D ieser Winter war der trockenste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Gunnison County. Die Temperatur fiel in Iola zwar regelmäßig gut unter null, aber es wollte einfach kein Schnee fallen.
Während mein Vater sich Sorgen um den Wasserstand der Flüsse im nächsten Sommer und eine mögliche Dürre machte, wusste ich es durchaus zu schätzen, dass ich meiner Arbeit nachgehen konnte, ohne zusätzlich Schnee schaufeln oder durch die üblichen Verwehungen stapfen zu müssen. Erschöpfung mischte sich unter meine Trauer diesen ganzen langen, seltsam braunen Winter. Manchmal hatte ich nicht mal genug Kraft, um einen Korb Eier vom Hühnerstall ins Haus zu tragen, konnte keine Mistgabel heben, um damit Abels Box auszumisten. Ich weiß noch, dass ich kaum imstande war, meine Arme zu heben, um mir die Haare richtig waschen zu können, während ich in meinem sonntäglichen Bad saß. Stattdessen musterte ich meinen Körper und betrachtete nachdenklich meine wachsenden Brüste, meinen schwellenden Bauch. Die einst fadendünnen Venen auf meinen Händen und Füßen traten hervor wie junge Schlangen unter meiner Haut. Meine Monatsblutung hatte ausgesetzt. Naiv, wie ich war, dachte ich, dass mich die Trauer so schwer machte, mein Blut und meine Sehnsucht und meinen Kummer zusammenlaufen ließ, um mich eines Tages einfach nur noch gnädig explodieren zu lassen. Erst als ich das erste Flattern von Leben spürte – ganz zart zu Anfang, wie der Wimpernschlag eines Schmetterlings, dann stärker, wie ein winziges Vögelchen in meinem Bauch –, erfasste ich den wahren Grund meines Aufquellens und meiner Erschöpfung.
Ich verbrachte den Winter damit, meinen schwellenden Körper vor den Männern in meinem Haus zu verbergen. Zu Anfang war das noch ganz einfach, ich musste mir bloß eine elastische Binde um meine dicken Brüste binden, genauso wie ich es als schüchterne Heranwachsende getan hatte, als sie noch Knospen gewesen waren, und mehrere Lagen von Pullovern und Röcken gegen die trockene Kälte anziehen. Mein Vater war abgelenkt vom Einbringen des Heus, dem Zaunpfostenzuschneiden auf der Ranch der Mitchells und dem Wiederaufbau einer eingestürzten Wand in unserem Stall. Onkel Og blieb die meisten Tage in seinem Zimmer, soff Whiskey und hörte sich Radiosendungen an, oder was auch immer er da drinnen trieb, um sich die Zeit zu vertreiben, bis das Frühjahr es ihm wieder gestattete, auf der Veranda zu hocken. Manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich musterte, wenn ich das Essen auftischte oder frisch gewaschene Wäsche in seinen Schrank hängte. Nicht dass ich Argwohn oder Boshaftigkeit oder Mitleid in seinem Blick bemerkt hätte, aber der Ausdruck in seinen Augen schien mir zu sagen, dass er gerade meine Anwesenheit als ein richtiger Mensch bemerkt hatte, der mit ihm unter demselben Dach lebte. Er wusste etwas über meine Geheimnisse, aber er sagte nie einen Ton.
Seth war die meiste Zeit abwesend. Seit dem Tag, als Wils Leiche entdeckt worden war, fand Seth immer wieder Gründe, nicht in Iola zu sein. Erst war es ein Jagdausflug mit Forrest Davis, bei dem die beiden für zwei Wochen unterwegs waren und mit nur drei Moorhühnern und einem kümmerlichen Elch zurückkamen, der höchstens ein Jahr alt war. Dann war es irgendeine Arbeit an der Eisenbahnlinie, von der Holden Oakley gehört hatte, im Süden bei Durango, für die sich die beiden Jungs und Davis für fast einen Monat einstellen ließen, und dann kam Seth mit einem Stapel Scheine für die Haushaltskasse zurück. Er blieb ein paar Tage, in denen er meinem Vater half, die aufgrund ihrer Höhe schwer zu erreichenden Stellen an der Stallwand fertig zu machen, und betrank sich jede Nacht in der Stadt, ohne ein Wort mit mir zu reden oder auch nur einmal in meine Richtung zu schauen. Dann verschwand er wieder für einen Hilfsarbeiterjob auf dem Bau in Montrose. Mein Vater störte sich nicht daran, solange Seth weiterhin zur Familienkasse beitrug. Im Grunde schien Seths sporadische Abwesenheit meinen Vater eher zu erleichtern. Niemand in der Stadt hatte Seth mit Wils Tod in Verbindung gebracht, obwohl es kinderleicht gewesen wäre, den Schuldigen zu finden, wenn sich jemand wirklich dahintergeklemmt hätte. Ich sah meinem Vater an, dass er auch so seinen Verdacht hatte.
Ich brachte es nicht über mich, Seth mit seiner Tat zu konfrontieren. Sobald Wil tot war, war ich so überwältigt von den ganzen Geschehnissen, dass ich mich in die Rolle der gehorsamen Tochter flüchtete. Ich suchte Trost und Sicherheit in den täglichen Arbeiten auf der Farm und distanzierte mich von dieser grauenvollen Tat, so gut ich konnte: Ich schaute mir nie die hintere Stoßstange von Seths Chrysler an, um nach Spuren von Seilen oder Blut zu suchen, ich gestattete meinen Gedanken nie, mir das Bild von Wils Fleisch vorzustellen, wie es über den Kies geschleift wurde, verlangte nie, dass Sheriff Lyle den Mord untersuchte, und gab ihm auch keinen Fingerzeig, dass mein Bruder dahinterstecken könnte. Kurz und gut, ich war ein Feigling, genau wie Seth es geahnt hatte.
