I ch war im ersten Moment nicht sicher, ob das lange, schwarze Auto ein Trugbild war. Ich war, ich weiß nicht, wie lange, gewandert, wobei ich ständig nach den Steinzinnen Ausschau hielt, um mich zu orientieren, aber ich sah nur kilometerweit unvertrautes Land. Espen und Weiden hatten vor Stunden schon Salbei- und Wacholdergestrüpp Platz gemacht, und nun das: ein schwarzes Auto aus der Stadt, das auf einer Straße parkte, die in der Nähe eines Gelbkiefernhains vorbeilief. Das war mehr, als mein verwirrtes Hirn verarbeiten konnte.
Ich versteckte mich hinter einem Baum und versuchte, mir einen Reim auf das Ganze zu machen. Picknicker. Ein Mann und eine Frau, die eine rote Decke auf dem Boden ausgebreitet und darauf ihr Essen gestellt hatten: ein goldenes Brot und einen Käselaib, aufeinandergeschichtete Scheiben von rosa Schinken, wie Mr. Chapman ihn immer hauchdünn an seiner Theke schnitt, und – konnte das sein? – zwei wunderschöne rosige Pfirsiche, so groß wie Baseballs, auf einer braunen Papiertüte. Mir tat allein vom Anblick schon der Bauch weh.
Doch noch wundersamer als dieses kostbare Essen war ein Baby – es war in hellblauen Flanell gewickelt und wurde von der Frau auf den Armen gewiegt. Es war größer, aber vielleicht sogar jünger als Baby Blue. Es wand sich und strampelte und heulte, wie es sich für ein Baby gehört. Der Mann stand etwas abseits, rauchte eine Zigarette und verfluchte zwei kreischende blau-schwarze Diademhäher, die auf einem Zweig über ihm hockten. Die Frau machte ihr Hemd auf und holte ungeschickt eine runde, weiße Brust heraus, so voll und drall, wie meine ausgetrocknet und verwelkt waren. Ihr Baby stieß sie weg, doch die Mutter ließ nicht locker. Als der Säugling sich beruhigte und zu saugen begann, wusste ich, was ich zu tun hatte.
Es gibt eine Art von Traurigkeit, die jede andere übersteigt, die einem wie heißer Sirup in jeden Winkel und jede Ritze seines Wesens läuft. Sie beginnt beim Herzen und sickert einem dann in jede Zelle und ins Blut, sodass nichts – weder Erde noch Himmel und nicht mal deine eigene Hand – mehr aussieht wie früher. Das ist die Art von Traurigkeit, die alles verändert.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich diese tiefste Art von Trauer schon kennengelernt hatte. Natürlich hatte der Verlust meiner Mutter, meiner lieben Tante Viv und meines geliebten Cal ein Loch in den einst so fest gewebten Teppich meiner anständigen Kindheit gerissen, doch die Bibel meiner Mutter und die Notwendigkeiten des Alltags brachten mir bei, dass das ein Riss war, den man flicken musste. Mein benebelter junger Kopf akzeptierte die praktischste Antwort und handelte entsprechend. Ich schluckte meine Trauer herunter wie einen harten Klumpen Asche, und dann blieb er in meinem Magen. Und als ich in Chapmans Geschäft stand und die Neuigkeiten von Wils tragischem Schicksal belauschte, ging ich nicht nach Hause, um mir ein Küchenmesser zu greifen und es in wildem Rachedurst nach Seth zu schleudern, sondern fuhr stattdessen fort, gehorsam zu kochen und abzuwaschen und Abel zu versorgen und den Hühnerstall in stillen, heimlichen Tränen sauber zu machen. Ich bewegte mich immer weiter. Ich rannte in den Wald, traf Vorbereitungen, gebar, überlebte. Der Kummer hatte es versucht, aber er konnte mich nicht überwinden.
