W as mir am lebhaftesten in Erinnerung ist von meinem Erwachen am nächsten Morgen, ist der fröhliche Vogelchor, der an die Stelle des Furcht einflößenden Sturms getreten war. Ich war zunächst noch geschafft und wusste nicht recht, wo ich war, aber ich konnte die langen Triller der Rotflügelstärlinge erkennen, das hohle, dreifache Gurren der Perlhalstaube, das Schnattern der Schwarzkopfmeisen und die Finken und Spatzen vor der Hütte.
Ich konnte mich vage entsinnen, während der Nacht auf dem schlammigen Boden aufgewacht zu sein und gerade so viel Geistesgegenwart besessen zu haben, um meine nassen Stiefel und Socken auszuziehen und vom Boden ins Bett, unter den Haufen von Quilts zu kriechen, für die ich gerade besonders dankbar war. Während ich vom Vogelgesang wach wurde, verkroch ich mich noch tiefer in die Wärme meiner Decken. Ich rieb mir in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen über den Bauch und war sehr erleichtert, als mein Baby mit drei leichten Tritten antwortete.
Die Haut an meinen Armen und meiner Stirn fühlte sich straff und verkrustet an vom eingetrockneten Schlamm. Meine Ohren und mein feuchter Kopf waren eiskalt. Ich fügte eine Wollmütze zur langen Liste der Ausrüstungsgegenstände hinzu, die ich entweder vergessen hatte oder meinem Vater nicht hatte stehlen wollen, oder an die ich dummerweise nie gedacht hatte oder die ich einfach nicht hätte tragen können: eine richtige Schaufel, eine Plane, einen Eimer, Stift und Papier, ein Gewehr.
Ich überlegte mir all die Dinge, ohne die zurechtzukommen ich lernen musste, als ich wieder diese Stimme hörte – ich hatte sie gestern Nacht schon einmal gehört, und sie hatte unerbittlich und deutlich verkündet, dass mein Plan nie und nimmer funktionieren könnte.
Mein Plan konnte nie und nimmer funktionieren.
Ich hatte Angst und kam mir dumm vor, Opfer ebenso meiner eigenen Blödheit wie grausamer Umstände. Meine Blase schmerzte vor Überfüllung, aber ich konnte mich einfach nicht hochziehen und mich dem stellen, was außerhalb meines Deckenkokons lag. Ich gehörte hier nicht her, ich gehörte auch nirgendwo anders hin, und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
Ich dachte an den lange zurückliegenden Morgen zurück, an dem ich zum ersten Mal als mutterloses Kind aufgewacht war. Die ganze Nacht hatte ich von Sheriff Lyles schwarz-weißem Streifenwagen geträumt und vom Zusammenbruch meines Vaters auf dem Hof. Ich schlug die Augen auf und wusste, dass meine Mutter, mein Cal und meine Tante nicht zu Hause waren, dass sie nirgendwo waren und dass sich das nicht mehr ändern ließ. Das goldene Morgenlicht, das in mein Schlafzimmer strömte, fühlte sich unerträglich an. Ich tat das Einzige, was mir einfiel mit meinen gerade mal zwölf Jahren. Ich sprang vom Bett in meinen dunklen Schrank und schloss mich ein.
Stunden später entdeckte mich Seth dort, ließ mich aber in Ruhe. Dann versuchte Cora Mitchell, mich herauszulocken, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. Mein Vater kam kein einziges Mal. Ich malte mir aus, wie er am anderen Ende des Flurs in seinem eigenen Schrank saß und sich ebenso in der mottenkugelduftenden Dunkelheit versteckte wie ich. Am Nachmittag stellte mir irgendjemand einen Teller mit Essen vor die Tür, und der Duft war einfach zu verführerisch für ein hungriges Kind. Ich kroch hinaus, um zögerlich warme Löffel voll von fremden Aufläufen zu nehmen, wahrscheinlich gekocht und auf unsere Veranda gestellt von fürsorglichen Mitbürgern, und ich aß, zunächst langsam, aber dann schaufelte ich es richtig in mich hinein. Ich verachtete mich dafür, dass ich mich ernährte, dass ich weitermachte, aber ich konnte einfach nicht anders. Eine Kraft, die größer war als ich, bewegte mich, vom primitiven Hunger zu dem ersten neugierigen Hervorkommen aus meinem Schlafzimmer und die Treppe hinunter, bis ich irgendwann begann, regelmäßig die Rolle meiner Mutter als Köchin der Familie zu übernehmen. Ich hatte mir das nicht so sehr ausgesucht, sondern war durch schiere Notwendigkeit dort gelandet.
Und genauso wusste ich, dass ich weitermachen musste, egal, ob mein Plan, meine Schwangerschaft in der Wildnis zu Ende abzuwarten und Wils und mein Kind zur Welt zu bringen, nun funktionieren würde oder nicht. Ich musste meine Blase entleeren. Ich musste essen. So wie ich damals in ein mutterloses Leben eingetreten war, würde ich jetzt in ein Leben als Mutter eintreten. Ich würde dem Ruf der Notwendigkeit folgen. Ich würde aufstehen.