Und trotzdem verhinderte mein schwellender Bauch, dass ich mich ewig hinter der Arbeit verstecken konnte. Im Februar hatte ich schon Knöpfe versetzen müssen, um meine Röcke weiter zu machen. Jeden Morgen hatte ich einen räuberischen Appetit, und gleichzeitig war mir speiübel. Ganz gewöhnliche morgendliche Gerüche – die Eier, die Butter, der Pfeffer, der Schinken, die Buttermilchbrötchen, sogar der Geruch der Tierställe und der Brennholzstapel, der mit dem Wind hereinkam, sobald mein Vater das Haus betrat – gingen mir so durch Mark und Bein, dass ich oft auf die Toilette flüchten und mich übergeben musste. In den letzten Märztagen war ich für meine gesamte Garderobe zu dick geworden, außer für einen weiten, ausgestellten Mantel. Meine Wangen wurden immer runder, meine Finger schwollen an, mein Bauch stand vor wie eine Melone unter immer erstickenderen Schichten von Pullovern. Im April wurde mir klar, dass ich von zu Hause wegmusste.
Ich begann, meinen Weggang zu planen, als wäre es für ein anderes Mädchen. Ich hatte nicht viele Freundinnen gehabt, als ich heranwuchs, weder eingebildete noch andere, also packte ich für niemand Bestimmtes einen alten Rucksack mit Ausrüstung – Seile, Trockenfleisch, Streichhölzer und Kerzen, einen Topf, ein Handbeil, Einmachgläser und Konservendosen mit klassischen Vorräten, ein Messer, Gemüsesamen, Stricknadeln, Wolle, ein Stück in Wachspapier verpackte Seife, einen von Ogs riesigen Pullovern –, alles einfach nur für irgendein Mädchen in Schwierigkeiten, irgendein Mädchen, das fliehen musste. Ich überlegte mir eine Route für sie, war erleichtert für sie, dass ihr Hochland-Schneerucksack überraschend leicht war, und versuchte, all ihre Bedürfnisse und potenziellen Schwierigkeiten im Voraus durchzudenken. Bis zu jenem bewölkten Vormittag Mitte April, als Onkel Og nach dem Frühstück in sein Zimmer zurückrollte und mein Vater Trout in sein Auto lud und wegfuhr, um Mr. Mitchell beim Kalben seiner Kühe zur Hand zu gehen, hatte ich mich auf irgendeiner völlig blödsinnigen Ebene immer noch geweigert zu glauben, dass dieses schwangere Mädchen, das in die Berge gehen wollte, um sich selbst und ihrer Familie die Schande zu ersparen, um ihr Baby vor ihrem mörderischen Bruder in Sicherheit zu bringen, tatsächlich ich selbst war.
Ich gab Abel einen Eimer voll Hafer, dann sattelte ich ihn und führte ihn aus dem Stall. Anschließend setzte ich mir den schweren Rucksack mit den ganzen Vorräten auf, stieg ungeschickt aufs Pferd und trabte weg von der Farm und durch die immer noch schlafende Pfirsichplantage. Ich schaute nicht zurück.
Ich ritt auf Abel den Willow Creek entlang und eine felsige Steigung hoch, bis ich so hoch über Iola war, dass ich auf den kleinen viereckigen Fußabdruck hinunterschauen konnte, den die Stadt im sich dahinschlängelnden Tal bildete. Der Gunnison River erschien wie ein graues Band, das sich durch die Mitte zog, sein Wasser war grau und zähflüssig von der Dürre und der Kälte. Die Bahnschienen und der Highway 50 liefen neben ihm her. Ich konnte Ruby-Alice’ dunklen Pinienfleck südöstlich der Stadt ausmachen und gleich daneben unsere lange Auffahrt. Meine Augen folgten dem blassen Kies zu den zwei weißlichen Blöcken, die mein Zuhause und der Stall waren, neben denen die Obstbäume in der Frühsaison ihre nackten Zweige in die Luft reckten. Die bereits leicht grünen Weiden der Mitchells waren gefleckt mit großen braunen Punkten neben kleinen braunen Punkten – die Mutterkühe und ihre Neugeborenen –, und irgendwo dazwischen, stecknadelkopfgroß, mein Vater. Am anderen Ende des Tals stieg Rauch über verbrannte Erde, wo irgendjemand – ich tippte aufgrund der Lage auf Mr. Clifton oder vielleicht die Oakleys – gerade seine Felder abbrannte, um sie auf die Aussaat vorzubereiten. Ich spürte einen Stich von Schuldgefühl, weil ich mich nicht noch um den Garten gekümmert hatte, bevor ich die Farm verließ. Die Zwiebeln hatten wir im Herbst gepflanzt, und mein Vater konnte Arbeitskräfte auftreiben, die die Kartoffeln setzten, doch den Küchengarten anzulegen, sobald das Wetter wärmer wurde, war Frauenarbeit. Ich überlegte, ob mein Vater die Saatkörner finden würde, die ich beschriftet hinterlassen hatte, und sie selbst aussäen würde, oder ob er einfach ohne Kräuter auskommen würde. Es ging mir kaum in den Kopf, dass all seine Entscheidungen, wie er sich ernährte und sich wusch und zurechtkam, jetzt nicht mehr meine Sache sein sollten. Ich drehte um und ritt weiter hoch, ich ließ alles hinter mir, was mir vertraut war, ritt über einen Hügelkamm und auf der anderen Seite wieder hinunter – weit außer Sichtweite der Stadt, aber nicht so weit, dass Abel nicht wieder heimfinden konnte – und stieg ab.
