M ein Vater starb am Samstag, nachdem die letzte Ernte eingebracht und ausgeliefert war. Als ob er es alles sorgfältig geplant hätte, pflückten unsere Helfer die letzten Pfirsiche vom Baum, als die Temperatur unter den Gefrierpunkt fiel, und dann stand mein Vater nicht mehr auf.
Trout lag ernst zusammengerollt zu meinen Füßen, während ich auf der Bettkante meines Vaters saß und traurig auf ihn herabschaute. Als ich ihn ein letztes Mal berührte, konnte ich kaum glauben, wie kalt seine Hand war.
Fast alle Bewohner von Iola kamen zur Beerdigung meines Vaters unter dem blauesten Herbsthimmel. Als sich die Leute anschließend zum Essen und für Respektsbezeigungen auf unserer Farm versammelten, erfuhr ich von Sheriff Lyle, dass mein Vater selbst Seth angezeigt hatte. Da es keine belastbaren Beweise gab, konnte Lyle ihn nicht festnehmen, aber er versicherte sowohl Seth als auch Forrest Davis, dass sie Ärger kriegen würden, wenn sie in Iola blieben. Die beiden fuhren in Seths Chrysler Roadster Richtung Kalifornien und »nahmen ihren Mutwillen mit«, wie Lyle es formulierte.
»Das war sehr viel mehr als Mutwillen«, sagte ich und biss die Zähne zusammen.
Lyle nickte ernst, und sein Blick war suchend und entschuldigend. Ich sah ihm an, dass er mir auch gerne Fragen gestellt hätte, aber er hielt sie höflich zurück.
»Du solltest wissen, dass dich dein Vater danach jeden Tag gesucht hat – er ist nach Gunnison, Sapinero und Cebolla gefahren und auf Abel in die Hügel geritten«, sagte er. Er schob sein Essen auf dem Teller herum, aß aber nichts. »Ich glaube, er dachte, wenn du erst mal weißt, dass Seth weg ist, würdest du auch nach Hause kommen. Hat mich auch gebeten, nach dir Ausschau zu halten.«
Ich dachte über diese Information nach und fragte mich, was mein Vater wohl alles gewusst hatte, fragte mich, ob sein Herumstreifen auf den Hügeln ihm am Ende den Husten eingetragen hatte, der seinen Lungen den Garaus machen würde, ob ich der Grund für das Verderben meines Vaters war, so wie ich der Grund für Wils gewesen war.
»Ich wäre wahrscheinlich auch nach Hause gekommen«, antwortete ich finster. Ich hatte die Alternative dazu, mein Kind als ungewolltes Objekt behandeln zu müssen, nie in Erwägung gezogen, und jetzt stach sie mich im Rachen wie verschluckte Wespen. Es tat mir leid, dass ich die Liebe meines Vaters jemals infrage gestellt hatte. Es war zu spät, ihm zu danken, und viel zu spät, seinen Enkelsohn heimzubringen.
»Er hat mich sogar deinen Onkel umquartieren lassen«, fuhr Lyle fort.
»Umquartieren lassen?«, fragte ich. Ich hatte Schwierigkeiten, diesen Ausdruck mit dem in Einklang zu bringen, was mein Vater mir irgendwann über Og erzählt hatte – dass der »Schmarotzer« die ganze Zeit noch Verwandtschaft gehabt hätte, aber erst Kontakt mit ihnen aufnahm, als keine Frau mehr da war, die nach seiner Pfeife tanzte.
»Wie sich herausgestellt hat, hatte Ogden eine Mutter«, sagte Lyle.
»Jeder hat eine Mutter«, sagte ich grob, denn ich war erschöpft von den Anforderungen des Tages.
»Nicht jeder hat eine Mutter, die fast acht Jahre nach ihm sucht«, gab Lyle zurück. »Dein Vater hat einen Brief entdeckt. Er hat mich angerufen, hat Og abholen, nach Salida fahren und ihn dann in den ersten Zug nach Denver setzen lassen. Dieser Teufel hat mir die ganze Fahrt über Flüche um die Ohren geworfen.«
»Was stand in dem Brief?«, wollte ich wissen.
»Da stand drin, dass sie die Nachrichten nicht glaubt, nach denen ihre beiden Söhne im Krieg gefallen sind. Sie meinte, so etwas würde Gott keiner Mutter antun.«
»Wenn er will, würde Gott das jederzeit tun«, sagte ich und dachte dabei Gott wird, wenn er will, oder er wird nicht .
»Hat er aber nicht«, antwortete er. »Irgendwie hat diese alte Frau das gewusst. Hat ihren Sohn aufgespürt und ihn angefleht, nach Hause zu kommen.«
»Mütterliche Intuition«, sagte ich. Ich beneidete sie, denn ich hatte keine Ahnung, was für ein Schicksal Gott für meinen Sohn vorgesehen hatte, hatte nicht mal einen Hinweis, wo ich ihn finden könnte.
»Mein Büro hat versucht, die Verwandten des toten Jungen zu finden«, fügte Lyle hinzu und suchte in meinen Augen, ob ich irgendetwas wusste oder ob das hier mein Maß langsam überschritt.
Mir sank das Herz in die Hose. »Er hatte einen Namen, Mr. Lyle«, sagte ich.
»Dieser Moon«, korrigierte er sich. »Aber so ein Vagabund ist nicht leicht aufzuspüren. Die letzten Akten, die wir zu ihm hatten, waren von einer indianischen Schule in Albuquerque, aber da stand nicht dabei, aus welchem Reservat er kam. Er war vor ein paar Jahren aus der Schule weggelaufen. Mehr haben wir nicht rausfinden können.«
Damit war mein Maß tatsächlich überschritten. Ich verabschiedete mich von Sheriff Lyle und der ganzen Menschenmenge mit ihren schwarzen Kleidern und Eintöpfen und lästigen Beileidsbekundungen.