Als ich das Fell hochhob und in den Vogelgesang und den kühlen Morgen hinaustrat, um mich in der Nähe der Hütte ins Gras zu kauern, war es, als hätte es dieses Gewitter nie gegeben. Die Wiese erstreckte sich vor mir, feucht und vollkommen ruhig. Der Frühling begann sich in jedem neuen Blatt und Halm und in jeder Knospe zu entfalten. Die aufgehende Sonne beleuchtete nur die Spitzen der Berge in der Umgebung, mit einem Glühen, so weich wie handgestampfte Butter. Die Ausläufer der Berge und das Tal lagen im Schatten und warteten geduldig darauf, dass das Licht auf ihre grünen Flecken fiel, ihren Schlamm trocknete und den dahinschwindenden Schnee endgültig zum Schmelzen brachte. Ich atmete diese Ruhe tief ein, hielt sie in den straff gespannten Ballons meiner Lungen und ließ sie dann langsam wieder hinausströmen.
Überraschend schnell kam die strahlende Kugel der Sonne Stück für Stück hinter dem gezackten Kamm eines Berggipfels im Osten hervor und verbreitete ihr blasses Licht über das Tal. Es erreichte die Stelle, an der ich zuerst gestanden hatte, badete mich in zarter Wärme, wobei es von den Tröpfchen reflektiert wurde, die um mich herum an jedem Blatt und jedem Stängel hingen. Dabei beleuchtete es winzige, flatternde Insekten und funkelnde Strecken von Spinnennetzen, die noch vor einem Augenblick unsichtbar gewesen waren. Das Sonnenlicht berührte die weiße Espenrinde und die knospenden roten Zweige der dicht an dicht am Flussufer stehenden Weiden. Zentimeter für Zentimeter arbeitete sich das Licht voran. Innerhalb von Minuten war das gesamte Tal wach, einschließlich jeder möglichen Andeutung von Frühling, und es ergab sich der Morgendämmerung und den festlichen Liedern der Singvögel.
Als die Sonne über den Hügelkamm gestiegen war und ihre volle Hitze und Helligkeit entfaltete, hob ich mein Kinn, um ins Licht zu schauen. Im stetigen Voranschreiten des Morgens erkannte ich, dass mir ein weiterer Tag geschenkt worden war. Morgen würde mir vielleicht noch einer geschenkt werden.
Im Gegensatz zur Hoffnungslosigkeit des Gewitters in der letzten Nacht fühlte sich der Morgen an wie eine Chance. Schon möglich, dass mein Plan nie und nimmer funktionieren könnte, aber in der freundlichen Geste der aufgehenden Sonne kam es mir genauso wahrscheinlich vor, dass er sehr wohl funktionieren würde. Die Vögel schwätzten weiter, und jetzt flogen sie in ihren knappsten Manövern um mich herum. Irgendwo in ihrem ausgelassenen Feiern fand auch ich eine Prise neuen Mutes.
Also machte ich weiter, einen Tag nach dem anderen, und langsam, aber sicher begann ich, mich zu entspannen und meine Furcht aufzugeben zugunsten eines gewissen Zutrauens. Der Trost stellte sich natürlich nicht auf einmal ein, und oft, wenn ich gerade einen Blick auf ihn erhascht hatte, kam das nächste Geräusch oder ein weiterer Sturm, der mich verängstigte und wieder zurückwarf. Doch bald wurde mir klar, dass meine Gemütsruhe noch wichtiger war als das Aussäen von Pflanzen oder das Graben einer Latrine oder das Festlegen meiner Alltagsroutine. Sorgen und Ängste würden das Ergebnis meiner Situation oder meines Schicksals nicht verändern. Schon möglich, dass der Horizont kein Zuhause war, aber ich fand eine Art, hier zu bleiben.
Nach und nach fiel mir auf, dass das sanfte Dämmerlicht auf der Wiese eher schön als Unheil verkündend aussah. Die meisten stillen Momente oder Geräusche empfand ich irgendwann einfach nur noch als das, was sie waren, bis sie eines Tages den vertrauten Hintergrund meines Alltagslebens bildeten, eher Musik als Bedrohung. Im Laufe des ersten Monats entstand auch eine zerbrechliche Kameradschaft mit dem Wald. Ich bewegte mich zunehmend in dem Rhythmus durch meine Tage, dem alle Kreaturen der Natur gehorchen, durch Instinkt und jahrtausendealte Gewohnheit – Leben, deren Muster bestimmt wurde durch Sonnenauf- und -untergang, durch das Diktat von Kühle und Hitze, den Hunger und das Schlafbedürfnis des Körpers, die gewaltigen Mächte der Stürme und die schwarzen oder erleuchteten Nächte, je nachdem, an welcher Stelle sich der Mondzyklus gerade befand.