Doch als ich zu diesem großen schwarzen Auto schlich und mein Baby auf den warmen Lederrücksitz legte und es dort zurückließ, wurde eine solche Trauer in mir ausgelöst, die jede einzelne Zelle meines Körpers erfasste. Ich merkte es im ersten Moment gar nicht, so benebelt war ich vom Hunger, so daran gewöhnt, alles zu ertragen, zu tun, was getan werden musste. Als ich die Autotür klickend hinter mir zumachte und von ihm wegging, tat ich das fast so, als hätte ich bloß einen Stein abgelegt. Oder wenn nicht einen Stein, dann eben einen Welpen oder ein Küken, etwas, um das ich mich hatte kümmern müssen, um es dann weiterzugeben, ein praktischer Besitzerwechsel, wie der Verkauf eines Ferkels aus dem Stall oder eines Setzlings aus dem Obstgarten. Ich schmiegte ihn nicht noch ein letztes Mal in meine Halsgrube oder wischte mit meiner Wange zum Abschied über seinen daunigen Kopf. Ich vermied es, seinen Geruch noch einmal einzuatmen und ihn in meinem Gedächtnis zu speichern, als ich ihn auf den Sitz legte, und ich schaute auch nicht noch ein letztes Mal durchs offene Autofenster seine perfekten Lippen an. Bauernkinder lernen von Kindesbeinen an, sich nicht zu fest an den Nachwuchs zu binden, dessen Schicksal nicht in unserer Hand liegt. Ich hatte vorgehabt zu warten, aus einem Versteck zuzuschauen, bis einer der Picknicker meinen Sohn bemerkte – damit ich sicher wusste, dass er entdeckt worden war, ich wollte sehen, wie man ihn hochhob und in die Arme nahm – doch stattdessen rannte ich davon. So schwach ich auch war, ich lief vom Auto weg und schoss von der Lichtung, ohne auch nur einmal den Kopf nach hinten zu drehen.
Ich kletterte über Felsen und Zweige und Baumstümpfe, rannte um Salbeigestrüpp und Felsen herum, auf unerklärliche Art explodierte ich aus der Erschöpfung und lief durch Ackerfurchen und steile Hügel hinauf, stolperte und fiel hin, rappelte mich wieder auf und rannte weiter. Was hatte ich getan? Ich war verzweifelt und durcheinander und hatte keine Ahnung, wo ich eigentlich hinlief. Hätte der Wald Augen gehabt, um meinen wilden Rückzug zu beobachten, hätte er sicher geglaubt, dass etwas Dunkles, Hungriges hinter mir her war. Niemand hätte erraten, dass das einzige Raubtier, vor dem ich flüchtete, meine eigene, unvorstellbare Tat war.
Schließlich brach ich auf dem Waldboden zusammen. Ich lag auf dem Rücken und schnappte nach Luft. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist Folgendes: Der Himmel über mir war glühend blau und wolkenlos, und darin kreiste ein Rotschwanzbussardweibchen. Ich konzentrierte mich auf ihren eleganten Flug, als wäre es das Einzige auf der Welt, woran man noch glauben konnte. Sie schien nicht auf der Jagd zu sein, sondern genoss einfach nur den Flug auf ihrer ganz eigenen Brise. Immer weiter schwebte sie im Kreis, mühelos, ohne auch nur einen Flügel zu rühren. Immer weiter folgten ihr meine Augen im Kreis. Ich lag weit unter ihrem Vergnügen, zitternd und kinderlos, überwältigt von Einsamkeit. Die Verbundenheit, die ich während meiner Schwangerschaft mit der ganzen Welt empfunden hatte, war verschwunden. Ich dachte über die Möglichkeit nach, dass an dem Tag, an dem Wil und ich miteinander geschlafen hatten – vielleicht genau in dem Moment, als ich meinen Rücken in Ekstase durchbog –, dieses Bussardweibchen zu ihrem Nest zurückgekehrt war, um zu entdecken, dass es ausgeräubert worden war, dass ihre Jungen weg waren. War es möglich, dass ich in meinem eigenen Glück verloren war, als die Katastrophe dieses Bussardweibchen traf, genauso wie sie jetzt nichts von meiner Tragödie wusste?