Wenig später ging ich allein durch den Obstgarten, der jetzt mein Obstgarten war, zwischen den herabfallenden gelben Blättern und den paar vergammelnden Früchten, die die Zweige einfach nicht loslassen wollten. Wil hatte ein Zuhause gehabt, zu dem er nie den Weg zurückgefunden hatte, wo er das Land kannte und das Land ihn, wo vielleicht seine Familie immer noch auf ihn wartete. Ich hatte von Indianerkindern gehört, die aus ihren Reservaten geholt und in spezielle Schulen geschickt wurden. Obwohl ich in dem Glauben aufgewachsen war, dass nichts so wichtig war wie der Ort, an dem man groß geworden war, hatte ich mir nie überlegt, was diese Kinder zwangsweise zurücklassen mussten. Wil hatte mir nie etwas von seiner Vergangenheit erzählt, vielleicht, weil er sie zu sehr vermisste, oder vielleicht, weil sie einfach nicht mehr wichtig war. Ich hatte ihm keine Fragen gestellt, aber er kam mir so vor, als wäre er ein Kind von irgendwo und nirgendwo zugleich. Dabei hatte er seine eigentümliche Liebenswürdigkeit vielleicht seiner Herkunft zu verdanken, aber dann war sie gereift durchs Weggehen, durch die Widerstandskraft, die es brauchte, um immer wieder weiterzumachen. Ich konnte nur hoffen, dass unser Baby diese Anpassungsfähigkeit geerbt hatte.
Weniger als einen Monat nachdem mein Vater seine entzündeten Lungen mit den letzten Atemzügen gefüllt hatte, wälzte sich der letzte Zug durch Iola, wobei der Lokomotivführer die Pfeife extra laut und lang ertönen ließ. Die Denver & Rio Grande Western hatte schon vor zehn Jahren den Personenverkehr eingestellt und nach knapp siebzig Jahren beschlossen, die Transportwagen für Rinder und Kohle ebenfalls zu stoppen, bis sie ihr ganzes Geschäft im Westen im Herbst des Jahres 1949 aufgaben. Viele sagten, das Unternehmen sei von Anfang an wahnwitzig gewesen, diese aufwendige Arbeit, Schienen durch den Black Canyon bis nach Cimarron zu verlegen, was mehr Menschenleben und Geld gekostet hatte, als die Behörden damals zuzugeben wagten. Doch für mich hatten diese Zugpfeifen den Rhythmus meines Lebens bestimmt. Sie hatten sogar Wil zu mir gebracht. Eine gespenstische Stille legte sich über Iola an jenem ersten Tag ohne Pfeifen. »Wie ein Tod«, klagten manche Bewohner. »Wie eine endlose Nacht«, sagten andere. Damals konnten wir ja noch nicht ahnen, dass das erst die erste Stille war, dass eines Tages die ganze Stadt Iola verschluckt werden würde, jeder Ton, jedes Gebäude ertränkt und tot.
Nach dem Tod meines Vaters führte ich die Farm ein paar Jahre weiter, so gut ich konnte. Die Mitchells waren mir eine Weile eine große Hilfe, und ich stellte Helfer ein, wenn ich welche brauchte. Ich pflanzte den Küchengarten neu an und reparierte die kaputten Zäune. Ich sorgte dafür, dass die Bewässerungskanäle nicht verstopften und die Mottenlarven, Wollschildläuse und Waschbären von den Bäumen wegblieben. Ich schnitt zurück, düngte, mulchte, goss, dünnte aus und erntete. Wenn eine Baumgruppe zu alt war, um noch Früchte zu tragen, heuerte ich Arbeitskräfte an, die mir halfen, sie zu entfernen, zog mühsam neue Schösslinge heran, so wie mein Vater es mir beigebracht hatte, und pflanzte neue Setzlinge auf ein brach liegendes Stück Land, so wie meine Familie es über Generationen gehalten hatte. Für einen Außenstehenden hätte es wohl ganz normal ausgesehen, doch ich wachte jeden Morgen mit der stechenden Wahrheit im Herzen auf, dass meine Liebe zu dieser Farm ein weiteres verwelktes Blatt an meinem kargen Familienbaum war.
Der loyale alte Trout war mitten auf dem Bett meines Vaters gestorben, genau an dem Tag, an dem ich die letzte Kiste mit seinen Habseligkeiten hinausschleppte. Ich hob ein tiefes Loch neben dem Teich aus und streichelte seine wunderbar wollige Brust ein letztes Mal, bevor ich seinen schlaffen Körper in eine Decke wickelte und ihn in die Erde legte. Im nächsten Winter entdeckte ich Abel auf der Seite liegend und nach Luft ringend auf einer vereisten Stelle im Hof vor dem Stall: Sein Schienbein ragte aus einem blutigen Riss in seinem schönen rotbraunen Fell. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu erschießen. Stattdessen streichelte ich ihm den perfekten Hals, so wie ich es nach seiner Geburt gemacht hatte, während die Landtierärztin ihm die Spritze gab, die sein Herz stehen bleiben ließ. Ich zog mich in den Stall zurück und weinte, während ihn die Tierärztin und ihre Gehilfen wegschleiften. Und damit bestand meine Familie nur noch aus ein paar gemeinen Hühnern.
Sosehr ich es auch leugnen wollte, die Sinnlosigkeit, in der ich meine Tage verbrachte und mich um die Farm kümmerte, wurde täglich größer. Ich verbrachte viele Nachmittage bei Ruby-Alice, einfach nur um irgendwo anders zu sein, ihr im Garten zu helfen oder in den Hühnerställen oder in der Küche, denn dort zu sein, wo Wil einmal gewohnt hatte, tröstete mich, genauso wie die seltsame, schweigende Gegenwart der alten Frau und die schlafenden kleinen Hunde.
