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D er Juni begann vielversprechend.

Das Wetter war warm und meistenteils klar. Die Tage waren lang und boten – ganz ohne Hausarbeit und Pflichten auf der Farm und Essenkochen – erstaunlich viel Zeit. Die Stunden, die ich auf der Wiese sitzend verbrachte oder durch den Wald streifte, ganz versunken in meine eigenen Beobachtungen und Gedanken, fühlten sich jeden Tag weniger peinlich und faul an, sondern eher wunderbar lebendig.

Abgesehen von ein paar kleinen Forellen hatte ich kein Glück gehabt bei meiner Nahrungssuche, doch die reifenden Himbeeren an ihren Sträuchern wuchsen üppig am südlichen Hang des Hügels, und in meinem Garten kamen die ersten zarten Blättchen zum Vorschein, die mir die Nahrung im Juli und August sichern würden. Obwohl ich bis jetzt weder Hasen noch Moorhühner in meiner provisorischen Falle gefangen hatte, hoffte ich, dass meine Fähigkeiten sich durch zunehmende Praxis und die schiere Notwendigkeit verbessern würden.

Eines Abends saß ich im violetten Zwielicht regungslos auf dem grasbewachsenen Rand einer kleinen angrenzenden Wiese. Meine Schlinge – eine kleine Gitterschachtel, die ich mir aus Zweigen und Garn zusammengebastelt hatte – stand schräg auf einem gegabelten Stock und war mit Kleeblüten als Köder bestückt. Ich wartete hartnäckig oder vielleicht einfach naiv und blieb meiner Methode treu. Fledermäuse schossen herab und umflatterten mich, wobei sie sich die Nachtfalter direkt aus der Luft holten. Nächtliche Geräusche weckten eine Grille nach der anderen. Eine Hirschkuh erschien am Rand der Wiese, kam auf Zehenspitzen zwischen den Espen hervorgeschlichen. Sie streckte überrascht den Hals, blinzelte und stampfte leicht mit den Beinen auf, unsicher, wie sie mich einschätzen sollte. Ihre schwarzen Augen glänzten und blinzelten erneut, und ihr weißer Schwanz wedelte unentschieden vor und zurück. Regungslos schaute ich sie an. Ich hatte viele Tiere gesehen, seit ich hier angekommen war – Erdhörnchen und Buschhörnchen und Streifenhörnchen mit ihren Nasen, die aussahen wie Geschosse; Murmeltiere und Hasen und Stachelschweine und Füchse und einen einsamen Kojoten, der auf einer Wiese jagte; Rehherden und Elche, die über den Hügelkamm zogen –, doch diese Hirschkuh war die Erste, die genauso interessiert an mir zu sein schien wie ich an ihr. Wir schauten uns lange an.

Dann drehte sich die Hirschkuh elegant um und tänzelte den Weg zurück, den sie gekommen war. Sekunden später war sie wieder zurück, gefolgt von einem zartgliedrigen gefleckten Kitz. Ich schnappte nach Luft angesichts dieser schlichten Schönheit, und sie schauten beide gleichzeitig in meine Richtung. Das Kitz drängte sich mit geräuschlosen, vorsichtigen Schritten näher an seine Mutter. Sie überquerten mit fließenden Bewegungen die Wiese, Seite an Seite, bis sie im Laub verschwanden. Plötzlich raschelte das Gestrüpp, wo eben noch die Hirschkuh herausgekommen war. Ich machte mich schon auf ein Raubtier gefasst, das die beiden verfolgte. Stattdessen kam ein zweites Kitz heraus, kleiner und noch zarter als das erste. Es rannte über die Lichtung, um mit seiner Mutter und seinem Geschwisterchen Schritt zu halten, so dünn und nichts ahnend, dass mir das Herz wehtat.

Ein paar Abende später sah ich die Hirschkuh wieder – ihr Lieblingskitz an der Seite, den Kümmerling ein paar Längen dahinter –, als sich das Trio vorsichtig dem kleinen Fluss hinter der Hütte näherte. Nachdem sie sich am nächsten Abend erneut vergewissert hatten, dass von mir keine Gefahr ausging, kamen sie jeden Abend zu meinem Lager, um hier zu trinken. Ich fühlte mich ihnen kameradschaftlich verbunden, weil sie mir so vertrauten, und war jedes Mal erleichtert, wenn das kleinere Kitz auch wieder aus den Büschen kam, um entschlossen seiner Familie zu folgen.