Das Gewicht meines Rucksacks hätte mich beinahe umkippen lassen, als meine Füße den Boden berührten. Ich musste mich an Abels Zügeln festhalten und spürte, wie das drückende Gewicht des Zweifels meine Last verdoppelte. Eine ganze Weile stand ich so neben dem Pferd und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Alle Möglichkeiten machten mir gleichermaßen Angst, ich konnte mich weder weiterbewegen, um meinen Plan umzusetzen, noch zurück nach Hause. Ich hatte Zweifel an meiner Kraft, sowohl körperlich als auch geistig, und spürte die Versuchung, einfach wieder auf das loyale Tier zu steigen, das neben mir geduldig auf meine Entscheidung wartete. Ich legte mein Gesicht an Abels Hals, wobei mir bewusst war, dass ich mein letztes Band zu allem Bekannten löste, wenn ich ihn jetzt freiließ. Sobald er sich umgedreht hatte und mit diesem langsamen, sicheren Schritt den Hügel hinuntertrottete, den Pferde an sich haben, die instinktiv den Weg dorthin zurückfinden, wo ihn, wie er wusste, süßes Gras und ein weiches Strohbett erwarteten, wäre ich völlig allein. Ein winziger Fleck von einem Mädchen in einer weiten und unberechenbaren Wildnis.
Abel atmete tief und rhythmisch neben meiner Wange. Sein Fuchsfell war warm und feucht, weich wie gesponnene Baumwolle. Ich war acht Jahre alt gewesen, als ich Zeuge seiner Geburt wurde. Meine Mutter hatte mich kurz vor Sonnenaufgang aus dem Bett geholt, und dann saßen wir nebeneinander auf einem Strohballen und beobachteten fasziniert, wie mein Vater fachmännisch erst ein Bein, dann das andere aus dem blutigen Loch der Stute zog.
Abel glitt mit solchem Schwung in diese Welt, dass mein Vater mit dem schleimbedeckten Fohlen in den Armen hintenüberfiel, halb fluchend, halb lachend, und dann schaute er auf das benommene Neugeborene hinunter, als hätte er sein eigenes Baby im Arm. Meine Mutter taufte das Fohlen genau in diesem Moment Abel, denn sie meinte zu meinem Vater, Adam selbst hätte nicht mit ehrfürchtigerem Staunen auf sein Kind blicken können.
»Nicht Kain?«, neckte mein Vater – damals noch ein ganz anderer Mann, bei dem immer wieder Humor und Leichtigkeit durchblitzten –, bevor er das Fohlen losließ, damit es sich an die Nüstern seiner Mutter lehnen konnte.
»Nein, nicht Kain«, erwiderte meine Mutter kurz angebunden, denn sie hätte nie einen Scherz über irgendetwas gemacht, was mit der Bibel zusammenhing.
Mein junger Geist konnte nicht so recht begreifen, dass ein Pferd, das es Momente vorher noch nicht gegeben hatte, plötzlich einen Körper, einen Namen, ein Leben hatte und Teil unserer Farm geworden war, so wie die Pfirsichbäume und der Fluss. Mutter stieß einen entnervten Seufzer über den geistreichen Witz meines Vaters aus und ging zurück zum Haus, um das Frühstück herzurichten. Mein Vater wusch sich im tiefen Waschbecken im Stall, und Cal und Seth griffen sich Futtereimer und Mistgabeln, um sich an ihre morgendlichen Pflichten zu machen. Aber ich konnte mich nicht losreißen – hier war was vor meinen eigenen Augen aus dem Nichts geschaffen worden. Vorsichtig näherte ich mich dem neugeborenen Abel auf seinem Strohbett und streckte die Hand aus, um seinen glitschigen, neuen Hals zu berühren. Er schaute zu mir hoch mit seinen sanften, neugierigen Augen, die mir verrieten, dass ihm seine Ankunft genauso ein Rätsel war wie mir.
Jetzt rieb ich genau dieselbe Stelle an Abels Hals wieder, dann gab ich ihm einen Abschiedskuss. Ich ging rückwärts und sagte »Los, hü«. Ich stellte den Rucksack ab, damit ich leichter mit den Armen wedeln und ihn den Hügel hinunterscheuchen konnte.
»Los, Abel, geh nach Hause. Hü!«, rief ich und war mir meiner Entscheidung nicht mal sicher, als ich sie traf.
Das Pferd drehte sich zwar um, wollte aber nicht weitergehen.
»Hü! Hü! Los, geh jetzt!«, schrie ich ihn an und schwenkte meine Arme wie Windmühlenflügel. Abel rührte sich nicht von der Stelle. Ich schrie ihn weiter an und erwog ganz kurz die Möglichkeit, ihn mitzunehmen, wieder auf seinen Rücken zu steigen und weiter in die Berge zu reiten mit dem Trost eines Freundes, der zugleich als Transportmittel diente. Aber ich hatte schon genug Ärger gemacht. Sosehr ich wollte, dass Abel bei mir blieb, ich konnte nicht einfach das Pferd meines Vaters nehmen, und ich konnte Abel auch nicht irgendwelchen Risiken aussetzen, die uns auf unbekanntem Terrain erwarten könnten. Während mir die Tränen in die Augen stiegen, griff ich mir einen Stein in der Größe eines Baseballs und warf damit nach Abels Hinterhand. Er zuckte zusammen und machte ein paar erschrockene Schritte nach vorn, als der Stein in der Nähe seiner Hinterbeine auf den Boden aufschlug. Ich suchte mir noch einen Stein und warf damit nach ihm, diesmal traf ich ihn oberhalb seines Schweifes. Ich warf noch einen und noch einen, wobei ich über die Absurdität meiner Taten gegen ein Tier schluchzte, das ich doch liebte. Er begann, den Hügel hinunterzutrotten, widerstrebend, verängstigt, und ab und zu warf er einen Blick zu mir zurück, als wollte er mir eine Frage stellen, die er nicht formulieren konnte.
Ich war ein braves Mädchen gewesen. Ich war gehorsam und hilfsbereit und respektvoll zu meinen Eltern gewesen. Ich hatte meine Bibel gelesen. Ich hatte Pfirsiche in die Erntekörbe gelegt, als wäre jeder Pfirsich aus dünnem Glas. Ich sorgte dafür, dass das Haus sauber, die Bäuche gefüllt, die Wäsche gefaltet und die Farm versorgt waren. Ich stellte nicht zu viele Fragen und ließ es niemand jemals hören, wenn ich weinte. Ganz allein fand ich heraus, wie ich ohne Mutter zurechtkam. Und dann war mir ein schmutziger Fremder an der North Laura, Ecke Main Street begegnet, und ich hatte mich verliebt. So wie ein einziger Sturzregen die Ufer abtragen und den Verlauf eines Flusses verändern kann, so kann ein einzelner Umstand im Leben eines Mädchens auslöschen, wer sie zuvor war.