Wenn ich zu Hause war, verfolgten mich meine Erinnerungen. Das Gewicht eines Kissens oder einer Tüte Reis fühlte sich plötzlich an wie mein Baby Blue, und dann konnte ich nicht anders, ich musste es einfach auf den Arm nehmen wie ein Baby, obwohl ich wusste, dass das völlig verrückt war. Mehrfach wachte ich in der Nacht auf, weil ich so sicher war, gehört zu haben, wie er in der Ferne nach mir weinte, dass ich die Treppe hinunterrannte und erst wieder zu Sinnen kam, wenn ich nach meinen Stiefeln griff. An manchen Abenden saß ich allein mit meinem Abendessen am langen Küchentisch und sah Seths Chrysler am Fenster vorbeifahren, so deutlich wie meinen Teller, und ich hörte das tiefe Grollen seines dämonischen Motors, der unsere lange Auffahrt hinunterfuhr.
In einer Frühlingsnacht, als das weiße Mondlicht auf die Gipfel der fernen Hügel fiel und schwarze Schatten auf die Veranda vorm Haus warf, war ich sicher, Seth gesehen zu haben, wie er mich durchs Wohnzimmerfenster anschaute. Ich sprang von Mutters Stuhl hoch und – ich schäme mich wirklich, es zuzugeben – versteckte mich. Ich kauerte mich in der Besenkammer zusammen, als könnte mich eine Besenkammer retten, und schlotterte wie ein jämmerliches Karnickel. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich heute meine Bettwäsche gewaschen hatte und die Quilts zum Trocknen auf der Veranda aufgehängt hatte statt auf die Wäscheleine im schlammigen Hinterhof. Was ich für das drohende Gesicht meines Bruders gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur ein Patchwork-Flicken. Ich zog mich hoch und versuchte, ein bisschen von meiner Würde zurückzugewinnen, indem ich gleich auf die Veranda hinausging, um die Bettwäsche abzunehmen und zusammenzulegen.
Doch wie viele Jahre auch vergingen, ich sah sie: Wil am Rand unserer Pfirsichplantage, wie er auf mich wartete, mir die Hand entgegenstreckte, meinen Vater zwischen den knorrigen Bäumen, wie er mit einer fachmännischen Drehbewegung einen Pfirsich vom Zweig löste, Mutter, wie sie sich um den Küchengarten kümmerte und frisches Gemüse fürs Abendessen holte, Cal, wie er mich aus unserem Baumhaus rief, als wäre es nicht längst verfallen, Tante Viv und Onkel Ogden, wie sie sich immer noch höchst lebendig Küsse auf der Veranda stahlen. Früher einmal hatte es auch an diesem Ort vielversprechende Zukunftsaussichten und Liebe gegeben. Doch dann waren diese Hoffnungen eine nach der anderen erloschen. Ich stellte mir vor, wie mein Sohn das Ganze belebt hätte, wenn ich den Mut gehabt hätte, ihn mit nach Hause zu nehmen. Ich malte es mir aus, bis es brannte – wie er über den Küchenboden krabbelte, wie er mich seine Mama nannte und dann irgendwann zu einem großen, schlanken Jungen heranwuchs, der mit dem anmutigen Gang seines Vaters durch den Obstgarten lief. Stattdessen blieb auf unserem Land nur eines, was gut war – die Pfirsiche.
Als der Angestellte der Regierung eines heißen Julinachmittags im Jahr 1954 an meine Haustür klopfte und mich bat, ihm kurz Gehör zu schenken, goss ich uns zwei große Gläser Eistee ein und setzte mich dann mit ihm auf die Veranda, um mir anzuhören, was er zu sagen hatte. Mir waren bereits Gerüchte zu Ohren gekommen von dem Vorhaben, flussabwärts einen Damm zu bauen, und von den möglichen Aufkaufsangeboten für die Grundstücke im Tal. Ganz Iola war erbost über die Vorstellung, seine gesamte Habe für einen neuen Stausee dranzugeben. Der Widerstand war nicht nur absehbar, sondern auch bemerkenswert groß, nicht nur gegen die Flutung unserer Stadt, sondern auch dagegen, den wilden, wunderbaren Gunnison River zu ersticken. Die Pläne waren im besten Fall töricht, im schlimmsten Fall tragisch, wie sich auch schon bei zahllosen anderen Projekten im Westen im Namen des Fortschritts herausgestellt hatte. Ich wusste, dass das alles furchtbar falsch war, doch als ich dasaß und zuhörte, wie der Gesandte der Regierung mir sein Angebot unterbreitete, wurde mir klar, dass mir insgeheim – beschämenderweise – dieser Plan sogar ganz recht war. Ich sehnte mich nach Auslöschung. Ich sagte also zu dem Mann, ich würde über sein Angebot nachdenken, und schickte ihn fort.
Ich war die Erste in Iola, die ihr Land verkaufte. In jenem September zahlte mir die Regierung ein ganz hübsches Sümmchen für mein Grundstück, obwohl sich herausstellte, dass der Preis nicht annähernd den Ärger aufwog, den ich von meinen Mitbürgern zu spüren kam, als sich die Nachricht von meinem Verrat herumsprach. Wenn ich sagen würde, ich wurde gehasst, wäre das noch untertrieben. Bewohner, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte, hörten auf, mir Pfirsiche abzukaufen, und schauten weg, wenn sie mir auf der Main Street begegneten. Sogar die Mitchells kappten jegliche Verbindung zu mir, entweder aus echtem Ärger oder vielleicht auch aus Angst, dass man sie wegen ihrer Nähe zu mir auch ächten könnte. Gegen den Wunsch ihres Vaters und sichtlich eher aus Pflichtgefühl als aus ihrem Wunsch heraus blieb Cora beim Stand bis zum Ende dieser Pfirsichsaison, doch ihr einst so fröhliches Verhalten war abgekühlt zu kalter Höflichkeit gegenüber jedem Menschen, der nicht aus unserer Stadt stammte, und ganz besonders mir gegenüber.
Als Cora sich in ihren Wagen hievte, nachdem wir unsere letzte Tüte Pfirsiche verkauft hatten und ich den Stand für immer zunagelte, starrte sie mich durch das offene Fenster an, als hätte ich mich so stark verändert, dass sie mich nicht wiedererkannte.