Der Monat verging Schritt für Schritt: ein Aufwachen, ein Topf Haferbrei, ein Spaziergang im Wald, ein Versuch, etwas Essbares zu fangen, ein Sonnenuntergang, eine Dose Bohnen, eine Nacht. Ich schleifte heruntergefallene Äste aus dem Wald, um einen schiefen Zaun um meinen Garten zu bauen. Ich goss Flusswasser aus der Feldflasche auf meine sprießenden Pflanzen und breitete jeden Abend eine Decke über ihnen aus, um sie vor dem Frost zu schützen.

Wenn ich an den Juni 1949 zurückdenke, sehe ich mein siebzehnjähriges Selbst, wie es nach dem Baden nass am Flussufer sitzt. Die Sonne gießt ihr Licht über meinen jungen Körper wie warmen Honig, mein Bauch ist eine blasse und geheimnisvolle Kugel, meine Brüste voll und fremd. Mein Baby turnte in meinem Leib herum und trat gegen mein Herz. Sonnenblumen und lila Lupinen und blassrosa Wildrosen schmückten die Hügel. Dunkelrosa Spitzen ragten aus dem Sumpf, jeder Stängel ein winziger Zirkus aus rosa Elefantenköpfen, die ihre kleinen Rüssel in die Sonne hielten. Ich fing Grashüpfer, einfach nur, um ihre winzigen mahlenden Kiefer zu studieren. Ich zählte ein Dutzend verschiedene Farben von Schmetterlingen. Zartes Glück schob sich durch den Schlamm meiner Trauer, so sicher, wie der Sommerwald aus dem Winter erblühte.

Doch Ende Juni gingen mir die Kräfte aus. Und was noch schlimmer war, jetzt ging es mit den Gelüsten los. Meine Mahlzeiten in den letzten zwei Monaten waren sicher nicht besonders üppig gewesen, aber sie hatten immer gereicht. Ich machte täglich eine Bestandsaufnahme meiner Essensvorräte – wie ein Urteil las ich die schwindende Zahl der Konservendosen in der Hüttenecke und das abnehmende Gewicht meines Notfallvorrats, jedes Mal, wenn ich es vom Baum abseilte – und versuchte, so wenig wie möglich zu essen, um meine Vorräte zu schonen. Als der Juli kam, heiß und trocken, waren mein Trockenfleisch und meine eingekochten Pfirsiche und die eingelegten Eier längst aufgegessen und die Konservendosen fast alle leer. Doch in meinem kleinen Garten reiften Blattgemüse und Erbsen heran, denen Rüben und Kohl folgen würden, und irgendwann auch Kartoffeln und Karotten. Kleine Bachsaiblinge und fette Regenbogenforellen schwammen im Biberteich. Langsam wurden auch die Himbeeren reif. Ich machte mir keine Sorgen.

Das Verlangen nach unmöglichem Essen begann schleichend. Eines Abends, als ich in meinem ausgehöhlten Baumstumpf saß, auf die Rehfamilie wartete und viereckige Baumwollwindeln strickte, während die Sonne hinter den rosa und grau gestreiften Wolken verschwand, musste ich an den Weihnachtsschinken meiner Mutter denken. Alle paar Monate schlachtete mein Vater ein Schwein, also aßen wir übers Jahr viel Schweinefleisch, aber Mutters Weihnachtsschinken war etwas ganz Besonderes, glasiert mit braunem Zucker und im Ganzen gebraten, und das Fett tropfte beim Braten dick und süß heraus wie Melasse. Seltsamerweise hatte ich genau auf dieses heraustropfende Fett Lust, oder sogar auf ein großes glitschiges, fettdurchwachsenes Hüftsteak. Ich malte mir aus, wie ich durch das feste, weiße Fett schnitt und mir ein Stück nach dem anderen in den Mund schob. Wenn ich wieder zu Sinnen kam, war ich entsetzt über meine Lächerlichkeit. Es war Jahre her, dass so ein Schinken bei uns auf den Tisch gekommen war, und ich hatte die fettigen Teile nie gemocht.