Ich schrie und warf einen Stein nach dem anderen, wobei mir die Tränen übers Gesicht strömten, ich schleuderte all meine Angst und meinen Kummer dem armen Pferd hinterher. Genau wie ich, bevor ich Wil traf, hatte Abel immer nur Gehorsam und Loyalität gekannt. Jeder Stein, mit dem ich nach ihm warf, lehrte ihn, was ich gelernt hatte: Jedes Gramm Gutes in dieser Welt wird von zwei Gramm Schlechtem aufgewogen. Man kann ein braves Mädchen sein, ein braves Pferd, man kann gehorchen, man kann lieben, aber man kann nicht erwarten, dass einem Gutes mit Gutem vergolten wird.
Der letzte Stein traf Abel am Maul, und zu meinem Entsetzen fing die Wunde an zu bluten. Er lief den Hügel hinunter, weg von dem Mädchen, das früher gut zu ihm gewesen war. Ich ließ mich auf meinen Rucksack fallen und weinte, als gerade die Wolkendecke aufbrach und die Mittagssonne eine salzige Kruste aus meinen Tränen machte.
Ich stellte mir die Küche auf der Farm vor, still wie zu Mitternacht, der Ofen kalt und leer. Mein Vater würde bei den Mitchells zu Mittag essen, also würde Og der Erste sein, der von meiner Flucht erfuhr. Noch bevor er in die Küche kam, würde ihm das Fehlen von Gerüchen auffallen, und wenn er hereinkam und niemand ihn bediente, wäre sein Verdacht über mich bestätigt. Er würde meinen Vater nicht anrufen, um ihn in Kenntnis zu setzen oder ihm zu erzählen, was er zu wissen meinte. Beide Reaktionen wären zu nahe an wirklicher Sorge gewesen. Wenn mein Vater am Abend heimkam, müde und blutverschmiert von der Hilfestellung beim Kalben, würde er Abel gesattelt im Hof herumlaufen sehen, dann würde er die Küche betreten, um festzustellen, dass ihn keine warme Mahlzeit erwartete. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie mein Vater über meine Abwesenheit nachgrübeln würde – das würde heißen, dass er mich, die Gegebenheit einer Tochter, als mehr als eine bloßes Stück Inventar betrachten müsste, mehr als eine schlichte Hausdienerin, mehr als das korrekte und berechenbare Mädchen. Ich stellte mir vor, wie er vorsichtig in mein Schlafzimmer schaute und den Zettel fand, den ich ihm auf meinem Bett hinterlassen hatte, und ihn langsam mit seinen zerschrammten Händen auffaltete. Ich bereute, dass ich nicht mehr geschrieben hatte, dass ich nicht den Mut gehabt hatte, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Auf dem Zettel stand:
Papa,
bin eine Weile weggegangen. Musste mich um was Wichtiges kümmern.
Bitte such mich nicht. Ich komm wieder nach Hause, sobald ich kann. Ich liebe dich.
Tut mir leid. Mach dir keine Sorgen.
Victoria
Wie ich so auf meinem Rucksack lag, überlegte ich, ob er am nächsten Morgen wieder an seine Arbeit gehen würde, die gemacht werden musste – denn die Kälber kamen immer noch, und sowohl Mr. Mitchell als auch seine Mutterkühe waren angewiesen auf die fachmännischen Hände meines Vaters –, oder ob er sich auf die Suche nach mir machen würde. Ich wusste es nicht. Ich hoffte, dass meine Unterschrift – Victoria statt Torie – ihm zu verstehen geben würde, dass ich gereift war, ohne dass er es gemerkt hatte, dass ich jetzt alt genug war, um diese Entscheidung zu treffen. Er hatte mich nicht ein einziges Mal in seinem Leben Victoria genannt, weder im Zorn noch in Liebe, und vielleicht würde er dieses geflüchtete Mädchen, diese junge Frau namens Victoria, als jemand völlig Neues sehen.
In dem Moment fiel mir ein, dass Torie nicht das Zeug dazu gehabt hätte, aufzustehen und fortzugehen, doch Victoria – Wils Victoria – hatte die Kraft einer Frau, wirklich und wahrhaftig fortzugehen.
Ich, Victoria, stand auf. Ich hievte den Rucksack auf meinen Rücken, fuhr mit den Daumen zwischen Trageriemen und Schulterknochen entlang, um die Passform zu korrigieren, und setzte mich in Bewegung. Ich war nicht sicher, ob ich den Weg zu der Hütte, in der Wil und ich miteinander geschlafen hatten, noch wusste, aber ich bestimmte einfach meinen Instinkt und das Baby in meinem Schoß zum Führer. So absurd es war, ich hatte wenig mehr als Magnetismus, um mich dorthin zu bringen, ein auf geringe Wahrscheinlichkeit gegründetes Vertrauen, dass mein Baby und ich uns magisch zu dem Ort hingezogen fühlen würden, an dem wir erst zu dem geworden waren, was wir jetzt waren.