Zum ersten Mal fragte ich mich, was genau ich getan hatte, als das Auto mit meiner halben Familie darin aus der Kurve flog. Spielte ich in dem Moment gerade im Obstgarten? Biss ich gerade in einen süßen Pfirsich, als sich das Auto zum ersten Mal überschlug, als ein geliebtes Familienmitglied nach dem anderen aus dem Fenster geschleudert wurde und sich den Kopf an einem Felsen aufschlug? Und wo war ich gewesen, als Seths Auto einen Satz nach vorne machte und zum ersten Mal mit katastrophalen Folgen an Wils gefesselten Händen riss? Konnte ich wirklich so stumpf gewesen sein, dass ich ein perfekt durchgebackenes Brot aus dem Ofen holte, als mein Wil das erste Brennen von Fleisch auf Kies durchlitt oder als er seinen letzten Atemzug tat?
Wie absurd es war, sich zu wünschen, dass dieses Bussardweibchen an meinem Leiden hier unten teilnahm. Wie alles, was mit meinem Baby Blue zu tun hatte, würde ich auch die Qual seines Verlusts alleine durchstehen. Die Tatsache, dass er überhaupt gelebt hatte – die unglaublich weichen Falten an seinem Hals, sein süßer Atem, seine winzigen, zufassenden Hände –, war nur mir bekannt und nur mir wichtig.
Und trotzdem dachte ich im nächsten Moment an sie – die Frau in der weißen Bluse, die andere Mutter.
Ich hatte sie nur flüchtig gesehen, als ich mich aus der Deckung der Büsche und Bäume näher ans Auto heranschlich, aber ich erinnerte mich an ihr welliges, kastanienbraunes Haar, kurz geschnitten und modern zur Seite gekämmt, und wie sie es hinter ein Ohr klemmte, als sie auf ihr strampelndes Baby hinunterblickte. Sie war hübsch, mit ihren runden Wangenknochen und der zarten Nase, aber sie war auch blass und ausdruckslos – vielleicht war sie müde von der Fahrt gewesen – und ließ den Säugling ernst auf und ab wippen, wobei sie ihm den Hintern tätschelte und ihn ermutigte, sich zu beruhigen und ruhig zum Stillen anlegen zu lassen. Ab und zu warf sie ihrem Mann einen Blick zu, der ihr seinen breiten Rücken zugewandt hatte, während er die Diademhäher verfluchte und dann auf den Wald starrte, wobei sich ein Katzenschwanz von Zigarettenrauch über seinem dunklen Kopf kringelte.
Vor meinem geistigen Auge sah ich, was als Nächstes passierte, so deutlich, als hätte ich die Szene selbst beobachtet: Die kreischenden Häher hatten sich endlich beruhigt, da legte die Frau den Kopf schräg, als sie die ersten leisen Schreie aus dem Auto kommen hörte. Ich stellte mir vor, wie sie das Weinen im ersten Moment mit Vogelgezwitscher verwechselte, doch dann belehrte sie ihr Mutterinstinkt eines Besseren. Ich stellte mir vor, wie sie sich die Bluse wieder zuknöpfte, ihr eigenes Kind ihrem Mann in die Hand drückte und aufs Auto zuging – zuerst vorsichtig, aber dann mit erkennbarer Dringlichkeit im Schritt, mit sicherem, schnellem Gang. Ich sah, wie sie durchs Fenster spähte und nach Luft schnappte, bevor sie die Autotür aufriss und ungläubig auf das Baby herunterstarrte. Und dann, da war ich ganz sicher, würde die Frau hastig und instinktiv mein hungriges Baby an ihre Brust legen und ihm ihre süße, üppige Milch geben, die lebensrettende Nahrung, die ich ihm nicht mehr geben konnte.