Am nächsten Tag gelüstete es mich nach Brathähnchen, und gegen Ende der Woche konnte ich an nichts anderes denken als an dunkle, reichhaltige Bratensoße, die ich mir über einen Teller mit Buttermilchbrötchen goss oder einfach so in mich hineinlöffelte. Ich aß die ersten winzigen Zuckererbsen aus meinem Garten, aber nach so viel Pflege und Vorfreude waren sie wenig befriedigend. Ich pflückte bittere, unreife Himbeeren und sehnte mich danach, mir Sahne darüberzugießen. Elchbraten, Schweinshaxe, dicke Speckscheiben, buttertriefendes Gebäck, in Scheiben geschnittene, üppig mit Käse überbackene Kartoffeln – ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Essen. Tag und Nacht träumte ich davon mit einer solchen Intensität, dass ich mit einem Mund voller Speichel aufwachte, und mehr als einmal brach ich in Tränen aus, wenn sich meine Fantasien in die Luft meiner halb verhungerten Wirklichkeit auflösten. Mein Hunger war meiner Sehnsucht nach Wil nicht unähnlich, als ich zum ersten Mal an diesem Ort war. Ich wusste, dass ich meine Gedanken wieder unter Kontrolle bekommen musste. Aber diesmal wollte es mir einfach nicht gelingen.

Ich hatte bis jetzt kein Glück beim Forellenangeln gehabt, aber auf einmal wollte ich unbedingt eine fangen. Vier geschlagene Tage warf ich mein selbst gemachtes Netz in den Biberteich, wobei ich alle Mühe hatte, bei meinem Leibesumfang noch auf die Knie zu gehen, aber am Ende hatte ich nichts als verfaultes Schilf aus dem Wasser gezogen. Jedes Mal, wenn ich wieder ein leeres Netz herauszog, befiel mich Panik. Schließlich sah ich irisierende Schuppen im sonnenbeschienenen Teich aufblitzen, und ich warf mein Netz hinein. Was ich herausholte, war nicht viel – meine Beute war keine zwanzig Zentimeter lang –, aber ich rannte mit dem Fisch sofort zurück zum Lager, nahm ihn eifrig aus, steckte ihn auf einen Spieß, und dann briet ich ihn kurz über den Überresten meines Feuers vom Morgen. Ich verschlang ihn innerhalb von Sekunden, mit Gräten und allem Drum und Dran. Splitter blieben mir in der Kehle stecken, und ich hustete und gurgelte, um sie loszubekommen. Trotzdem verlangte es mich immer noch nach mehr, sogar nach den Gräten, ganz besonders nach den Gräten. Rückblickend ist mir klar, dass ich fast am Verhungern war.

Neben diesen Gelüsten setzten mir meine Müdigkeit und die Schmerzen und jähen Bauchmuskelkrämpfe zu, die mir meine alltäglichen Aufgaben wie Wasserholen und Holzsammeln jeden Tag schwerer machten. Ich konnte mich kaum noch bücken, um das Anmachholz richtig hinzulegen und ein Feuer zu machen, ohne mich hinterher hinsetzen und ausruhen zu müssen. Als die ersten Himbeeren, auf die ich mich schon so lange gefreut hatte, zu süßen Juwelen heranreiften, schleppte ich mich den Berg hoch, um sie alle bis auf die letzte zu pflücken und mir in den Mund zu stopfen. Doch meine Beine trugen mich kaum noch, als ich den Hügel wieder hinunterging, und ich konnte danach nicht wieder genug Kräfte sammeln, um erneut zum Beerenpflücken hinaufzuklettern.

Mein Bauch wurde so groß, dass jedes Gramm meines restlichen Körpers nur noch zu seiner Unterstützung bestimmt schien. Meine Glieder waren verkümmert. Meine Füße schmerzten. Wenn ich im Bett lag, tat mir der Rücken weh. Im Sitzen litt ich Höllenqualen von meiner Blase und meinen Gedärmen. Doch Stehen belastete meine Hüften zu sehr, und wenn ich ging, hatte ich das Gefühl, als würde alles gleich auseinanderbrechen.

In einer mondlosen Nacht – Ende Juli, Anfang August, glaube ich, aber ich hatte aufgehört, die Tage mit Markierungen an der Hüttenwand zu zählen, wie ich alles eingestellt hatte, was nicht unmittelbar überlebensnotwendig war – warf ich mich unruhig im Bett hin und her, um eine halbwegs bequeme Position zu finden, während ich versuchte, meine Gelüste und mein Unbehagen auszublenden. Nachdem ich damit ein paar Stunden zugebracht hatte, stand ich schließlich frustriert auf, ohne zu wissen, wo ich hingehen sollte oder was ich tun sollte, um mir Erleichterung zu verschaffen. Ich zündete eine Kerze an, zog den weiten Pullover über, den ich mir von Og mitgenommen hatte, und trat aus der Hütte in die kühle, schwarze Nacht hinaus. Millionen von Sternen blinkten über mir, aber ich schenkte ihnen kaum einen Blick, so verzweifelt wollte ich irgendetwas finden, was mich beruhigen könnte. Der Garten winkte mir. Ich kniete mich hin und zog die erste Rübe aus der Erde. Sie war nicht größer als eine Traube, aber ich aß sie trotzdem, einschließlich der Erde, die noch daran haftete, und eines Großteils des Strunks. Ich zog eine weitere heraus und noch eine, und obwohl ich wusste, dass ich gerade meine eigene Ernte kaputt machte, indem ich sie aufaß, bevor sie ihren vollen Wert erreicht hatte, konnte ich einfach nicht aufhören. Der Dreck knirschte zwischen meinen Zähnen, wie gleichzeitig unerträglicher, aber seltsam angenehmer Streusand, und wenig später stopfte ich mir Hände voll Erde in den Mund. Es war zugleich so falsch und so richtig – ich brach in Tränen aus, weil mich die Verwirrung einfach überwältigte. Die Tränen machten die Erde salzig, als ich meine schmutzigen Handflächen ableckte. Das Kind in mir trat wie wild, als würde es nach mehr verlangen.

