17

1955

D er Februarmorgen dämmerte kalt und klar. Nach dem Frühstück half ich Ruby-Alice aus dem Bett und auf die Toilette, dann führte ich sie an einem ihrer skelettartigen Arme zu einem Stuhl am Fenster. Was für einen Gesichtsausdruck sie früher gehabt haben mochte, war nicht mehr zu erkennen, aber ich glaube, es gefiel ihr, den glitzernden Schnee und den tiefblauen Himmel anzuschauen. Sie streckte eine zitternde Hand nach mir aus, fuhr mir mit ihren seidigen Fingerspitzen übers Handgelenk und gab mir auf diese Weise zu verstehen, dass unsere seltsame kleine Freundschaft alles war, was zwischen uns und der Einsamkeit stand.

Später fütterte ich Ruby-Alice mit Haferbrei mit Honig, um sie anschließend für ein Nickerchen wieder in ihre Quilts zu packen. Ich zog meine Schneestiefel und meinen blauen Wollmantel an, weil ich kurz in die Stadt gehen wollte. Ich hatte nur zwei Ziele – ein paar Einkäufe bei Chapman’s machen, einen neuen Axtgriff bei Jernigan’s kaufen und dann wieder nach Hause. Freundliche Schwätzchen würden mich sicher nicht aufhalten. In den letzten Monaten hatte ich nicht mal ein tolerantes Nicken bekommen. Die Leute waren sauer auf mich, weil ich verkauft hatte, doch seit sich das Gerücht verbreitet hatte, dass ich auch Ruby-Alice zum Verkauf gezwungen und den ganzen Gewinn selbst eingestrichen hatte, wurde ich nur noch geschnitten. In Wirklichkeit hatte ich mit Ruby-Alice nie ein Wort über den Damm oder die Angebote der Regierung gesprochen, denn ich fand, dass am Tag ihres Todes ihr Seelenfrieden Reichtum genug war.

Als ich die lange Auffahrt hinuntertrottete, fühlte sich die Winterluft, die sonst scharf war wie eine Ohrfeige, durch die Sonne weicher an, und sie glitt geschmeidig in meine Lungen. Der Schnee leuchtete so hell wie ein Wunder. Stare zwitscherten und schossen zwischen den Pappeln hin und her, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Frühjahr unmittelbar bevorstand. Als ich an Ruby-Alice’ Grundstück vorbeiging, fiel mir wieder die Tröstlichkeit dieses kleinen Hauses zwischen den Kiefern ein, wo ich zum ersten Mal Wils Umarmung gespürt hatte und wo Ruby-Alice mich gepflegt hatte, nachdem ich aus der Big Blue Wilderness zurückgekehrt war. Eine Prise von Wehmut schlich sich ein, wegen allem, was ich hier zurücklassen würde, wegen der nichts ahnenden Landschaft, die weitermachte wie immer, aber zum Tod durch Ertrinken verurteilt war. Doch als ich mich der Stadt näherte, dachte ich daran, dass an diesem Ort auch die grausame Ignoranz wohnte, dass hier manche Leute glaubten, dass eine einsame alte Frau ein Teufel war und ein schöner braunhäutiger Junge ein Gesetzloser und ein Lump. Dieselbe auf einem Missverständnis beruhende Wut richtete sich jetzt gegen mich, und so viel Nostalgie konnte ich gar nicht empfinden, dass ich hier hätte bleiben wollen. Ich ging die Main Street hinunter und die Treppe bei Chapman’s hoch und träumte von dem Tag, an dem ich hier wegkommen würde.

Als ich in der Tür stand und meinen Mantel aufknöpfte, blickte mich Mr. Chapman mit kühler Gleichgültigkeit über die Köpfe der Kunden hinweg an, die an seiner Theke saßen. Auch als sich zwei Kunden auf ihren Drehstühlen herumdrehten und ich Millie und Matthew Dunlap direkt gegenüberstand, fühlte ich mich mutig und immun gegen alles, was sie mir entgegenschleudern würden.