»Du weißt, dass dein Vater sich im Grabe umdreht, Torie«, sagte sie. »Eine volle Umdrehung für jeden Dollar, den du von diesen Regierungsleuten angenommen hast.«
Ich bedankte mich bei ihr für die vielen Jahre, in denen sie uns treue Dienste geleistet hatte, und dann erinnerte ich sie daran, dass ich nicht mehr auf den Namen Torie hörte.
Die Nachmittagssonne fiel durch den Staub, den ihre Wagenräder aufwirbelten, und verwandelte die gewöhnliche Straße in etwas seltsam Schönes, als sie davonfuhr.
Ich hatte Cora Mitchell geliebt, so wie ich hundert andere Einzelheiten meines Lebens in Iola geliebt hatte. Doch Tragödie und Trauer hatten alles, aber auch wirklich alles angenagt, was an diesem Ort wahrhaftig war. Ich nagelte das letzte Brett über den leeren Stand und flüsterte dabei eine Entschuldigung an meinen Großvater. Meinem Vater schenkte ich keine Geste des Bedauerns, doch im Gegensatz zu Coras Bemerkung war ich zuversichtlich, dass er still und ruhig in seinem Grab lag. Egal, was Cora oder irgendjemand anders sagte, ich wusste mit Sicherheit, dass mein Vater meine Chance begrüßt hätte, diese Stadt und all ihre Erinnerungen hinter mir zu lassen. Zumindest, solange ich dem Obstgarten Gerechtigkeit angedeihen ließ, was ich ja auch vorhatte.
Der Versuch meines Großvaters, Hollis Henry Nash, Pfirsiche aus Georgia an das trockene Hochland im Westen anzupassen, war völlig verrückt gewesen, aber das hatte ihn nicht abgehalten, es trotzdem zu versuchen. Und nach viel Versuch und Irrtum gelang es ihm irgendwann am absurdesten Ort, in der kalten, dünnen Luft von Iola, Colorado. So jedenfalls hatte man mir durch meine ganze Kindheit die Geschichte erzählt, und daher war es die einzige Erklärung, die ich kannte. Viele Male hatte ich beobachtet, wie mein Vater unsere Obstplantage gegen Schwarzmaler verteidigte, die ihre Existenz noch anzweifelten, während sie das runde Gewicht eines unserer Pfirsiche in der Hand hielten. Sowohl die Fruchtbarkeit als auch die Qualität unseres Obstgartens war anscheinend von Anfang an ein biologisches Wunder gewesen. Doch berühmte Pfirsiche hin oder her, unsere Mutter hatte uns beigebracht, dass Stolz eine Sünde war und dass unsere Farm ein guter Ort für ein Zuhause war und keine Quelle für Angeberei. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem ich entschied, was überleben und was ertrinken sollte. So vieles, was sich aus meinem Leben verabschiedet hatte, war unrettbar verloren. Ich hatte meinen Großvater Hollis nie kennengelernt, doch wegen ihm und wegen meinem Vater war ich entschlossen, den Obstgarten zu retten.
Leider wollte mir nicht einfallen, wie ich das anstellen könnte, und ich war vollkommen allein, nachdem die Stadt sich von mir abgewandt hatte. Ruby-Alice hörte sich meinen Ärger zwar getreulich an, aber sie schien mir auch nicht helfen zu können, aber auf eine gewisse Art fand ich durch sie einen Führer.
Jedes Jahr, seit ich mich mit Ruby-Alice angefreundet hatte – genauer gesagt, seit sie so freundlich gewesen war, sich mit mir anzufreunden –, war sie weiter verwelkt. Die alte Frau aus meinen Kindheitserinnerungen war jung im Vergleich zu dem, was sie heute geworden war. Ihr ausrangiertes Fahrrad hatte zu diesem Zeitpunkt über mehrere Jahre im Garten seinen Glanz verloren und diente nur noch als Sitzgelegenheit für ihre Hühner und Hunde. Ihre Einkäufe und das Tierfutter ließ sie sich von Chapman’s liefern, und ansonsten hatte sie keinen Kontakt zu irgendjemand außer mir. Ihre Wirbelsäule war so gekrümmt wie die alte Pappel, an der Wil und ich uns früher immer getroffen hatten. Ihre eisblauen Augen schauten die meiste Zeit auf den Boden, ein Auge immer noch wild und durchdringend, das andere war seimig und eingefallen. Ihre dünnen Glieder zitterten. Ich war sicher, dass sie meine Besuche zu schätzen wusste, obwohl ich dafür wenig mehr Anhaltspunkte hatte als ab und zu ein Tätscheln meiner Hand oder vielleicht ein mühsam für zwei Personen zubereitetes Essen.
Bei einem solchen Abendessen, ein paar Wochen nachdem ich den Stand geschlossen hatte, stieß Ruby-Alice einen schwachen, hohen Schrei aus wie ein rostiges Rad, dann sackte sie über ihrem Teller zusammen. Ich sprang auf und hob sie hoch, leicht und schlaff wie ein Beutel mit Federn, und trug sie zum Sofa. Ich rannte los, um einen Arzt anzurufen, aber sie hatte natürlich kein Telefon. Trotz meines dringenden Wunsches, über den Pfad zu meiner Farm zu rennen, um Hilfe zu rufen, konnte ich das Essen einfach nicht in ihrem runzligen Gesicht hängen lassen. Wenn sie sterben sollte, während ich weg war, würde sie nicht schmutzig sterben. Ich befeuchtete ein Küchentuch und wischte ihr zart über die dünne Haut, um ihr ein klein wenig Würde zurückzugeben, genau so, wie sie es einmal für mich getan hatte. Dann rannte ich nach Hause und wiederholte atemlos das Mantra meiner Kindheit: Gotthilf RubyAliceAkersAmen.
