versprochen oder ich mich verhört hatte, erzeugten damals meine ganzen Ängste und meine Unschuld und Unwissenheit das Bild eines ganzen bösartigen Rudels, das von diesem speziellen Blut angelockt wurde, meine Familie verfolgte und mir vielleicht auflauerte, um mich im Garten anzugreifen. Ich zog das Bettzeug vors Gesicht und weinte hinein, wobei ich meinen Pullover und meinen Rock nass machte. Von diesem Tag an schloss ich meine Zimmertür jeden Morgen, wenn ich hinausging. Ich machte sie nachts zu, wenn ich schlief. Wenn ich mich hinter meiner eigenen Zimmertür durchs Haus bewegen und meine Arbeit hätte erledigen können, hätte ich es gemacht. Ich war ein Mädchen in einem Haus voller Männer, und ich verwandelte mich schnell in eine Frau. Es war, als würde ich im Schnee aufblühen.

Meine Begegnung mit Wil sammelte die Geister dieser alten Gefühle und hauchte ihnen neues Leben ein. Die Gefühle, die er in mir entfacht hatte, waren mein nächster Schritt zum Frausein, und ich hätte eine andere Frau gebraucht, wie schon fünf Jahre zuvor. Realistischerweise hätte ich meiner Mutter nicht von Wil erzählt, selbst wenn sie im Nebenzimmer gewesen wäre. Sie wäre entsetzt gewesen von unserem unschicklichen Verhalten auf der Main Street und von seiner Kühnheit, mich einfach so auf seine Arme zu nehmen. Es waren gar nicht so sehr Mutters Ratschläge über das Aufblühen der Liebe, die mir fehlten. Als ich an diesem Abend in den Schlaf glitt, hätte ich mir eher gewünscht, dass jemand sich vor die Männer in meinem Haus stellte und das Recht einer Frau verteidigte, in Liebesdingen ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich bezweifle, dass Mutter mir geholfen hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Aber eine nützliche Eigenschaft einer verstorbenen Mutter ist die, dass man sie jederzeit in eine unerschütterliche Verbündete verwandeln konnte, ganz egal ob sie das in Wirklichkeit gewesen wäre oder nicht.

In jener Nacht träumte ich von meiner Mutter, die ihre kräftigen Arme ausgebreitet hatte und eine strudelnde Flut zurückhielt, während ich mich in Wils Umarmung rettete. Seth kämpfte hinter ihr mit den Wellen, verzweifelt, wütend, doch unfähig, an ihr vorbeizuschwimmen. Seine riesigen, lodernden Augen schauten genauso seltsam wie an diesem Abend, als ich vom Abendbrottisch aufgestanden und die knarzende Treppe hochgegangen war.