Ich wanderte durch die Landschaft, in der es keine Wege gab, und versuchte dabei, nicht an Abel zu denken, der gerade in die entgegengesetzte Richtung lief, in diesen scheinbar endlosen Hügeln aus Salbeigestrüpp und Felsen. Ich hielt Ausschau nach irgendetwas, was mir noch vertraut sein könnte von meiner Wanderung mit Wil vor all den Monaten, als der Herbst in den Winter überging. Ich dachte an uns zurück, wie wir damals ganz aufgekratzt vor Verliebtheit nebeneinander hergegangen waren, wie schön sein Lächeln war und an die Selbstverständlichkeit, mit der seine Hand meine abwechselnd nahm und wieder losließ, wie er sich bückte, um einen Salbeizweig auszureißen, ihn verdrehte, bis die Blätter aufbrachen, den Duft genüsslich einatmete und mir dann seine Finger unter die Nase hielt. Als könnte ich dadurch ein Stück von ihm heraufbeschwören, bückte ich mich, um an einem Salbeistängel zu ziehen, ihn abzureißen wie er damals, und schob ihn mir unter den Trageriemen des Rucksacks. Sein starker Geruch rief in mir lebhaft eine vage Erinnerung wach, die mich in die richtige Richtung zu führen schien. Wenig später überschritt ich einen Hügelkamm und stieß auf eine Reihe von großen Sandsteinzinnen, die meine Erinnerung bestätigten. Wil hatte sie unsere Wächter genannt und mich darauf hingewiesen, dass sie alle Hüfte an Hüfte nebeneinanderstanden. Ich wanderte den Hügel hinunter und um die vier gezackten Türme. Hinter ihnen verschwand der Pfad ins Nichts, aber jetzt wusste ich, dass ich meinen Weg finden konnte. Ich wanderte durch die noch unbelaubten Espen hindurch, die allesamt mit reifenden braunroten Knospen besetzt waren, und den nächsten Hügel wieder hinauf. Ich blieb eine Weile dort sitzen, atemlos, doch keineswegs entmutigt, nahm einen Schluck aus meiner Feldflasche, und dann trottete ich hinunter in ein ausgetrocknetes Flussbett und einen letzten Hang hinauf, der mit Espen und Kiefern bewachsen war und auf dem hie und da noch ein letztes Häufchen Schnee lag. Durch eine Lichtung konnte ich sie bereits ausmachen – die kleine Hütte, in der Wil sich versteckt hatte. Sie war noch bescheidener, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, kaum größer als eine Pferdebox, direkt auf der nackten Erde gebaut und mit einem wilden Durcheinander aus rostigen Blechplatten gedeckt.
»Bloß eine alte, verlassene Jagdhütte«, hatte Wil gesagt, als ich laut überlegte, ob wir wohl gerade Hausfriedensbruch begingen. »Niemand vermisst sie, außer den Spinnen und dem Getier, das ich verjagt habe.«
Ein Stich in meinem Herzen erinnerte mich daran, dass Wil eine bessere Überlebenschance gehabt hätte, wenn er sich über den Winter hierher zurückgezogen hätte, ständig im Kampf gegen Schnee und Eiseskälte und Hunger, als in dem Moment, als er in Stadtnähe zog. Ich wusste nicht immer, wo er schlief, sobald er aus den Hügeln heruntergekommen war – in Ruby-Alice’ Haus oder Stall, hatte ich angenommen –, aber ich wusste mit schmerzlicher Gewissheit, dass er diese sichere Zuflucht wegen mir verlassen hatte.
Ich betrat die nasse Wiese. Nachdem ich den schweren Rucksack abgesetzt hatte, setzte ich mich auf sein Gestell und musterte meine Umgebung. Ich hatte die Hütte erreicht, aber was sollte ich jetzt tun? Der Gedanke, diesen Raum zu betreten, in dem unsere Liebe aufgeblüht war, aber in den Wil niemals zurückkehren würde, war mir unerträglich. Draußen zu bleiben, ohne jeden Schutz vor der Wildnis, kam mir genauso unmöglich vor. Mein Lager aufzuschlagen und ein Leben an diesem Ort zu beginnen, war absurd. Ich blieb eine ganze Weile so sitzen, gelähmt vor Erschöpfung und Unentschlossenheit.
Als der kühle Abend heraufzog und der Wald immer schummriger und finsterer wurde, blieb mir nichts anderes übrig, als aufzustehen und in die Hütte zu gehen. Ich stellte mir vor, wie Wil meine Hand ergriff, mich auf die Füße hochzog und mich hineinführte, das Hirschfell beiseiteschob, das in der Türöffnung hing, und mich einlud, genauso wie beim ersten Mal, als ich diese Schwelle überschritten hatte. Sobald ich eingetreten war, sah ich, dass der kleine Raum noch genauso aussah, wie er ihn verlassen hatte – Konservendosen mit Schweinefleisch und Bohnen waren säuberlich in einer Ecke gestapelt, eine Feldflasche aus Aluminium hing an einem rostigen Nagel, ein altes Glas mit einer halb heruntergebrannten Kerze darin stand auf einer Streichholzschachtel. Man hätte sofort glauben können, dass er jeden Moment zurückkommen würde. Auf dem Bett stapelten sich immer noch die Quilts von Ruby-Alice. Ich legte meinen Rucksack auf den Lehmboden, war jedoch zu erschöpft, um jetzt noch Essen herauszukramen. Ich zog mir die Stiefel aus, hob schüchtern die Kante der Bettdecken an und kroch ins Bett, wobei ich die ganze Zeit spürte, wie sich mein Kind in mir bewegte. Ich atmete tief und kräftig ein, in der Hoffnung, noch einen Hauch von Wils Geruch zu erhaschen. Ob die Decken immer noch nach ihm rochen oder ob ich diese Fantasie nur heraufbeschwor, um mich davon abzuhalten, dass ich verrückt wurde vor Trauer und Angst, ich hüllte mich in seinem Duft ein und blendete alles andere aus, um einschlafen zu können.