In den zehn Minuten, die ich brauchte, um zu meinem Telefon zu gelangen, Dr. Bernette anzurufen und dann mit dem Wagen meines Vaters zurück zu der alten Frau zu fahren, rührte sie sich nicht. Ich drückte ihr winziges Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen, zart und unregelmäßig wie erste Regentropfen. Ihre Atemzüge hoben und senkten ihren knochigen Brustkorb nur minimal. Ich kann mich noch an diese langen, stillen Minuten erinnern – bevor Dr. Bernette eintraf, dann das Chaos mit dem Krankenwagen und dem roten blendenden Licht und hin und her rennenden Männern und schrill bellenden, panischen huschenden Hühnern und Hunden –, wie in eine Art zeitlose Blase gehüllt. Im Gegensatz zu allen anderen Sterbefällen, die ich erlebt hatte, lag in diesem Dahinscheiden die ewige Logik, dass ein so langes Leben sich einfach irgendwann in alles andere auflösen musste. »Asche zu Asche, Staub zu Staub«, hätte Mutter gesagt und wäre überzeugt gewesen, dass in der Sterblichkeit göttliche Weisheit lag. Ich hielt Ruby-Alice’ unglaublich schmale und seidige Hand und nahm Abschied von ihr.
Doch wie in einem letzten Akt der Rebellion gegen die Erwartungen starb Ruby-Alice dann doch nicht. Ich wusste es nicht, als ich die Nacht in ihrem Haus verbrachte, um die Tiere zu beruhigen und zu versorgen, nachdem der Krankenwagen sie mitgenommen hatte und ich mich sentimental noch ein letztes Mal auf ihr Sofa legte, mich in ihre rosa Quilts wickelte und über ihr eigentümliches Leben nachdachte. Als ich bei Sonnenaufgang bei meiner Farm ankam, klingelte das Telefon. Dr. Bernette sagte, er habe schon seit Stunden versucht, mich zu erreichen. Er erzählte, dass Ruby-Alice sich mitten in der Nacht kerzengerade aufgesetzt und sich seitdem nicht wieder hingelegt habe, und das Krankenhaus hatte ihn gefragt, ob sie Verwandte hätte, die für sie sprechen könnten, denn sie sei stumm wie ein Fisch.
Ich fuhr mit dem Auto meines Vaters nach Gunnison und erklärte der Empfangsdame, dass Ruby-Alice meine Großmutter sei. Ich füllte Formulare aus. Ich kämmte ihr die Haare. Ich schob ihr grünen Wackelpudding zwischen die zitternden Lippen. Ich schlief neben ihrem Bett auf einem unbequemen Stuhl. Sie rollte sich zu mir, wenn eine Krankenschwester mit einer Nadel kam, und manchmal bewegte sie völlig grundlos ihr Gesicht auf meines zu, mit einer Art von Ruhe in ihrem wilden Auge und, ich glaube, Dankbarkeit in dem dünnen Schlitz des anderen. Das war mir mehr als genug Dank.
Wenn Ruby-Alice schlief, entfloh ich der sterilen Weiße des Krankenhauses und spazierte über die breiten Straßen von Gunnison. Die Cafés und Bars und bunten Autos auf der Main Street kamen mir zu Anfang lebendig und interessant vor, aber es dauerte nicht lange, bis mir die Geschäftigkeit zu viel wurde. Am zweiten Tag schlug ich einen Bogen ums Stadtzentrum und spazierte stattdessen über den College-Campus. Ich hatte noch nie so einen gepflegten Rasen gesehen, der sogar im Oktober noch grün war und auf dem eine Menge von Angestellten die gelben Blätter fast genauso schnell zusammenrechten, wie sie von den Pappeln fielen. Auf den geschwungenen Zementwegen, die die großen roten Backsteinbauten verbanden, drängten sich die Schüler – glatt rasierte Jungs in schicken Pullovern und Hosen mit Gürtel und Mädchen in engen Wollröcken und gebügelten weißen Blusen. Ich hätte mir vorher nie gedacht, dass Frauen auch aufs College gingen. In Iola gab es nur selten Mädchen, die die Fahrt nach Gunnison zur Highschool machten. Ich hatte ganz bestimmt keinen Sinn darin gesehen. Die Mädchen, an denen ich auf dem Campus vorüberging, schauten mich so neugierig an, als wäre ich ein Zootier. Kleine Grüppchen stolzierten auf ihren High Heels oder mit ihren schwarz-weißen Oxford-Sattelschuhen vorbei, wobei sie eine hohle Melodie auf dem Gehweg trommelten. Ich war nur knappe fünfzig Kilometer von zu Hause entfernt, aber kam mir vor wie in einem fremden Land. Ich hatte noch nicht entschieden, wo ich hinziehen würde, wenn der Kauf der Regierung durchgegangen war und ich Iola schließlich verlassen würde, aber ich beschloss in diesem Moment, dass meine Wahl ganz bestimmt nicht auf Gunnison fallen würde.
Vor einem weißen Stuckgebäude zog ein gepflegter Garten mit Dutzenden von ungewöhnlichen Pflanzen meinen Blick auf sich. Ich wanderte durch seine Mitte, wobei ich vor allem die seltsamen, aber wundervollen Bäume bewunderte. Jeder von ihnen hatte einen unaussprechlichen Namen, der auf einem rechteckigen Metallschild eingraviert war, das davor im Boden steckte. Der Gartenpfad endete an einer Glastür, dem Eingang zur naturwissenschaftlichen Fakultät des Colleges, wie mir klar wurde. Ich schaute durch die Glasscheiben und sah einen langen Flur mit nummerierten Türen, die alle geschlossen waren bis auf eine, auf der »BÜRO « stand.
Ich holte tief Luft und trat ein.
Die blonde Frau, die hinter dem Tresen saß, hielt in der einen Hand eine Kaffeetasse und füllte mit der anderen ein Formular aus. Bevor sie auch nur aufschaute, um mich mit einem höflichen, fragenden Blick zu bedenken, erinnerte sie mich an die Frau, die Tante Viv hätte werden können, wenn sie dieses Alter erreicht hätte. Diese Frau hatte Stil und Selbstsicherheit und erweckte den Anschein, als könnte sie mehrere Aufgaben gleichzeitig, und das gleich kompetent, erfüllen. Auf einem schwarz-weißen Namensschild in einem rechteckigen Silberrahmen stand: »Louise Landon, Sekretärin«.