Als ich aufstand, um in die Wärme der Hütte zurückzukehren, beschämt und verwirrt von meinen Taten, versteifte sich plötzlich meine Gebärmutter. Der Krampf begann ganz klein und vertraut, dann wurde er jedoch intensiver, breitete sich aus und verfestigte seinen Griff, bis mein ganzer Bauch groß und steif war, und ich dachte, ich würde gleich ohnmächtig werden. Ich hatte Mühe, durch die Türöffnung zu meinem Bett zurückzukommen. Irgendwann ließen der Schmerz und die Spannung nach. Selbst in meiner Unkenntnis zum Thema Gebären erkannte ich diesen Krampf als meine erste Wehe. Ich hatte Todesangst. Als der Schlaf kam, träumte ich, dass ich etwas suchte, was ich nicht finden konnte. Ich wachte in nassen Unterkleidern und Bettzeug auf, mit einer klebrigen Feuchtigkeit zwischen meinen Oberschenkeln.

Es heißt, dass dem Geburtsvorgang ein gnädiges Vergessen folgt, und vielleicht stimmt das, denn ich kann mich nicht an allzu viele Einzelheiten der Ankunft meines Sohnes erinnern. Aber eines weiß ich noch: Ich weiß, dass ich zu schwach war, um zu tun, was getan werden musste, aber gleichzeitig war mir klar, dass ich es dennoch tun musste.

Die Wehen nahmen in den nächsten Tagen zu, und ich wurde mit jeder Wehe wilder und animalischer und verängstigter. Es war die Unausweichlichkeit der Geburt, die mich so in Panik versetzte, es war, als wäre ich auf einen wilden Hengst gestiegen und hätte nun keine andere Wahl mehr, als ihn zu reiten, bis ich abgeworfen wurde. Jeder Gedanke an Essen verschwand. Meine Umwelt verschwand. Ich war nur noch Körper und Öffnung und Brennen. Als der Schmerz unerträglich wurde, heulte und schnaubte ich und ging mitten in meinem Lager auf die Knie, wobei ich mich auf allen vieren schaukelte wie ein jämmerliches Tier. Als ich endgültig sicher war, dass meine Hüften gleich ausgerenkt werden würden und in entgegengesetzte Richtungen in den Weltraum geschleudert, war es mir irgendwie gelungen, in die Hütte zu kriechen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, mich ausgezogen zu haben, aber wenig später kauerte ich nackt auf dem Lehmboden und klammerte mich an der Bettkante fest.

Ich weiß noch, wie ich mir mit zitternder Hand zwischen die Beine fasste und plötzlich die harte Oberfläche eines winzigen Schädels spürte. Ich kann mich nicht entsinnen, die rosa Quilts vom Bett auf den Boden gezogen und unter mich gelegt zu haben, ich kann mich nicht an die Reihen von Presswehen erinnern, die das Baby aus meinem Körper schlittern ließen, und ich kann mich nur noch vage erinnern, dass ich auf die Knie fiel, ihn hochhob wie einen glitschigen Aal und an meine Brust drückte, während unsere Körper immer noch durch die lila pulsierende Nabelschnur verbunden waren. Alles, was ich noch ganz deutlich vom Eintritt meines Sohnes in diese Welt weiß, ist, dass er sich nicht bewegte.