Den ganzen nächsten Tag ergab ich mich meiner Erschöpfung. Ich verließ die Quilts nur, um mich außerhalb der Hütte zu erleichtern und eine Dose Suppe aufzumachen, die ich kalt aus der Büchse löffelte. Noch nie in meinem Leben war ich einen ganzen Tag im Bett geblieben. Auch wenn ich krank war, half ich Mutter bei ihren Aufgaben, und nach ihrem Tod erfüllte ich meine Pflichten jeden Tag, egal wie die Umstände waren, genauso wie sie es getan hatte. Die Freiheit, im Bett zu liegen, ohne Pflichten oder irgendeinen Menschen, dem man Rechenschaft ablegen musste, hätte sich wie Luxus anfühlen können, aber es fühlte sich total falsch an. Ich taumelte zwischen Wachen und Schlafen hin und her, wobei ich in meiner seltsamen Starre von Nervosität gequält wurde – wegen meiner Faulheit und meiner Entscheidungen und der ungewohnten Geräusche rund um die Hütte. Ich träumte von Wil, manchmal liebkoste er mich, manchmal lachte er. Und zum ersten Mal sah ich auch Bilder vor meinem inneren Auge, wie er hinter diesem rasenden Chrysler starb, während ihm die Haut von den Gliedern gerissen wurde wie dünnes Geschenkpapier. Ich wachte schweißgebadet und panisch auf in einem warmen Sonnenstrahl, der durch das winzige Fenster hereinfiel, und wusste im ersten verwirrten Moment nicht, wo ich war. Ohne den Halt durch die Aufmerksamkeit und das Urteil anderer Menschen rollte ich mich zusammen und trauerte mit einer Heftigkeit, die ich nie für möglich gehalten hätte. Sobald die Trauer einmal losgelassen war, galt sie Mutter und Cal und Tante Viv fast genauso wie Wil, vier dicke Finger, die mein Herz zerquetschten wie einen Schwamm in einer Faust, sie wrangen Tränen aus mir heraus, kehliges Heulen. In dieser Nacht schlief ich tief und traumlos, gierig nach jeder Art von Zuflucht.
Am nächsten Tag zwang ich mich zum Aufstehen. Ich brach in den frostigen Morgen auf, um irgendwas zu tun – ich wusste nicht genau, was das sein sollte, aber mir war klar, dass ich etwas tun musste, um mein Leben an diesem Ort zu beginnen. Am Morgen darauf und dem nächsten und dem nächsten trieb mich der reine Wille, dasselbe zu tun.
War ich erst mal aufgestanden, war ich nervös. Es war nicht so sehr meine Einsamkeit, sondern das intensive Bewusstsein meines Alleinseins in der scheinbar unendlichen Wildnis. Ganz gewöhnliche Geräusche erschreckten mich. Ich zuckte zusammen, wenn ich das laute Knacken von am Boden liegendem Geäst hörte, über das gerade ein Reh lief, oder das Geknatter von fallenden Zweigen, die ein Eichhörnchen oder der Wind von den Bäumen gelöst hatte. Sogar Stille machte mich nervös, weil sie mir plötzlich das Gefühl gab, dass ich aus der Ferne beobachtet wurde oder sich jemand durch die Kiefern an mich heranschlich. Dann fuhr ich herum, um denjenigen zu ertappen – den Bären oder Puma, oder welches Tier auch immer ich mir gerade eingebildet hatte –, aber dann sah ich nur ein schnell davonflitzendes neugieriges Streifenhörnchen oder überhaupt nichts. Ich versuchte, in der Hütte Zuflucht zu suchen, und dann saß ich steif und mit wachsam gespitzten Ohren da und lauschte aufmerksam dem Summen des Baches hinter mir und bildete mir ein, die Schritte des Mannes oder Tieres zu hören, die die Steine des trockenen Flussbetts auf dem Weg zu mir, die ich so verletzlich in dieser Hütte saß, in Bewegung versetzt hatten.
Ich versuchte, eine Methode zu finden, wie ich das alte Hirschfell befestigen konnte, das an dem schiefen Türrahmen hing, aber ich hatte weder Nägel noch Hammer, und mir wurde klar, selbst wenn ich Werkzeug gehabt hätte, hätte ich mich genauso eingesperrt wie vermeintliche Eindringlinge ausgesperrt. In den meisten Nächten sah es so aus, dass ich mich in die Decken wickelte, das lange Messer, das ich aus der Küche unserer Farm mitgenommen hatte, fest in der Faust und meine weit aufgerissenen Augen unverwandt auf die Tür gerichtet. Irgendwann überwog die Schläfrigkeit meine Angst, ich schloss meine Augen und überließ mich widerstrebend dem, was kommen würde. Am Morgen staunte ich jedes Mal über mein Glück, wieder unversehrt aufgewacht zu sein. Das Messer ragte aus dem Lehmboden der Hütte heraus wie ein schlanker Fisch, der mitten im Sprung eingefroren war.
Ich hatte kein Heimweh, das stand fest. Obwohl ich mich ab und zu ein kleines bisschen nach meinem Vater und dem Obstgarten sehnte, waren beide schon ziemlich verschwommen, als entstammten sie einem halb vergessenen Traum. Meistens verspürte ich nur große Erleichterung, frei von Seth und Onkel Og zu sein und von allem, was mit ihnen zu tun hatte. Egal, wie beunruhigend ich meine Einsamkeit empfand, ich würde nicht nach Hause gehen. Müde und immer auf dem Sprung, verbrachte ich diese erste Woche in der Entschlossenheit, mein Lager endgültig aufzuschlagen und mir zumindest vorzumachen, ich könnte mir allein ein neues Zuhause schaffen. Ich musste jetzt für Wils Kind sorgen, und obwohl meine Sehnsucht nach ihm zuweilen unerträglich war, musste ich meine geistige Gesundheit bewahren, damit ich meine Aufmerksamkeit auf das richten konnte, was mir Überlebenswillen einflößte, statt zu lange über die Gründe nachzugrübeln, warum ich lieber nicht weiterleben wollte.