»Wie kann ich Ihnen helfen, meine Liebe?«, fragte sie, und obwohl man ihrem Ton anhörte, dass sie in Eile war, klang sie doch so, als wollte sie einem helfen.
»Ich bin Victoria Nash.« Ich streckte ihr meine Hand hin, und sie legte ihren Stift aus der Hand, um sie zu schütteln. »Ich geh hier nicht zur Schule. Aber ich brauche einen guten Rat.« Ich sprach von den berühmten Pfirsichen meiner Familie und den Plänen der Regierung, Iola unter Wasser zu setzen. Sie meinte, sie habe von beidem schon gehört. Sie hörte mir aufmerksam mit gerunzelter Stirn zu und ließ darüber ihren Kaffee kalt werden.
Als ich ihr mein Dilemma fertig erklärt hatte, griff sie nach dem Hörer ihres schwarzen Telefons. Während sie die Nummer mit schnellen, effizienten Bewegungen drehte, schaute sie zu mir und erklärte: »Was Sie brauchen, Miss Nash, ist ein Mann, der nur für die Botanik lebt.«
Miss Landon begleitete mich zu Dr. Seymour Greeleys Büro im Obergeschoss, nachdem sie ihm kurz meine Situation am Telefon geschildert hatte. Unterwegs zeigte sie mir sein Labor durch ein Fenster im Korridor – ein Dschungel aus Weinreben und Blättern und Wurzeln in einem einzigen Chaos aus Töpfen, Schläuchen, Eimern und Aquarien. Miss Landon kicherte und meinte, ich solle mir keine Sorgen machen.
»Glauben Sie mir«, sagte sie. »Das ist genau der Mann, den Sie suchen.«
Seymour Greeley erwartete uns an seiner Bürotür. Ich war noch nie einem Professor begegnet, doch seine runde, schwarze Brille und seine schlanke Figur unter einem übergroßen Tweedjackett passten durchaus ins Bild. Er war jünger, als ich gedacht hatte, und seine Art war sowohl nervöser als auch liebenswürdiger. Sein rötliches Haar war so zerwühlt, als würde er zu viel daran herumspielen. Sein Lächeln war ein bisschen verlegen, aber aufrichtig. Ich mochte ihn auf Anhieb.
»Nash-Pfirsiche«, sagte er, als er eifrig die Hand ausstreckte.
»Victoria«, erwiderte ich und gab ihm meine. Er ergriff sie und schüttelte sie mit großem Enthusiasmus, als würde er jemand richtig Wichtigen treffen.
»Seymour Greeley«, sagte er. »Die Studenten nennen mich Greeney, weil ich mich mit Pflanzen beschäftige, wissen Sie? Aber kommen Sie doch rein.« Er legte mir die Hand auf den Rücken, um mich zu dirigieren. Miss Landon ließ ein befriedigtes Grinsen aufblitzen und ging davon.
Sein Büro war ein einziges Durcheinander aus Büchern und Zetteln und Pflanzen. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und bedeutete mir, dass ich mich auf den anderen Stuhl setzen sollte. Ich schob einen Papierstapel beiseite und setzte mich hin. Er stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte, beugte sich vor und hörte mir zu, als ich ihm erzählte, was für ein Schicksal meinem Obstgarten bevorstand. Als ich meine Rede mit einer flehentlichen Bitte abgeschlossen hatte, dass er mir helfen solle, fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und runzelte die Stirn.
»Ich schätze, Sie meinen damit nicht, dass ich mir Ableger ziehen und von vorne anfangen soll, oder?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte ich, und ich hatte nicht mal selbst gewusst, was ich vorhatte, bevor ich es laut aussprach. »Ich will sie retten. Jeden einzelnen Baum verpflanzen.«
»Verstehe«, sagte er nachdenklich. »Auch die ganz alten? Ich befürchte, es ist die Mühe kaum wert, die alten Bäume auch zu retten.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Die Bäume meiner Familie hatten länger als die meisten anderen Bäume Qualitätspfirsiche getragen, zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre lang, bevor sie anfingen einzugehen. Großvater Hollis und mein Vater hatten beide ein sorgfältiges Rotationsschema befolgt, bei dem immer ein bestimmter Bereich unserer Plantage mit Zwischenfrucht auf eine neu gezogene Ladung Setzlinge wartete, wenn ein älterer Bestand gefällt und gemulcht werden musste. Ich kannte mich mit diesem Schema gut aus, hatte mir aber nicht eingestehen wollen, dass ich nicht alle Bäume würde retten können. Unsere Farm hatte bloß einen Bestand, der demnächst zu alt werden würde, vier lange Reihen knorriger, alter Bäume, die ich liebte und die im Jahr meiner Geburt gepflanzt worden waren. Es würde mir das Herz brechen, sie zurückzulassen.
»Okay«, erwiderte ich traurig. »Das seh ich ein. Aber das ist doch nur eine Stelle. Wir haben noch ein Dutzend andere Bestände, die überleben müssen.«
Greeneys Falten vertieften sich. Nachdenklich starrte er auf sein Bücherregal.
»Ich kann Ihnen nichts versprechen«, sagte er schließlich, und dann erklärte er die komplexen Abläufe einer Umpflanzung. Ein paar der Ausdrücke, die er benutzte, waren mir bekannt, weil ich schon mein ganzes Leben zwischen Bäumen verbracht hatte, aber andere, wie pH-Wert und primäre Leitelemente und sekundäres Dickenwachstum klangen nach abgehobener Wissenschaft für einen Obstgarten, der schon lange wusste, wie man wächst.
»Unsere Wurzeln sind kräftig«, sagte ich.
