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N iemand war auf der Farm, weder Seth noch Ogden oder mein Vater oder Trout. Nicht mal die Hühner oder die Schweine waren in ihren Ställen. Das Haus war übersät mit Hinweisen auf die Anwesenheit meines Vaters – alte Zeitungen, schmutzige Kaffeetassen, Abdrücke seiner schlammigen Stiefel, dreckige Sachen und Arbeitshandschuhe, die er einfach achtlos irgendwohin geworfen hatte –, doch Ogdens und Seths Zimmer waren sauber und leer bis auf die abgezogenen Betten und staubbedeckten Kommoden. Das benutzte Geschirr von mehreren Tagen stapelte sich auf der Arbeitsplatte und in der Spüle. Der Küchengarten lag vertrocknet und unbepflanzt da. Nur mein Schlafzimmer fühlte sich so an wie immer, unberührt seit dem Tag, als ich fortgegangen war, sogar der Zettel für meinen Vater lag noch auf meinem Bett. Ich setzte mich hin und las noch einmal meine Worte: Ich liebe dich. Tut mir leid. Mach dir keine Sorgen . Der Zettel kam mir jetzt naiv und kindisch vor. Ich knüllte ihn zusammen und warf ihn auf meinem Weg nach draußen in den Papierkorb. Ich liebte meinen Vater wirklich, aber ich hatte die Angst und den Gehorsam abgelegt, die diese Liebe begleitet hatten, und ich hatte keine Ahnung, was er jetzt für Gefühle in mir auslösen würde.

Der Einzige, dem ich wirklich eine Entschuldigung schuldete, war Abel. Ich fand ihn im Stall, ungeputzt, aber gesund. Er hob seinen Kopf zum Gruß, in seinen sanften, schokoladenbraunen Augen blitzte Wiedererkennen und Erleichterung auf. Ich streichelte ihm den schlanken rotbraunen Hals in langen, langsamen Strichen, und er legte mir sein Maul auf die Schulter, als wollte er sagen: Alles gut bei uns beiden. Ich freu mich, dass du wieder nach Hause gekommen bist . Zumindest hoffte ich das. Ich hielt ihm einen Eimer voll Hafer hin, und er fraß.

Ich drückte Abel einen Kuss auf den weißen Stern auf seiner breiten, flachen Stirn und glaubte zumindest in diesem Moment, dass ich nur dafür um Vergebung von Gott oder den Menschen oder den Tieren bitten musste, dass ich ihm wehgetan hatte. Mich in Wilson Moon zu verlieben, war die aufrichtigste Tat meines Lebens gewesen. Die unvorhergesehenen Auswirkungen einer aufrichtigen Tat machen die Entscheidung nicht weniger wahrhaftig. Alles, was man tun kann – so hatte ich es von Wil gelernt –, ist, sich mit diesen Auswirkungen nach bestem Wissen und Gewissen auseinanderzusetzen, so unvorstellbar oder grauenvoll oder wunderschön oder verzweifelt sie auch sein mögen. Ich dachte an Baby Blue, der jetzt eine ganze Woche älter war, rund und rosig geworden, weil er endlich genug zu essen bekam. Obwohl mein Herz schmerzte und mir der Kummer wie dicker Teer durchs Knochenmark rann, wusste ich, dass es eine weitere aufrichtige Tat gewesen war, mein Baby abzugeben.

In der Ferne hörte ich, wie sich der Wagen meines Vaters über unsere lange Auffahrt quälte. Ich stählte mich innerlich und ging aus dem Stall, um mich ihm zu stellen. Er sah mich gar nicht, als ich auf unser Auto zuging, während er parkte und ausstieg. Doch Trout sprang hinter ihm aus dem Wagen und kam zu mir gerannt, wobei er sich vor Freude halb totwedelte. Ich ging in die Hocke, um den alten Hund zu streicheln, schaute aber hoch, um meinem Vater in die blassgrauen Augen blicken zu können. Sie waren so hell wie Flusskiesel und erwiderten meinen Blick, als wäre ich eine Idiotin oder eine Fremde oder beides.

»Daddy«, versuchte ich es, doch er drehte sich einfach nur um und ging auf die Küchentür zu, als hätte er mich überhaupt nicht gesehen. Er war dünn, ging gebeugt und trug einen schmutzigen Overall. Seine Kappe fehlte, und sein kahl werdender Schädel war rosa und verbrannt von der Sonne. Die drei tiefen, nassen Huster, die er ausstieß, als er durch die Tür trat, verrieten mir, dass es ihm nicht gut ging. Ich schmuste eine Weile mit Trout, der sich wand und winselte, um unsere Wiedervereinigung gebührend zu feiern. Dann stand ich auf und folgte meinem Vater ins Haus.