Das Graben einer Latrine schien ein naheliegender Startpunkt. Doch der Boden stellte sich als zu hart heraus und meine Handschaufel als zu klein, sodass ich nur teelöffelweise Fortschritte machte. Vor lauter Frust warf ich die Schaufel in den Fluss, in dem sie tagelang liegen blieb und Rost ansetzte. Ich brauchte irgendetwas, wobei sich sofort ein Erfolg einstellte, also suchte ich meine nächsten Tätigkeiten sorgfältig aus: Ich befüllte Wils und meine Feldflaschen am Kiesgrund des Baches, schnitt mir einen Kiefernzweig ab, um Spinnen und ihre Netze und Mäusekötel aus der Hütte zu fegen, baute mir eine runde Feuerstelle aus Steinen, sammelte Holz und konstruierte einen hölzernen Dreifuß, von dem ich hoffte, er würde stabil genug sein, um einen Topf zu tragen. Ich schlang ein Seil von einem dicken Espenast zu einem anderen, zerrte die Quilts hinaus, hängte sie über das Seil und klopfte sie mit einem dicken Zweig aus. Staubwölkchen stiegen auf und wurden von der Brise mitgenommen wie kleine tanzende Geister. Ich fischte meine Handschaufel wieder aus dem Bach und grub weiter an meiner Latrine. Und ich schnitt Kerben in die Hüttenwand, um den Überblick über die verstrichenen Tage nicht zu verlieren.
Ich wusste, dass ich früher oder später lernen musste, mir mein Essen selbst zu organisieren, aber ich hatte immer noch einen guten Vorrat von zu Hause – Trockenfleisch, Dosensuppen, getrocknete Bohnen und Haferflocken, eingemachte Pfirsiche und Eier, eine Dose Cracker – und den Stapel Schweinefleisch und Bohnen, den Wil hiergelassen hatte, also schob ich diese Aufgabe auf, bis ich mehr über meine Umwelt gelernt hatte. Ich hielt Ausschau nach Fischen in den Strudeln des Baches und in einem von einem Biber angestauten See, den ich flussabwärts von meinem Lager fand. Ich sah zwar nur Steine im klaren Wasser glitzern, aber ich sagte mir, dass ich schon eine Forelle fangen würde, wenn ich eine brauchte. Ob ich tatsächlich in der Lage sein würde, ohne Angel und Leine und Haken einen Fisch zu fangen, war eine Frage, über die ich jetzt noch nicht nachdenken wollte. Wohl oder übel konnte ich immer nur von einem Tag auf den anderen überleben.
Meinen ersten Ausflug in den dunklen Wald auf der anderen Seite des kleinen Flusses unternahm ich, um nach Himbeersträuchern zu suchen. Ich wusste, dass es viel zu früh für die Früchte war, aber ich wollte sichergehen, dass ich im Juli Beeren ernten konnte. Ich fand eine seichte Stelle flussaufwärts von meiner Hütte, an der auch noch vier schildkrötenförmige Steine lagen, sodass ich leicht ans andere Ufer gelangen konnte. Ich nahm einen Stock in der Form eines Baseballschlägers mit, um mich zu schützen, doch bei meinen ersten Schritten in den Wald wurde ich nicht von Feinden überfallen, sondern von Gerüchen. Mein Geruchssinn war so scharf in der Schwangerschaft, dass ich mir oft vorkam wie ein Wolf, weil ich den Geruch von allem Möglichen in meiner Umgebung wahrnehmen konnte. Die Wälder verströmten einen stechenden, moschusartigen Geruch von Kiefern und Erde und schichtenweise feuchten Verfall. Sogar die Felsen rochen nach Metall und Moos. Die Mischung war seltsam, aber nicht unangenehm. Ich atmete tief ein und ging weiter.
Als ich weiter in den Wald hineinwanderte, sank mir jedoch das Herz in die Hose. Der Großteil des Bodens war immer noch mit einer Kruste von Schnee bedeckt, an manchen Stellen knöcheltief, an anderen wieder knietief. Die hohen Kiefern, breit und schwarz und dicht beisammenstehend, hielten das Sonnenlicht davon ab, den Boden zu erreichen. Mir wurde klar, dass ich auf dieser Höhe auf Monate hinaus nichts wild gewachsenes Essbares finden würde. Auch die Sprossen der Samen, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, würden sicher erfrieren und schwarz werden, wenn ich sie vor Mitte Mai einpflanzte. Mir dämmerte, warum das Graben der Latrine so schwierig gewesen war. Die Erde war nicht zu hart, sie war bloß immer noch gefroren. Ich schob mit meiner Stiefelspitze ein Stück Schnee beiseite. Ich trat auf die Erde und versuchte, meinen Stock hineinzubohren. Solider Stein hätte nicht unnachgiebiger sein können.
Entmutigt ließ ich mich mit einem Seufzer auf einen Stein plumpsen. Ich spähte durch den Wald, auf die Schichten von Leben und Tod, die in der kalten Stille dem Dämmerlicht ausgesetzt waren. Bis auf das Vogelgezwitscher war es völlig still. Herabgefallenes Holz lag auf dem Boden verstreut zwischen Felsen und abgebrochenen Zweigen und Kiefernzapfen. Massive rotgelbe Baumstämme schossen nach oben Richtung Baumkronen. Dutzende von Keimlingen drängten zum Leben, manche kaum groß genug, um ihre zerzausten Köpfe durch Grashalme und Schnee zu bohren, andere wuchsen aus der Mitte morscher Baumstämme wie Babys aus geöffneten Bäuchen. In diesem ganzen Chaos lag aber auch Schönheit. Jedes Stück Leben hat seine Rolle im ewigen Kreislauf zu spielen. Ich fühlte mich klein und unnötig, aber nicht rundweg unwillkommen.
Ich blieb stehen, dann ging ich wieder weiter durch den Schnee, tiefer in den Wald, wobei ich mit jedem Schritt die Stille durch ein knackendes Geräusch störte. Als ich nach irgendetwas suchte, was mich irgendwann ernähren könnte – uns ernähren könnte –, bewegte sich mein Baby in mir, es schwamm heftiger und gegenwärtiger denn je zuvor in meinem Schoß. Er – denn wie ich später erfahren würde, war mein Baby ein Junge – versetzte mir zum ersten Mal einen richtigen Tritt, und ich lachte und rieb mir den runden Bauch durch meinen Wollpullover. Ich war sicher, dabei seinen winzigen Fuß an seiner glatten, makellosen Sohle zu streicheln. Er zog seinen Fuß weg, und dann trat er ein zweites Mal zu, und ich musste wieder lachen über unser Spiel. Ich war doch nicht so ganz allein in diesem seltsamen Wald.