»Oh, das glaub ich Ihnen«, antwortete er. »Ihre Bäume sind legendär. Aber sie sind kräftig in ihrem eigenen Mutterboden. Wenn man sie verpflanzt … na ja, ich will nur, dass Sie mich verstehen. Wir könnten auch alle Bäume verlieren.«
»Ich muss es versuchen«, sagte ich, und ich meinte es auch so. Ich sprach ganz ruhig, doch sein Zögern und seine Warnungen weckten auf einmal Panik in mir. Als ich in diesem unaufgeräumten Büro eines Fremden saß, war ich plötzlich sicher, dass ich ohne die Obstplantage einfach nicht in der Lage sein würde weiterzumachen. Ich konnte Wil oder meine Familienmitglieder oder unsere Farm nicht mehr retten. Ich konnte nie wieder mein Baby im Arm halten. Doch ich konnte unsere Bäume retten.
»Bitte, Sir«, flehte ich ihn an.
Er nickte, dann entspannte sich seine Stirn wieder etwas.
»Dann werde ich’s auch versuchen«, sagte er freundlich und strich seine wilde Mähne glatt. »Es wird mir eine Herausforderung und eine Ehre sein, Miss Nash.«
»Victoria«, sagte ich noch einmal lächelnd.
Ruby-Alice wurde am nächsten Morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Ihr Arzt, der eher wie ein Cowboy aussah, bis hin zu seiner Gürtelschnalle und den Stiefeln, erklärte mir, dass ihr Herz ein launenhaftes altes Uhrwerk war. Ich deutete das so, dass es ticken würde, bis es nicht mehr konnte, und dann wäre es aus.
Als ich Ruby-Alice auf den Beifahrersitz half, kam ein junges Paar aus den Glastüren des Krankenhauses. Der Mann hatte seinen Arm um die Schultern der Frau gelegt, und sie trug einen Säugling zu lose auf ihren Armen. Auf dem winzigen Kopf, der aus einer blauen Flanelldecke herausschaute, wuchs ein pechschwarzer Haarwirbel, genauso wie bei Baby Blue. Ich musste schwer schlucken und starrte sie an, wobei ich den Drang unterdrücken musste, ihr das Baby aus der Hand zu reißen und wegzurennen. Als die Frau mich mit den großen, besorgten Augen einer frischgebackenen Mutter anstarrte, hätte ich ihr am liebsten zugerufen, dass sie ihr Baby gut festhalten sollte.
Die ganze Fahrt über den Highway 50, der sich am Ufer des Gunnison River zurück nach Iola schlängelte, dachte ich nicht an Pfirsichbäume und die Risiken ihrer Verpflanzung. Ich bekam die Augen dieser Frau einfach nicht aus dem Kopf. Ich dachte an ihr Baby, was für ein Leben es haben würde, ob seine Mutter ihrer Aufgabe gewachsen sein würde und was für eine Art von Mutter ich gewesen wäre, wenn ich uns – meinem Sohn und mir – eine Chance gegeben hätte.
An Ruby-Alice’ Tor begrüßten mich hungrige Tiere. Ich ließ die alte Frau schlafend im Auto sitzen, während ich ihre Menagerie fütterte: erst die fünf kleinen Hunde, dann die Perlhühner und die Legehennen. Ich hob einen der Hunde hoch, nachdem er fertig gefressen hatte, drückte seinen weichen Körper gegen meine Brust und nahm seinen schwarzen Kopf in meine Hand. Wenig später hob ich alle Welpen in den Wagen. Ruby-Alice wachte auf, als die Hunde um ihre Füße herumwuselten und ihr auf den Schoß sprangen, und sie streckte ihre zitternde Hand aus, um jeden einzelnen zu berühren. Ich scheuchte die Hühner in Käfige, die ich hochhob, und wuchtete den Sack mit dem Hühnerfutter auf die Ladefläche. Ich hatte beschlossen, die alte Dame und ihre ganze tierische Brut mit zu mir zu nehmen.
In der Küche fand ich eine Einkaufstasche aus Leinen und ging damit in Ruby-Alice’ Schlafzimmer, um ein paar Sachen zusammenzupacken. Das Zimmer war karg und ordentlich und genauso rosa wie das restliche Haus. Ich zog zwei grüne Pullover und eine Zipfelmütze von einem Haken an der Wand und stopfte sie in die Tasche. Ich fühlte mich wie ein unbefugter Eindringling, als ich ihre Kommodenschublade aufzog und schaute, was davon sie gebrauchen konnte, Nachthemden vielleicht oder Unterwäsche. Was ich fand, war jedoch eine seltsame Sammlung von Gegenständen, die alle nebeneinander arrangiert waren, wie in einer Museumsvitrine: ein Handspiegel aus Elfenbein, ein Stickrahmen, eine silberne Taschenuhr, eine Mahagonipfeife, eine Angelrolle, ein zusammengefaltetes Herrentaschentuch mit einem aufgestickten kleinen braunen Vogel, eine kleine Puppe in einem Musselinkleid mit bemaltem Porzellangesicht, zwei goldene Eheringe, die mit einem Faden zusammengebunden waren. Jeder Gegenstand war alt und abgenutzt, aber poliert und staubfrei, alle aus einer Ära, die mir den Eindruck vermittelte, dass das hier ganz besondere Erinnerungsstücke und Habseligkeiten waren. Ich nahm an, dass sie früher den Familienmitgliedern von Ruby-Alice gehört hatten, die sie alle gleichzeitig bei der Grippewelle verloren hatte. Ich konnte die Geschichte der Gegenstände nicht deuten – ob die Eheringe von ihren Eltern stammten oder von ihr selbst, ob die Puppe einer Schwester oder einer Cousine oder einer Tochter gehört hatte –, außer dass diese Geschichte von Liebe und einer Traurigkeit handelte, die Ruby-Alice einfach irgendwann nicht mehr ertragen hatte.
Ich machte die Schublade wieder zu und hatte Schuldgefühle wegen meiner Übertretung. Ich zog zwei rosa Quilts vom Bett und steckte noch ein paar Figuren aus den Wohnzimmerregalen in die Tasche, bevor ich wieder zum Wagen zurückging. Die alte Frau war mit einem der Hunde auf dem Schoß wieder eingeschlafen. Keiner von beiden rührte sich, als ich das Auto anließ und uns nach Hause fuhr.