Er war winzig und leblos wie eine Puppe, die einzige Bewegung an ihm kam von meinen zitternden Händen. Meine Gedanken kamen ins Schwimmen bei dem Versuch, das Unmögliche mit dem Tatsächlichen in Einklang zu bringen. Diese mächtige Lebenskraft, die mich so hartnäckig getreten hatte, um sich zu befreien, war verschwunden. Ich wusste, dass ich irgendetwas tun musste, um ihn zu retten, aber ich war nur ein dummes, junges Mädchen allein in der Wildnis, das keine Ahnung hatte, was es tat. Natürlich wird das Baby sterben , dachte ich in meinem Delirium und Schmerz, und ich, der das Blut immer noch an den Beinen herunterlief, würde ihm folgen, entkräftet und erschöpft, wie ich war. Mir fiel nur eines ein: Schreien.

»Lebe!«, brüllte ich, wobei ich diesen Befehl wahrscheinlich genauso an mich richtete wie an das Baby, das blau und schlaff auf meinem Schoß lag. »Lebe!«, schluchzte ich, immer und immer wieder, als könnte das bloße Wort die Toten auferstehen lassen.

Doch dann erschien Wil plötzlich neben mir, ich schwöre. Er legte mir unser Baby in die Ellenbogenbeuge. Er zog meine freie Hand in seine, und gemeinsam begannen wir, unserem Baby den Brustkorb zu massieren, so wie er es damals auch mit Ruby-Alice’ schlaffem Welpen gemacht hatte. Zuerst sanft, dann kräftig, mit zielgerichteten Bewegungen strich Wil mit meiner flachen Hand über das Herz unseres Babys, drehte es um und streichelte seinen zarten Rücken, drehte es wieder um, rieb weiter und rief es ins Leben zurück. Wil blies in die winzigen blauen Lippen. Immer noch wollte unser Baby sich nicht rühren.

Doch Wil gab nicht auf. Durch meine Handflächen rieb er in schnellen Kreisbewegungen über den Brustkorb des Babys, über die dünnen Streifen seiner Rippen, das samtweiche, violette Fleisch. Auf einmal, als wäre plötzlich ein geheimnisvoller Schalter umgelegt worden, keuchte das Baby auf. Es war ein heiserer Ton, tief und verschleimt und überraschend. Ich drehte ihn auf den Bauch und klopfte ihm auf den Rücken, um seine Lungen freizubekommen, und als das nicht funktionierte, drehte ich ihn wieder um und holte mit meinen Fingern den Schleim heraus, der seinen winzigen, zahnlosen Mund verstopfte. Er holte noch einmal gurgelnd Luft, schwach und unsicher. Ich hob seinen Mund an meinen und atmete kräftig ein, spuckte den Schleim aus, setzte dann wieder meine Lippen auf seine und atmete erneut ein, und auf diese Art zog ich das Leben nach oben, so sicher, wie die Sonne Keimlinge aus dem Boden lockt.

Der erste Schrei meines kleinen Sohnes war das Schönste, was ich jemals gehört hatte. Ich wandte mich mit staunendem Lächeln zu Wil und war überrascht, ihn nicht neben mir zu sehen. Dabei war er Sekunden zuvor noch da gewesen und hatte mir geholfen, unser Kind zu retten. Doch Wils einzige Wirklichkeit war in unserem Kind selbst, das jetzt rosa angelaufen war und schrie. Ich drückte ihn mit einer Hand an meine Brust und zog mit der anderen eine weitere Decke vom Bett. Ich wischte ihn ab und wickelte ihn ein, wobei ich ihm immer wieder beruhigende Worte zumurmelte, um sein Weinen zu beschwichtigen. Ich wusste, dass ich etwas finden musste, um die Nabelschnur zu durchtrennen, aber ich konnte ihn einfach bloß umklammern und mich vor und zurück wiegen, wobei ich vor Freude und Ungläubigkeit und Dankbarkeit weinte. Mein Baby lebte. Vielleicht war ich doch kein so dummes Mädchen, wie ich gedacht hatte, denn ich hatte dieses neue Leben geschaffen und es in die Welt gesetzt.

Als er seine kleinen geschwollenen Augen aufmachte und mich neugierig zum ersten Mal anschaute, spürte ich ein Wunder sondergleichen. All diese Monate hatte ich geglaubt, dieses Wesen in meinem Körper sei ein Fremder, eine bloße geheime Kreatur oder vielleicht sogar verdiente Buße. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass es jemand sein würde, den ich von irgendwo aus den unnennbaren Tiefen meines Inneren wiedererkannte, dieses Baby mit diesen dunklen Augen, verblüffend vertraut.

Er runzelte seine winzigen Augenbrauen, und wir starrten uns lange an, wie zwei Seelen, die erst ein Universum weit getrennt gewesen, nun aber wieder vereint waren.