Als die Erde auftaute, konnte ich endlich meine Latrine fertig graben. Ich stopfte meinen Rucksack mit Essen voll, das Bären anlocken könnte, und befestigte ihn an einem Seil an einem hohen Espenast am anderen Ende des Lagers, so wie Wil es gemacht hatte. An der warmen Südseite der Hütte pflanzte ich die Samen ein, die ich im letzten Herbst im Küchengarten geerntet hatte. Ich trank Flusswasser, das nach den Steinen schmeckte, über die es geflossen war, und goss es mir, kalt und sauber, wie es war, über meinen nackten Körper. Ich ließ mir Zeit, die Welt zu bestaunen – die völlige Geräuschlosigkeit eines dahintrabenden Fuchses, die perfekte Symmetrie eines Biberbaus, das Auftreten der Schmetterlinge, das so plötzlich kam, als hätte man bunte Konfetti in die Luft geworfen, gleichzeitig das erste Aufblühen der winzigen, nektarhaltigen Blüten und die tägliche Parade der Kanadakraniche, die genau wussten, wo sie hinmussten. Ich sammelte und hackte Berge von Brennholz, flickte kaputte Netze und hängte sie in den Biberteich, um ab und zu einen jungen Bachsaibling zu fangen; ich hackte mir einen Stuhl mit hoher Lehne aus einem Baumstumpf, auf dem ich die meisten Abende in einen Quilt gewickelt saß, um den Sonnenuntergang zu beobachten und zuzuhören, wie die Geräusche im Wald immer weniger wurden. Ich erwiderte den Ruf der Eule, die ich jede Nacht hörte, ohne sie jemals zu sehen, und bewunderte die Sterne, wenn sie einer nach dem anderen auf der schwarzen Leinwand des Himmels erschienen. In mondlosen Nächten starrte ich hoch zum betörenden Nebel der Milchstraße, und da ich nie die Namen und Konstellationen der richtigen Astronomie gelernt hatte, erfand ich meine eigenen Namen für die Gruppen der glitzernden Sterne: betende Hände, Pfirsichblüte, Schweineschwänzchen, Trompete.
Mitten in diesem ewigen Akkord, als Ausgleich für meine schwindende Angst, wuchsen mein Kind und ich. Ende Mai war mein Bauch so rund und straff wie eine Melone, mein ganzer Körper fleischig und fruchtbar und überraschend, während mein Kind sich in mir streckte und boxte und drehte.
Eines Nachts, als die tief hängenden Wolken das Tal einhüllten, rollte ich uns – mein ungeborenes Kind und mich – in unserem Nest aus Decken zusammen und stellte mir vor, wie alle Tiere im Wald dasselbe machten, wie sie sich hinlegten, sich in die Wärme schmiegten. Ich überlegte, dass manche von diesen Waldmüttern ihre Babys genauso in sich treten fühlten wie ich, wie andere ihren Nachwuchs stillten und ernährten und beschützten, so wie auch ich es tun würde. Ich dachte über all das beginnende, ertragende und endende Leben um mich herum nach, vom größten Bären bis zum winzigsten Insekt bis zum Samenkorn und der Knospe und der Blüte. Hier im Wald war ich nicht allein. Ich war sicher, dass Wil mir das die ganze Zeit zu erklären versucht hatte. Ich schlang die Arme um die Kugel meines Bauches, umarmte mein Baby, aber auch noch etwas mehr: die unbeschreibliche Unendlichkeit, als deren Teil ich mich fühlte.
Ich dachte an die vielen Nächte zurück, in denen ich versucht hatte, in meinem Bett einzuschlafen, während Seth und Og sich unten stritten oder Seths Freunde sich betrunken gegenseitig angrölten, wobei sie den Motor des Chrysler Roadster im Hof aufheulen ließen. Mir fiel auch wieder ein, was ich zu vergessen versucht hatte: die wenigen Male, als ich davon geweckt wurde, dass jemand im Dunkeln an der Klinke meiner Schlafzimmertür rüttelte – einer von Seths Freunden oder vielleicht sogar Seth selbst, der das Schloss austestete, infolge einer Mutprobe oder wilder Lust oder einer dunklen, verzweifelten Schwäche –, und dann sich entfernende Schritte, besiegt und gerettet.
Als ich in meiner neuen Heimat im Wald in den Schlaf hinüberdämmerte, eingewoben in einen riesigen, geheimnisvollen Teppich, war das einzige Geräusch, dem ich lauschte, der stete Puls dieser riesigen Ansammlung schlagender Herzen, das Einatmen und Ausatmen von Millionen von Leben, die neben meinem geführt wurden. Da wurde mir klar, dass ich noch nie in meinem Leben so wenig Angst gehabt hatte.