Sobald ich sie erst mal in Ogs Zimmer untergebracht hatte, mit ihren Dingen um sich herum und den Hunden allen zusammengerollt auf ihrem Bett, schien sich die alte Frau mit dem Umzug abzufinden. Sie schlief die meiste Zeit friedlich und nahm Nahrung auf, wenn ich ihr etwas vor den Mund hielt. Es fühlte sich gut an, Hühner auf dem Hof zu haben und wieder jemand im Haus, für den ich sorgen konnte.
Greeney und ein paar Studenten kamen zwei Wochen später, luden alle möglichen wissenschaftlichen Apparaturen aus und machten sich unverzüglich an die Arbeit. Erst mal sammelten sie wochenlang Daten. Ich ging ihnen aus dem Weg, außer wenn ich Fragen beantworten musste oder ihnen frisch eingemachte Pfirsiche anbot, beziehungsweise Kannen mit heißem Kaffee und einen Schuhkarton voller Becher hinausbrachte, als die Tage kühler wurden. Als im Dezember der Schnee kam, hatte Greeney einen Plan. Wir würden uns ein Grundstück jenseits der West Elk Mountains suchen, im üppigen, tief gelegenen North Fork Valley, den Winter über den neuen Boden vorbereiten, damit er dem reichhaltigen Lehm unserer Farm möglichst ähnlich war, und zu Beginn des Frühlings tief in dem Obstgarten meiner Familie graben und die Bäume einen nach dem anderen hinüberschaffen. Es war auch nicht unmöglicher als der ursprüngliche Traum meines Großvaters, wie Greeney mir gerne in Erinnerung rief, und er hatte Fördergelder von der Universität bekommen, mit denen wir die Rechnung bezahlen konnten.
»Wunderpfirsiche von Anfang an«, sagte er, wenn er mir Mut machen wollte. Dann runzelte er die Stirn, wie ein Wissenschaftler, der überhaupt nicht an Wunder glaubt.
Ich bereitete mich auf meinen letzten Winter in Iola vor. Leise fielen Unmengen von Schnee wie gesiebtes Mehl über die Farm, die alle Geschöpfe zum Schweigen brachten und zur Ruhe aufforderten. Mir war diese Stille willkommen, und ich fand mich leicht in diese sanften Tage hinein. Veränderung stand vor der Tür. Als ich einen Makler anrief, um ein blindes Angebot auf ein Grundstück abzugeben, das Greeney in der Nähe der kleinen Stadt Paonia für mich ausgesucht hatte, wusste ich, dass ich meine Kraft jetzt fürs Frühjahr sammeln musste.
Meine nächste Aufgabe bestand in der Auswahl der Stücke, die ich aus meinem alten Leben mitnehmen wollte. Ich holte mehrere Erntekörbe aus dem Schuppen und stellte sie in die Ecke des Wohnzimmers, neben einen Stapel sauberer weißer Spültücher. Jeden Abend, nachdem ich Ruby-Alice gefüttert hatte und die Hunde für die Nacht ins Haus geholt hatte, setzte ich mich auf das goldfarbene Sofa, umgeben von den Sachen meiner Familie, und versuchte, für den Umzug zu packen.
Ich erinnerte mich oft an den Regierungsbeauftragten, der bei seinem zweiten Besuch auf demselben Sofa gesessen hatte. Er hatte seine dünnen Beine überkreuzt, seine glatten Hände zierlich über einem Knie gefaltet und mir in beiläufigem Ton mitgeteilt, dass alles, was ich hier zurückließ, entweder versteigert, verbrannt oder vom Wasser bedeckt werden würde. Ich hatte den Blick von seinen eifrigen blauen Augen abgewandt und nahm das Wohnzimmer in Augenschein. Meine Mutter steckte in jedem präzisen Stich ihrer Musselinkissen und gerahmten Stickarbeiten, ihre Sammlung von Porzellankreuzen stand immer noch auf dem hohen weißen Regal, und ihre blassblaue Lieblingsvase stand auf dem weißen Zierdeckchen auf dem Beistelltisch aus Eichenholz. Mein Vater steckte in dem glänzenden Radio aus Kastanienholz, das er gegen Mutters Wunsch ins Haus gebracht hatte, Cal im selbst gemachten Schachbrett, Vivian in ihrem Lieblingsstuhl. Ich schüttelte den Kopf und versicherte dem Mann, dass ich nichts hierlassen würde.
»Bitte unterschreiben Sie hier«, hatte er gesagt, mir noch ein Dokument hingehalten und auf eine leere schwarze Linie gedeutet, die am unteren Rand verlief. Und hatte mit einem skeptischen Lächeln hinzugefügt: »Nur für den Fall der Fälle.«
Ich hatte die Augen verdreht angesichts dieser Absurdität, aber trotzdem unterschrieben.
Doch als die Körbe erst mal warteten, war ich unfähig, die Gegenstände einzupacken. Ich versuchte es. Doch das Sofa ohne Mutters Kissen und der Beistelltisch ohne die hellblaue Vase fühlten sich total verkehrt an, also tat ich sie wieder zurück. Das Radio funktionierte schon seit Jahren nicht mehr. Das Schachbrett stand sowohl für Cal als auch für Seth, und wenn ich den einen Jungen mitnahm, nähme ich auch den anderen mit. Vivians Stuhl war schrecklich unbequem. Dann eben Mutters Tisch , dachte ich mir, doch als ich vorsichtig die Klappe öffnete, stellte ich fest, dass er immer noch ganz der Ihre war, alle Sachen darin waren perfekt angeordnet und unberührbar. Nacht um Nacht stocherte ich mit dem Schürhaken im Holzofen, dann setzte ich mich ans Wohnzimmerfenster und schaute dem fallenden Schnee zu. Ich redete mir ein, dass es einfach nur zu früh zum Packen war. Sicher würde ich im Frühjahr den nötigen Schwung aufbringen.