Er war bereits dabei, sich Abendbrot zu machen, wie er es schätzungsweise jeden Abend in den letzten fünf Monaten gemacht hatte. Ich war überrascht von seinen flüssigen Bewegungen, mit denen er Messer und Pfannenwender und Pfanne handhabte, und beobachtete ihn von der Seitentür bei der Arbeit. Er wusste, dass ich da war, aber schaute nicht auf von seinem dampfenden Rindfleisch mit Zwiebeln, das er immer wieder wendete. Ich erwartete nicht, dass er genug für zwei kochte, damit ich mitessen konnte, doch ich machte mich dennoch an die Arbeit: Ich deckte den Tisch für zwei Personen und goss uns aus der Karaffe im Kühlschrank Eistee in die Gläser. Ich nahm meinen Platz am Tisch ein und wartete ab, ob er mir etwas auf den Teller legen würde. Schließlich erschien die Pfanne neben meiner rechten Schulter, und ein gehäufter Löffel voll landete auf meinem Teller. Er füllte sich selbst eine kleinere Portion auf, trug die leere Pfanne zurück zum Herd und setzte sich gegenüber von mir an den Tisch. Ich wollte keine Unterhaltung erzwingen, für die er sich noch nicht bereit fühlte, und hatte kein Bedürfnis, die Leere mit Geschnatter oder Erklärungen oder Fragen zu füllen. Also war es an diesem Abend still am Tisch, abgesehen von mehreren gurgelnden Hustenattacken und davon, und dass er am Ende unserer Mahlzeit schroff darauf bestand, alleine abzuspülen. Ich wusste nicht, ob sein Schweigen ein Ausdruck unversöhnlichen Ärgers war oder eine Wand gegen Themen, die er vermeiden wollte, zum Beispiel die Gründe für mein Fortgehen oder wo ich gewesen war, aber die Stille passte mir eigentlich ganz gut.

Nach dem Abendessen ging ich unter den letzten blassrosa Spuren des Sonnenuntergangs durch die duftende Pfirsichplantage. Volle Erntekörbe am Ende jeder Baumreihe warteten auf den Transport zum Stand am nächsten Morgen. Ich freute mich schon auf die tröstliche Vertrautheit beim Beladen des alten Wagens, darauf, neben meinem Vater zum Stand zu fahren, mich zum Willkommen von Cora umarmen zu lassen, die Körbe auszuladen und die Pfirsiche so akkurat wie möglich auszulegen.

Mit einer drehenden Handbewegung löste ich einen perfekten Pfirsich vom Zweig und grub meine Zähne in sein nachgiebiges Fruchtfleisch – das war der unverkennbare Geschmack von zu Hause. Ich setzte mich auf einen breiten Baumstumpf, um im stillen Zwielicht durchzuatmen und vor Sehnsucht nach meinem kleinen Sohn leise zu weinen.

Beim Frühstück am nächsten Morgen – ebenfalls zubereitet und hinterher aufgeräumt von meinem Vater, obwohl ich ihm meine Hilfe angeboten hatte – wurden ein paar Worte mehr gewechselt, und während der Fahrt zu unserem Stand noch mehr. Beim Mittagessen wieder ein paar mehr, beim Abendessen noch mal ein paar mehr und so weiter. Er war ein langsam schmelzender Eiszapfen und ich ein geduldiger Fluss.

Nach einer Woche teilten wir uns die Aufgaben Seite an Seite, und unsere Unterhaltung war zwar immer noch verlegen, aber mittlerweile war sie viel besser in Fluss gekommen. Die ganze Zeit wurde der Husten meines Vaters schlimmer und hartnäckiger. Bei einem Pfirsich-Himbeer-Kuchen, den ich als anscheinend unwiderstehliches letztes Friedensangebot gebacken hatte, erfuhr ich, dass Sheriff Lyle Seth zu »dem Ärger mit diesem Indianerjungen« befragt hatte, wie mein Vater es formulierte, und Seth hatte die Stadt verlassen – ich vermutete, dass Lyle selbst es von ihm verlangt hatte.

Ich stellte meinen Kuchenteller zur Seite und holte tief Luft.

»Seth hat diesen Jungen getötet, Daddy«, sagte ich nach langem Schweigen. Mein Herz verdrehte sich angesichts des Wahrheitsgehalts, aber auch der Unzulänglichkeit dieser Worte.