Ich musste mir verkneifen, mit den Augen zu rollen, als Millie zuckersüß meinen Namen sang: »Na, Torrrrie Naaaash.«

Die Dunlaps hatten mir im Herbst ein paar Hilfskräfte aus ihrer Männerpension geschickt, wie sie es Gott sei Dank bei jeder Ernte getan hatten, seit mein Vater gestorben war, doch seit sich die Neuigkeit meines Verkaufs verbreitet hatte, hatten sie aufgehört, bei mir zu bestellen oder an meinem Stand einzukaufen.

»Ma’am«, erwiderte ich, dann nickte ich Matthew zu, bevor er sich abrupt abwandte.

»Ach, sag doch nicht Ma’am zu mir. Ich heiße Millie, Süße, einfach nur Millie.« Sie stand von ihrem Hocker auf und kam auf mich zu, wie ein Baum, der zu schnell umfällt, als dass man ihm noch ausweichen könnte. »Wie lang ist das schon wieder her ?« Sie packte mich bei den Schultern und hielt sich gerade noch von einer Umarmung zurück. »Nun schau dich einer an! Unglaublich!«

Ihr rundes Gesicht war jetzt runzlig und blass wie ein Kohlkopf, doch die halbmondförmige Krümmung ihrer braunen Augen sprach fälschlicherweise immer noch von Harmlosigkeit. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man diesen Augen oder ihrem freundschaftlichen Singsang nicht trauen konnte. Mittlerweile waren fast sieben Jahre vergangen seit diesem grässlichen Morgen in der Küche der Schlafstelle und ihrer jähen, angewiderten Reaktion, als ich mich nach dem Jungen erkundigt hatte, den sie als »dreckigen Indianer« bezeichnete. Doch nach meinem Empfinden hätte es genauso gut erst gestern sein können. Ihr übereifriges Grinsen an Chapmans Tür erinnerte mich daran, warum ich – abgesehen von gewissen geschäftlichen Notwendigkeiten – schon lange auf Distanz zu ihr gegangen war.

Sie fragte, ob ich die Ernte gut zu Ende gebracht hatte, und erwartete ganz offensichtlich, dass ich mich für die Hilfskräfte bedankte, die sie mir geschickt hatte, was ich auch tat. Dann plauderte sie weiter übers Wetter und anderen Blödsinn, während ich verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, ihr zu entkommen.

Doch bevor ich ihr entwischen konnte, zeigte sie zu viele Zähne und sagte: »Und es muss ja wirklich wunderschön sein, dass du jetzt deinen Bruder wiedersiehst.«

Ich schaute sie so verständnislos an, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen.

»Was?«, fragte ich. Ich hatte ihre Worte sehr wohl gehört, aber sie gingen mir geradewegs von meinen Ohren in den Magen und hatten die Verarbeitung in meinen Kopf übersprungen.

»Na, dass du Seth jetzt wiedersiehst«, wiederholte sie. »Wie schön für euch zwei.« Sie versetzte mir einen leichten Schlag auf den Arm wie eine verspielte Katze.

Ich hatte den Namen meines Bruders seit Jahren nicht mehr gehört. Ich hatte angenommen, dass Seth aus der allgemeinen Erinnerung ausgelöscht worden war, so wie wir in Iola nie von einem Jahr mit einer Missernte sprachen oder von einem durch Sorglosigkeit verursachten Unfall mit einem Mähdrescher, um uns vor der Scham oder einem Unglück zu schützen.

»Matty und ich waren so überrascht, als wir gehört haben, dass Seth gar nichts davon gewusst hat, dass du das Geld von diesen Männern von der Regierung genommen hast – dabei gehört ihm doch die Hälfte des Erbes und so.« Ihre Halbmondaugen bogen sich noch stärker.