Und ich stellte mir vor, ich hoffte, dass sie vielleicht an mich dachte, während sie es an ihre Brust hielt. Sie würde suchende, mitleidige Blicke in den Wald werfen, in dem Wissen, dass irgendwo da draußen eine junge Mutter, die ihr so ähnlich war, ihr Baby abgelegt hatte und konfus davongestolpert war. Sie würde über so eine Tat staunen, über die extremen Umstände, die eine Frau zwangen, so eine unmögliche, dumme Entscheidung zu treffen.
Ich lag auf dem Waldboden, immer noch hypnotisiert vom unablässigen Kreisen des Bussardweibchens, und drückte meine rechte Hand – den letzten Körperteil, mit dem ich mein Kind berührt hatte – fest an meine Wange. Ich stellte mir vor, dass der Abdruck seines winzigen Köpfchens in die Linien und Falten meiner Handfläche eingegraben war, und strich mir immer und immer wieder übers Gesicht, in der Hoffnung, dass er irgendwie meine Berührung spüren konnte.
Ich musste eingeschlafen sein, denn meine nächste Erinnerung ist die, dass ich auf dem harten Boden aufwachte, auf dem ich zusammengebrochen war. Steine bohrten sich mir in den Rücken, mein Herz schlug heftig. Ich lag reglos dort, starrte einfach nur auf die diesige Abenddämmerung und eine rosenförmige graue Wolke. Ich ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Als ich losgegangen war, um Hilfe zu suchen, hatte ich nicht vorgehabt, meinen Sohn wegzugeben. Doch als ich die Picknicker sah – das elegante schwarze Auto, die volle Brust, die Familie –, blitzten die möglichen Leben meines Babys vor meinem inneren Auge auf. In der einen Version würde er mein Kind bleiben, würde aber immer schwächer werden und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sterben, und sollte er überleben, sollten wir beide überleben, wo sollten wir dann Zuflucht finden? In der anderen Version würde er für immer von mir getrennt werden, um der Sohn einer anderen Frau zu werden, aber er würde gefüttert werden, zunehmen, eine Zukunft haben, einen Vater, ein Zuhause. Wie die Hirschkuh, deren Instinkt, ihr stärkeres Kitz zu bevorzugen, sicher im Widerstreit zu ihrem Wunsch stand, das schwächere zu ernähren, so sagte auch mir eine Stimme aus einem tieferen Inneren, die stärker war als Logik oder Liebe oder auch Hoffnung, dass ich eine ähnliche Wahl treffen musste. Ich war unbewusst weitergegangen, wie im Traum, als hätte irgendeine andere Kraft als der normale Befehl aus meinem Gehirn meine Füße durch die hohen Gräser und Salbeisträucher bewegt, über den steinigen Boden auf das Auto zu, wobei ich mich vorwärtsbewegte, ohne mir wirklich bewusst zu sein, was ich tat, bis ich es tat. Im einen Moment drückte ich seinen winzigen Körper noch an meine Brust. Im nächsten öffnete ich die Tür zum Rücksitz, legte ihn auf die Lederbank, schloss die Tür mit einem leisen Klicken und ging davon.
Die Dunkelheit brach schnell herein, schwarz und mondlos. Ich stand auf und stolperte zu einer Gruppe von Kiefern, um mich darunterzulegen, in der Illusion, dass sie mich die ganze kalte Nacht hindurch schützen könnten. Ich schlief und wachte abwechselnd, gequält von Träumen, dass mein Baby nach mir schrie und ich es suchte und suchte, es aber nicht finden konnte. Sobald ein schwachgelbes Band von Morgendämmerung im Osten erschien, stand ich auf, zitternd und steif. Ich begann zu gehen und versuchte, meine Schritte vom Vortag nachzuvollziehen. Als der Morgen richtig dämmerte, war es mir gelungen, die Lichtung wiederzufinden, und ich stand genau an derselben Stelle, an der ich mein Baby aus der Hand gelegt hatte. Das Auto und das Paar waren verschwunden. Kein Fußabdruck war zu sehen und auch keine Reifenspuren, als hätten Geister mein Kind gestohlen, nachdem sie mir grausam den Verstand verhext hatten. Halb benebelt drehte ich mich mehrmals im Kreis und nahm die Szenerie bei jeder Runde in mich auf, als würde ein Blick mehr irgendeinen Hinweis auf sein Schicksal zutage fördern. Mich packte schreckliche Panik. Am Ende war die ganze Episode nur Einbildung gewesen, und ich hatte ihn weiß Gott wo gelassen.