Das bereits ernste Gesicht meines Vaters verzog sich zu einer finsteren Mischung aus Ungnade, Enttäuschung und Bedauern. Er starrte seinen Kaffeebecher an und legte seine beiden rauen Hände darum, als bräuchte er etwas Stabiles, woran er sich festhalten konnte.

»Hatt ich mir schon gedacht«, war alles, was er sagte und alles, was er jemals sagen sollte zum Tod von Wilson Moon.

Ich erfuhr nie, ob mein Vater auch dachte, dass Wil mein Liebhaber gewesen war und der Grund dafür, dass ich von zu Hause weggelaufen war. Ich wollte meinem Vater erzählen, dass er einen Enkel hatte, ein perfektes Baby, doch die Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen.

»Und Ogden?«, fragte ich stattdessen.

Mein Vater gab nur ein Grunzen von sich und wischte die Frage mit seiner Gabel weg. Ich war klug genug, nicht weiterzufragen.

In dieser Nacht begann mein Vater, Blut zu husten. Sein Gehuste und sein Spucken hatten schon zugenommen, als wir das Abendbrotgeschirr abwuschen. Er wandte sich bei jedem neuen Hustenanfall von mir ab, und dann drehte er sich wieder zur Spüle um, als würde er hoffen, dass es mir nicht aufgefallen war. Als er von seinen abendlichen Arbeiten zurückkam, konnte er kaum mehr Atem holen zwischen seinen Attacken. Er lehnte mein Angebot ab, Dr. Bernette zu holen, und ging früh zu Bett.

Die ganze Nacht hindurch drang sein Husten durch die schwarze Stille zwischen unseren Schlafzimmern. Als die Hustenanfälle so heftig und anhaltend wurden, dass ich es nicht mehr aushielt, klopfte ich an seine Tür und trat ein. Ich sah ihn im schwachen Lichtschein seiner Nachttischlampe sitzen und blutigen Schleim in eine Schale spucken.

»Daddy«, sagte ich leise, unfähig, meinen Schrecken und mein Mitleid zu verbergen.

Er blickte auf und sah mich mit dem Blick eines Tieres an, das weiß, dass sein Ende nahe ist, diese traurige Mischung aus Angst und Resignation, dann schaute er wieder auf seine Schüssel und wartete auf die nächste Runde. Er war so dünn und klein in seinem Nachthemd, dass er jederzeit als Kind hätte durchgehen können. Als ich mich seinem Bett näherte, hob er die Hand, um mir zu bedeuten, dass ich stehen bleiben sollte.

»Daddy, bitte lass mich dir helfen«, flehte ich.

»Nichts zu machen«, antwortete er heiser. »Geh zurück ins Bett.«

Ich lag den Rest der langen Nacht wach und hörte zu, wie er sich abquälte. Jetzt, wo mein Sohn weg war, war mein Vater mein letzter Verwandter auf der Welt. Mit jedem Hustenanfall wurde mein letzter Faden Familie dünner. Wenn ich in meinem Lager in der Big Blue Wilderness an die weit entfernte Farm gedacht hatte, war ich immer davon ausgegangen, dass es dort unten im Grunde unverändert weitergegangen war. Doch da hatte ich mich gründlich getäuscht. Alles war dahingeschwunden, außer den Pfirsichen, und ich war zurückgekommen zu einem noch kaputteren Überbleibsel von dem, was wir einmal gewesen waren. Ich hatte immer geglaubt, dass die Männer in diesem Haus das Ganze zusammenhielten. Es wäre mir nie eingefallen, dass ich mehr als eine Haushälterin und Hilfskraft war, dass ich irgendwie das Herz unserer Familie und unseres Zuhauses geworden war. Während mein Vater immer schwächer wurde, waren der Obstgarten und ich alles, was wir noch hatten.

Eines der letzten Dinge, die mein Vater ein paar Wochen später zu mir sagte, inmitten seines Deliriums aus Fieber und versagenden Lungen, war, dass ich genauso aussah wie meine Mutter, nachdem ich meine Haare lang und zu einem Knoten am Hinterkopf aufgesteckt trug.

»Sie war eine Schönheit«, sagte er mit seltener Wehmut – eine liebevolle Erinnerung an seine verlorene Liebe, in der aber auch der Gedanke enthalten war, dass ich ebenfalls schön war.

Ich hielt seine Hand, als er zwischen Wachen und Schlafen hin- und her driftete, und genoss, wie seine Finger sich zwischen meine schoben. Und ich prägte mir jeden seiner Altersflecken und alle Runzeln und knorrige Knöchel ins Gedächtnis ein.