»Seth«, brachte ich krächzend hervor, während mir sein Name in der Kehle brannte, »ist in Kalifornien.«

»Ach, du lieber Himmel, nein.« Wiederum versetzte sie mir einen leichten Klaps auf den Arm, als wäre sie ganz verblüfft über meine Dummheit. »Er war eine Weile … in der Nähe von Fresno, hat er Matty erzählt, glaub ich … aber er ist jetzt fast ein Jahr in Montrose gewesen. Westlich von der Stadt. Hat bei der Maisernte geholfen. Wir haben ihn da ab und zu bei einer Versteigerung getroffen, und dann gerade vor ein paar Tagen, nachdem wir im Kino waren. Natürlich redet er nicht viel. Kennst ja Seth.«

Sie ließ diese Bemerkung auf mich wirken und musterte mich.

Ja, allerdings kenne ich Seth , hätte ich ihr am liebsten ins Gesicht gefaucht.

»Bin nicht sicher, worüber der arme Junge sich mehr aufgeregt hat, als wir mit ihm geredet haben«, fuhr Millie fort, und ihre falsche Honigsüße kippte jetzt endgültig ins Saure. »Dass du verkauft hast oder dass du diese verrückte alte Akers aufgenommen und sie dazu gebracht hast, auch zu verkaufen.« Sie legte eine grausame Pause ein, bevor sie mit den Schultern zuckte. »Aber er meinte, er wird dir mal einen Besuch abstatten, also denke ich, ihr werdet das schon geregelt haben.«

Seth. In Iola . Ich war schon aus der Tür und rannte nach Hause, bevor Millie Dunlap selbstzufrieden zu ihrem Hocker zurückschlenderte, nachdem sie den beabsichtigten Schaden angerichtet hatte.

Ich kam durch die Küchentür, atemlos und mit hochrotem Gesicht. Ohne innezuhalten und Atem zu schöpfen oder meine Stiefel auszuziehen, rannte ich in Ruby-Alice’ Zimmer und riss ihre Tür auf. Ich bin nicht sicher, was ich vorzufinden erwartet hatte – Seth, der mit einer Waffe in der Hand über ihr hing, oder, noch schlimmer, das blutige Ergebnis seines Eindringens –, doch ich fand sie genau so vor, wie ich sie verlassen hatte: tief schlafend, wobei sie flache, langsame Atemzüge machte, ein, aus. Zwei von ihren kleinen Hunden, die sich neben ihr eingerollt hatten, schauten mich träge an und schliefen dann wieder weiter.

Meine Hände zitterten, als ich mir an der Küchenspüle ein Glas Wasser einschenkte. Ich stürzte den ganzen Inhalt herunter, dann füllte ich nach und trank erneut. Seths Chrysler spukte immer noch vor dem Küchenfenster. Ich würde nie aufhören können, mir das Vorübergleiten und den brüllenden Motor auf der anderen Seite dieser Fensterscheiben vorzustellen, in der Nacht, als Wil starb. Ich erwartete fast, Seth jetzt dort zu sehen, wie er seinen finsteren Gruß wiederholte. Aber er war nicht da. Genauso wenig wie im Salon oder im Obergeschoss oder im Stall oder versteckt in den verfallenen Koben, wo er früher immer die Schweine versorgt hatte. Im glatten Schnee waren keine Fußspuren zu erkennen, die zum Obstgarten hin- oder von ihm herführten. Ich verbrachte den ganzen Tag damit, ihn an jedem möglichen und unmöglichen Ort zu suchen. Wenn ich nicht schaute, lauschte ich, mein ganzes Wesen auf der Hut wie ein bedrohter Hund. Ich zog alle Vorhänge vor, schloss alle Fenster und Türen. Ich machte kein Auge zu in dieser Nacht.

Als ich in dieser mondlosen Nacht im Bett lag, behielt ich die ganze Zeit den Türknauf im Blick, wie ich es auch als Mädchen schon so viele Nächte getan hatte. Ekel packte mich, vor Seth, ja, aber auch vor mir selbst. Ich hatte zu lange in Angst vor meinem Bruder gelebt, in Angst vor Dingen, die ich nicht benennen konnte.