Auf einmal blieben meine Augen an einem Pfirsich hängen, der auf einen großen Stein hingelegt worden war, wie ein orangefarbener Edelstein in der immer heller werdenden Morgendämmerung. Auf ihrer Picknickdecke hatten zwei Pfirsiche gelegen. Jetzt hatte sie mein Kind und ich ihren Pfirsich. Sie hatte ihn für mich hiergelassen. Vielleicht hatte sie aus Baby Blues Federgewicht geschlossen, dass seine Mutter auch hungrig sein musste, aber – und das war noch wichtiger – wahrscheinlich hatte sie auch geahnt, dass ich zu diesem Ort zurückkehren würde, um nach Bestätigung zu suchen, dass dieser Austausch wirklich stattgefunden hatte.
Ich näherte mich dem Pfirsich vorsichtig, denn ich traute meinen Sinnen nicht. Als ich die Hand ausstreckte und feststellte, dass die Frucht wirklich da war, und so perfekt gereift, dass ich geradezu spürte, wie die Handfläche meines Vaters ihn von seinem Zweig drehte und wie Cora ihn mit sanftem Griff in eine Tüte legte, wurde mir klar, dass unsere Leben – meins und das der Familie in dem glänzenden schwarzen Auto – sich schon überschnitten hatten, bevor ich ihnen zufällig begegnet war. Sie waren an unserem Stand am Straßenrand gewesen. Wahrscheinlich hatten sie sich nach einem hübschen Platz für ein Picknick erkundigt, nach einer Stelle, wo man mal eine Weile von der Autobahn runterfahren konnte, und dann waren sie Coras Wegbeschreibung gefolgt. Und während Cora ihnen mit ihren pummeligen Armen den Weg hierher erklärte, hatte ich vielleicht gerade meine benebelte Wanderung zu ebendieser Lichtung angetreten. Ich hatte nie den unerschütterlichen Glauben meiner Mutter an göttliches Schicksal geteilt, aber in diesem Moment kam ich zu dem Schluss, dass sie vielleicht doch recht gehabt hatte, was Gottes Willen anging. Mein Baby brauchte Brüste voller Muttermilch, eine Mutter, die sich richtig um es kümmern konnte, einen Vater von dieser Erde, und diese beiden waren gekommen. Ich brauchte Essen und eine Bestätigung, dass mein Sohn gefunden worden war, und hier stand ich jetzt mit einem wundersamen Pfirsich in meiner Hand.
Der erste Bissen war so köstlich, dass ich einen richtigen Stich spürte. Ich ließ seine Süße in meinem trockenen, einsamen Mund explodieren, dann genoss ich langsam die nächsten paar Bissen, wie eine Erlösung. Allen guten Vorsätzen zum Trotz begann ich die Frucht in riesigen, gierigen Bissen zu verschlingen, dass mir der Saft nur so an den Handgelenken in die ausgefransten Pulloverärmel lief. Innerhalb von Sekunden war das kostbare Geschenk weg. Ich hatte jede Faser Fruchtfleisch vom Kern gelutscht, dann meine verschmierten Hände und Handgelenke abgeleckt, um noch einen letzten Geschmack von Saft zu haben.