In den Bergen kann das Wetter vom einen auf den anderen Moment umschlagen. Das hatte ich mein ganzes Leben schon gewusst und gelernt, den Himmel so genau zu lesen wie einen Text für die Schule. Ich konnte zusehen, wie ein Sturm aufzog und der Himmel schwarz wurde, und dann im perfekten Moment den Obstgarten oder die Tierställe oder sogar die Main Street verlassen, um durch die Küchentür zu rennen, sobald der erste Donnerschlag das Tal erschütterte. Doch alles, was ich über Land und Himmel zu wissen meinte, wurde auf den Prüfstand gestellt, sobald ich einmal tief in diesen Hügeln lebte. Es war, als müsste ich noch einmal von vorne lesen lernen.
Der Sturm begann als Windstoß, der durch die höchsten Kiefernwipfel fuhr. Die Baumwipfel begannen zu schwanken wie betrunkene Riesen, bevor ich auch nur eine Brise spürte. Die Singvögel verstummten und gaben damit ein Warnsignal, das ich nicht verstand. Dann wurde plötzlich alles um mich herum, und auch das Baby in meinem Inneren, ganz still.
Einem jähen Ausatmen gleich fuhr eine Windkaskade wie eine durchsichtige Flutwelle über den Waldboden, bog die jungen Kiefern und trieb Geröll vor sich her. Der Wind schlug mir ins Gesicht wie eine Ohrfeige mit der offenen Hand. Er war kalt und feucht, und auf einmal konnte ich spüren, was mir bevorstand, noch bevor die dunklen Wolken den Himmel vollkommen bedeckten und mitten am Tag für einen jähen Abend sorgten. Ich drehte mich auf dem Absatz um und folgte meinen eigenen Fußspuren zurück, ich rannte, stolperte über Felsen und umgestürzte Bäume, ließ meinen Stock fallen, rutschte im Schnee aus, stand wieder auf, rannte weiter, dann rutschte ich erneut aus. Eiskristalle, die auf dem alten Schnee lagen, ritzten mir die Handflächen auf und sprühten mir bei jedem Sturz wieder ins Gesicht. Ich verfluchte mich selbst dafür, mich so weit von meinem Lager entfernt zu haben, dass ich mich so tief in die Ruhe des Waldes hatte locken lassen, die ich doch als trügerisch kannte. Als ich endlich den Waldrand erreichte, schlug mir ein wütender Wind entgegen, durchsetzt mit großen Regentropfen. Ich stemmte mich dagegen und rannte durch den Bach auf mein Lager zu, wobei ich in meiner Panik beim letzten Stein ausglitt und fast bis zum Knie im eisigen Wasser landete.
Der Donner grollte über mir. Ich versuchte, mir den Topf Bohnen zu schnappen, die ich zum Einweichen neben die runde Feuerstelle gestellt hatte, doch als ich die Hand ausstreckte, schlug der Sturm mit voller Wildheit zu, und der sturzartige Regen peitschte mich von der Seite. Der Topf glitt mir aus der Hand und warf mein kostbares Essen in den Schlamm wie wertlose Kiesel. Ein Blitz zuckte über den Himmel, sofort gefolgt von einem weiteren weißen Aufblitzen und noch einem. Der Donner dröhnte jetzt richtig. Ich kämpfte gegen den kalten Regen, stolperte und rutschte auf der schlammigen Erde aus, bis ich schließlich über eine breite Pfütze vor dem Eingang der Hütte sprang und mich hineinrettete. Als ich drinnen war, konnten meine erfrorenen, zitternden Hände kaum das Hirschfell greifen, um es vor die Türöffnung zu reißen.
Regen trommelte aufs Hüttendach. Lecks zogen sich in jeder Ecke durch das verrostete Blech. Ich rannte schnell hin, um so viel Wasser wie möglich in den paar leeren Konservendosen aufzufangen, die ich aufgehoben hatte, aber gegen das restliche Getropfe konnte ich nichts unternehmen. Auf dem Lehmboden bildeten sich dunkle Kreise, die sich ausbreiteten und sich unter meinen kalten, nassen Füßen in Schlamm verwandelten.
Der Sturzregen schwoll auf ohrenbetäubende Lautstärke an, als würde eine Million Münzen auf das Blechdach und gegen das einzige Fenster abgefeuert. Der Blitz leuchtete grellweiß durchs Fenster, auf dem Fuße gefolgt von einer Donnerexplosion, die so gewaltig war, dass sie mich bis ins Herz erschütterte. Genau in diesem Moment, als hätte jemand einen Abzug gedrückt, brach ich zusammen und ging in die Knie. Mein Körper zog sich zusammen, meine Unterarme und mein Gesicht krachten auf den schlammigen Boden. Der harte Ball, in den sich mein Bauch verwandelt hatte, mein Baby, schlug mir gegen die Oberschenkel. Abgesehen von meinem heftigen Zittern konnte ich mich nicht bewegen. Ich war getroffen von einer überwältigenden, lähmenden Sorge, als hätte der dunkle Sturm mein Inneres so gründlich durchdrungen, wie er den Nachmittagshimmel an sich gerissen hatte. Wie hatte ich glauben können, dass ich hier überleben würde? Weil meine Augen schon mein ganzes Leben lang über diese fernen Bergkämme geschweift waren? Durchnässt und zitternd vor Kälte und Angst, begriff ich, dass der Horizont kein Zuhause ist. Ich gehörte nicht an diesen Ort.
Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, schnitt ein Schrei durch mich hindurch, lauter als die unermüdliche Kakofonie des Sturms, der mit ahnungsvoller Klarheit verkündete, was ich nicht länger leugnen konnte: Mein Plan konnte nie und nimmer funktionieren.