Dann erinnerte ich mich an diese ersten endlosen Nächte in den Bergen, in denen ich ganz sicher war, dass draußen irgendetwas Böses lauerte, und wie täglich der Mut in mir wuchs, allem gegenüberzutreten, was da kommen würde. Ich erinnerte mich an das Grauen und die Freude bei der Geburt, ein Leben zu schaffen und auf die Welt zu bringen, und den Mut, mein Baby abzulegen und wegzugehen, um es zu retten. Ich erinnerte mich noch, wie ich nach Hause gekommen war, mich meinem Vater gestellt hatte, meinen Vater geliebt und seine Arbeit nach seinem Tod kompetent weitergeführt hatte. Ich erinnerte mich noch, wie ich ärgerlich diese Quilts von der Veranda gerissen hatte, die ich einmal mit Seths Gesicht verwechselt hatte, und mir in jener Nacht geschworen hatte, mich nie wieder von ihm verfolgen zu lassen.

Ich warf die Decken von mir und stand auf. Wenn Seth wirklich kommen sollte, dann würde ich verdammt noch mal bereit für ihn sein.

Der nächste Morgen dämmerte grau und ernst. Beim farblosen Sonnenaufgang saß ich in der Küche und nippte an meinem Kaffee, mit dem Gewehr meines Vaters neben mir. Ich hatte die Waffe nicht angerührt, nachdem er gestorben war, und davor auch jahrelang nicht, nicht seitdem er mich im Alter von dreizehn Jahren ein Dutzend Mal zum Schießen mitgenommen hatte, wozu er Coca-Cola-Flaschen auf dem hinteren Zaun aufstellte. Zu Anfang war ich zögerlich und wenig präzise. Doch mein Vater war so beharrlich wie ich gehorsam, also machten wir weiter. Irgendwann war ich in der Lage, alle sechs Flaschen in Folge zu treffen, und bat ihn, die Übungen einzustellen. Ich hasste das Gewicht auf meinem Arm, den ohrenbetäubenden Knall, den Rückschlag gegen meine schmale Schulter, den beißenden Geruch. Ich hasste es auch, wenn ich traf, weil in meinen Augen die fliegenden Glasscherben nachahmten, wie die Kugel ein Leben zerstörte. Jetzt lehnte das Gewehr an meinem Küchenstuhl, aber ich hatte nicht vor, es abzufeuern. Wenn Seth auftauchen sollte, wollte ich das Gewehr in den Händen haben. Er sollte sofort sehen, dass ich nicht mehr das Mädchen war, das er in Erinnerung hatte.

Ich war gerade dabei, die Hühner und Hunde zu füttern, Brennholz hereinzuschleppen und Ruby-Alice ihren Morgenbrei zuzubereiten, und war wild entschlossen, furchtlos zu sein, weswegen ich das Gewehr immer in Reichweite behielt. Die Sehnsucht, diese Farm zu verlassen, wuchs von Minute zu Minute, und schließlich begann ich zu packen, ließ all meine nervöse Energie bis zum Mittag in das Befüllen von vier Erntekörben fließen und machte am Nachmittag gleich weiter damit. Plötzlich konnte mir der Umzug gar nicht schnell genug kommen.

Ich schleifte eine Ernteleiter aus dem Stall in den Salon, um an die Sammlung mit den Porzellankreuzen zu kommen, die Mutter immer auf dem hohen weißen Regal verwahrt hatte. Die Leiter quietschte und wackelte unter mir, aber ich blieb auf der obersten Sprosse stehen, bewunderte die ausgestellten Stücke und dachte zurück an die Weihnachtsmorgen, wenn Mutter das neueste Kreuz auspackte, das mein Vater ihr gekauft hatte, wie sie immer überrascht und begeistert tat. Jedes war so groß wie meine Hand und glänzend weiß, geschmückt mit aufgemalten lapislazuliblauen Blüten oder Bändern oder fliegenden Vögeln. Mein Vater bestellte die Kreuze immer extra aus einem Sears-Roebuck-Katalog, der bei Jernigan’s unfehlbar jeden Dezember auslag, und ich konnte die Zärtlichkeit spüren, die jener Tradition zugrunde gelegen hatte, als ich jedes Kreuz einzeln polierte und einwickelte. Es war auch ein zerbrochenes Kreuz darunter, wie ich wusste, also suchte ich es heraus, damit ich es besonders vorsichtig herunternehmen konnte. Als ich mit der Fingerspitze über die scharfen Kanten fuhr, wo mein Vater es wieder zusammengeklebt hatte, durchlebte ich in Gedanken wieder jenen furchtbaren Weihnachtsmorgen, als Seth, wütend über irgendeine eingebildete Hänselei oder Stichelei, nach dem nächsten Gegenstand griff, um damit nach Cal zu werfen. Mutters Geschenk prallte gegen die Wand des Salons und ging in Stücke. Schweigen legte sich schwer auf den Raum, während wir Mutters Reaktion abwarteten. Sie biss nur die Kiefer aufeinander und starrte auf ihre ineinander verschränkten Hände hinunter. Normalerweise brachten Seths Wutausbrüche sie auf Zinne, aber dieses Mal sah ich ihr an, dass sie einfach nur furchtbar traurig war. Mein Vater scheuchte uns alle drei aus dem Salon, und ich verbrachte den Rest dieses Weihnachtsmorgens weinend bei Abel im Stall.