Da ich unbedingt noch mehr wollte, verließ ich die Lichtung, auf der das schwarze Auto geparkt hatte. Ich kam zu einem schmalen, unbefestigten Weg, der sich durch den Wald schlängelte, bis er eine breitere Straße aus mattem gelbem Kies kreuzte. Wäre ich richtig bei Sinnen gewesen, hätte ich da schon gemerkt, wo ich war, aber ich musste mich schon so anstrengen, um einfach nur meinen schwachen Körper vorwärtszuschleppen, einen müden Schritt nach dem anderen. Ich entschied mich, der Straße bergab zu folgen, weniger aus irgendeiner logischen Vorstellung heraus, wo ich war, sondern eigentlich nur, um eine anstrengende Steigung zu vermeiden. Aber es war der richtige Weg nach Hause, wie ich entdeckte, als dieser endlose Kiesweg irgendwann neben dem Big Blue Creek herlief und sich schließlich mit dem Highway 50 vereinigte. Ohne auch nur zu schauen, ob vielleicht ein Auto kam, rannte ich stupide über den heißen schwarzen Asphalt, um mich auf der anderen Seite an die Leitplanke zu klammern. Unter mir floss der Gunnison River dahin, langsam und mit niedrigem Wasserstand, und die Gleise erstreckten sich neben seinem Ufer. Im Osten lag Iola, die Stadt und das Leben, das ich mir bis zu diesem Moment nicht zu vermissen erlaubt hatte.
Ich muss einen wüsten Anblick abgegeben haben für den Autofahrer, den ich anhielt. Ich hatte mir gar keine Gedanken gemacht, doch angesichts meines verfilzten Haars und der ausgemergelten Figur in diesen schmutzigen Sachen war es ein Wunder, dass er überhaupt stehen blieb. Er war kein Ortsansässiger, aber er hatte ein freundliches Gesicht und erklärte sich bereit, mich in die Stadt mitzunehmen. Süßes Aftershave und Pfefferminz, Zigaretten, Schuhcreme, Benzin, Leder – mein Geruchssinn war derartig scharf und so entwöhnt von den ganz normalen Gerüchen der Zivilisation, dass das Fahrzeuginnere mich fast überwältigte. Die Scherze des Mannes waren die ersten Worte, die jemand an mich gerichtet hatte, seit ich im April von zu Hause weggegangen war. Seine Baritonstimme klang federnd und aufrichtig. Gott sei Dank war er keine Plaudertasche. Ich lehnte meinen Kopf an die warme Fensterscheibe, machte die Augen zu und ließ mich vom Brummen des Motors in den Schlaf lullen, bis ich merkte, wie das Auto verlangsamte und den Highway verließ, über die Brücke fuhr und wieder abbog, diesmal auf den Kiesweg nach Iola.
Dort war unser Obststand, so sehr vertraut, mit ordentlichen Reihen perfekter Pfirsichbäume, und die liebe Cora, die unverändert an einem Pfosten lehnte und einen Durchreisenden bezirzte. Die Lockung dieser Pfirsiche hatte mich vom Hügel heruntergeholt, aber jetzt, wo sie greifbar nahe waren, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, bei ihnen zu sein. Ich merkte, dass ich weder in der Lage sein würde, eine Unterhaltung mit Cora zu führen, noch, durch meine eigene Haustür zu gehen. Ich war ein wildes Ding geworden, eine Fremde in meinem eigenen Land. Ich bat den Mann, außen um die Stadt herumzufahren und auf unsere Straße abzubiegen, doch selbst als ich das tat, hatte ich nicht vor, nach Hause zu gehen. Der Fahrer verlangsamte, bis er zum Stehen kam. Er konnte ja nicht wissen, dass sich ein Haus tief zwischen diesen dunklen Kiefern verbarg.
»Bist du sicher?«, fragte er skeptisch und beäugte die Bäume.