Als ich jetzt dieses geklebte Kreuz in der Hand hielt und immer noch die Melancholie dieses weit zurückliegenden Tages fühlte, fiel mir ein handgemachtes Holzkreuz ins Auge, das auf dem Regal mit der Oberseite nach unten hinter den anderen gelegen hatte. Es bestand aus zwei Weidenzweigen, die in der Mitte mit einem roten Geschenkband zusammengebunden waren. Ich hatte es schon lange vergessen, aber erkannte es sofort wieder: Seth hatte es danach für Mutter gemacht. Er hatte es in eine kleine Schachtel gelegt, die er mit einer unordentlichen Schleife verschlossen und ihr verlegen hingehalten hatte, als wir wieder in den Salon gelassen wurden, um den mit braunem Zucker glasierten Weihnachtsschinken zu essen. Mutter hatte es höflich, aber mit ernster Miene entgegengenommen, dann beiseitegelegt und mit dem Essen weitergemacht. Seth schaute sie und auch uns kein einziges Mal an, bis wir anfingen, die Teller herumzugeben. Trotz der Fülle an Leckerbissen, die Mutter und Viv extra für die Feiertage zubereitet hatten, aß Seth kaum einen Bissen.

Ich stieg von der Leiter, mit dem zerbrochenen Porzellankreuz in der einen Faust und dem selbst gemachten Kreuz in der anderen. Dieses Paar enthielt Wahrheiten über meinen Bruder – über seine Unbeherrschtheit und Wut, aber auch über irgendeinen Teil von ihm, der wusste, was richtig war und wie man es richtig machte, irgendeinen Teil von ihm, der mehr Liebe wollte, als er auf sich zu ziehen wusste. Seine Heftigkeit und der daraus folgende Kummer hatten meine Erinnerungen so überlagert, dass ich mich kaum noch an den Jungen erinnerte, der sorgfältig ein Kreuz aus Weidenzweigen anfertigte, um sich zu entschuldigen. Ich hatte das Gefühl, dass mir das auch etwas bedeuten sollte. Ich hielt sie lange in den Händen und starrte sie an, bevor ich sie in die Küche trug und beide in den Abfalleimer fallen ließ.

Wenige Tage später war ich gerade beim Abtrocknen und Wegräumen des Geschirrs vom Mittagessen, als ich schwere Schritte auf der Veranda hörte, gefolgt von dreimaligem kräftigen Klopfen. Das war er, und ich wusste es. Meine Nerven gingen mit mir durch und ließen mich kopflos durch die Küche hasten. Ich hatte viele Versionen in Gedanken durchgespielt, wie Seth auf die Farm zurückkehren würde, aber höfliches Anklopfen an der Haustür war sicher nicht darunter gewesen.