»Ja, Sir.«
Ruby-Alice Akers würde mich aufnehmen, ebenso wie sie Wil aufgenommen hatte. Da war ich ganz sicher. Ich bedankte mich bei dem Mann, kroch aus seinem duftenden Auto und stolperte durch die Kiefern zu Ruby-Alice’ Tor. Die kleinen Hunde und Perlhühner und schreckhaften Hühner bellten und glucksten und liefen in alle Richtungen davon.
Bevor ich die rosa Tür erreichen konnte, machte Ruby-Alice mir auch schon auf. Sie geleitete mich an einem Ellbogen hinein, als wäre ich die zerbrechliche alte Frau, nicht sie, und ich brach auf ihrem Sofa zusammen. Sie betrachtete mich mit etwas wie Mitleid in ihrem eingesunkenen Auge und mit Zweifel, aber Verständnis in ihrem wilden Auge.
Ihre blauen, zitternden Hände führten ein Glas Wasser an meine ausgetrockneten Lippen. Sie fütterte mich mit Brühe und Brot. Sie brachte mir auch einen frischen Pfirsich, mundgerecht aufgeschnitten wie für ein kleines Kind und sorgfältig auf einer feinen Porzellanuntertasse arrangiert. Es war zwar warm in dem kleinen Häuschen, aber sie deckte mich trotzdem mit einem rosa Quilt zu, und ich drückte ihn an meine Brust und dachte dabei an mein Baby und an Wil.
Ich schlief drei Tage und drei Nächte durch, nur um ab und zu aufzuwachen und kleine Rationen von Essen und Trinken aufzunehmen, die mein Körper bei sich behalten konnte. Ruby-Alice erhöhte jedes Mal die Menge und die Nahrhaftigkeit des Essens, bis ich am vierten Tag nach Mittag aufwachte und in der Lage war, meine erste volle Mahlzeit seit Monaten zu mir zu nehmen. Sie hatte ein Huhn geschlachtet und gebraten, und ich verschlang es, als wäre ich ein Bär, der gerade aus seinem Winterschlaf erwacht ist. Ich aß alles, was sie vor mich hinstellte: Erdbeeren, Bratkartoffeln, grüne Bohnen mit Schinkenwürfeln und luftige Himbeermuffins, aufgebrochen und dick mit Butter bestrichen. Ich aß, bis mir schlecht wurde, ließ eine Stunde vergehen, dann aß ich weiter. Ruby-Alice half mir beim Baden und kämmte mir die Kletten aus den langen Haaren, rollte es dann der Länge nach zusammen und steckte es an meinem Hinterkopf in einem losen Knoten fest. Da wir beide an Stille gewöhnt waren, sprachen weder die alte Frau noch ich ein Wort, abgesehen davon, dass ich oftmals meine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte und sie zufrieden zurückgrunzte. Wenn sie mein Wimmern und Schniefen hörte, als ich um mein verlorenes Baby weinte, wusste sie, dass sie mich in Ruhe lassen musste.
Wäre nicht Wilson Moon gewesen, hätte ich Ruby-Alice nie als etwas anderes kennengelernt als eine verrückte alte Dame, die Gottes Hilfe brauchte. Wäre nicht Wilson Moon gewesen, hätte ich meine eigene Ausstrahlung, meine Schönheit, meine Kraft oder das kostbare Gefühl, Baby Blue im Arm zu halten, nie kennengelernt. Ich schwor mir zu versuchen, diese Erinnerungen über meinen Schmerz und meinen Verlust zu stellen, als ich irgendwann vom Sofa aufstand und mit Ruby-Alice zu ihrem Tor ging. Sie gestattete mir eine schnelle Umarmung ihrer knochigen Schultern, um meine Dankbarkeit auszudrücken, bevor ich auf die Kiefern zumarschierte und mich auf den Weg zur Farm meiner Familie machte. Unterwegs sang mich das lang gezogene, tiefe Pfeifen des 5-Uhr-47-Zuges nach Hause.