Ich holte tief Luft und griff mir das Gewehr meines Vaters. Während ich über den Flur und durch den Salon ging, dachte ich an all die Möglichkeiten, wie Seth sich trotzdem mit Gewalt Einlass verschaffen konnte. Selbstverständlich hatte ich den Schlüssel vom Verandapfosten abgenommen, wo er jahrzehntelang an einem Haken gehangen hatte, aber vielleicht hatte er ja seinen eigenen Schlüssel, oder er würde einfach ein Fenster kaputt schlagen oder mit der Schulter die Tür einrammen. Doch als ich näher kam, klopfte er einfach noch einmal, lauter diesmal, woraufhin sämtliche Hunde in Ruby-Alice’ Zimmer anfingen, wie verrückt zu bellen.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und spähte durchs Salonfenster, und dort stand mein Bruder und spähte zurück, mehr oder weniger Nase an Nase mit mir. Ich machte einen Satz zurück, und das Herz klopfte mir panisch in der Brust.

»Mach die verdammte Tür auf, Torie«, verlangte Seth durchs Fenster.

Mein kurzer Blick auf ihn hatte mir wenig mehr verraten, als dass er jetzt dünner war und einen dunklen, zotteligen Bart trug, der ihn erwachsener aussehen ließ, als ich erwartet hatte.

»Na los«, drängte er, mit tiefer, schmeichelnder Stimme. »Ich tu dir schon nix.«

Ich hielt inne, um meine Gefühle zu sortieren, und stellte fest, dass ich keine Angst um mich selbst hatte. Egal, was für ein Unheil Seth mitgebracht hatte, solange es gegen mich gerichtet war, würde ich damit fertig werden. Doch sobald es um Ruby-Alice ging, war ich da nicht so sicher. Als sich ihre Hunde beruhigt hatten, ging ich wieder zum Fenster und forderte ihn durch die Scheibe auf, sich auf den Verandastuhl zu setzen. Er lachte kurz über meine Forderung, tat aber, was ich verlangt hatte.

Ich zog mir einen Pullover an. Dann umklammerte ich das Gewehr fester und ging hastig vor die Tür, wobei ich den Türknopf abschloss und die Tür fest hinter mir zuschlagen ließ. Ich behielt ihn im Auge, während ich zum anderen Ende der Veranda rannte.

Seth lachte heiser, dann sagte er: »Ich dachte immer, du hasst dieses alte Gewehr.«

»Tu ich auch«, gab ich zurück. Ich war zufrieden, dass ihm das als Erstes aufgefallen war, denn ich hoffte, dass diese Tatsache alles über mich aussagte, was ich beabsichtigt hatte.

Es gab eine lange Schweigepause, in der wir einander musterten. Auf eine seltsame Art war er Seth, aber auch wieder nicht Seth. Er roch genauso wie früher, nach Zigaretten und Whiskey, doch der stämmige, dunkelblonde Sechzehnjährige, der aus Iola geflohen war, hatte sich in einen braunhaarigen Mann mit braunem Bart verwandelt, dessen Gesicht neue Ecken und Kanten bekommen hatte. Zwischen seinen dichten Brauen hatten sich tiefe Falten eingegraben, und eine lange weiße Narbe zog die Haut einer Wange zusammen. Seine grauen Augen kamen mir vertraut vor, immer noch nervös und flink, aber irgendwie auch weicher, weniger verärgert als die des Jungen, den ich gekannt hatte. Er war breitschultrig, aber dünn unter seiner hellbraunen Leinenjacke. Seine schmutzigen Hände waren dick und knotig wie die von meinem Vater und zitterten leicht, als er sich damit immer wieder über die dreckigen Hosenbeine seiner Jeans rieb. Irgendetwas an seiner Haltung sagte mir, dass er in den letzten sechs Jahren viel Ärger gehabt hatte, aber ich war sicher, dass er alles davon sich selbst zuzuschreiben hatte.

Ich konnte seine Gedanken über die Veränderungen an mir nicht erraten, aber abgesehen von meiner neuen Bereitschaft, Befehle zu geben und ein Gewehr zu halten, war es mir ziemlich egal.

»Ich hab die Dunlaps in Montrose getroffen und …«, begann er.

»Ich weiß. Millie hat mir alles erzählt«, fiel ich ihm ins Wort.

»Ja? Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass ihr zwei nicht mehr auf freundschaftlichem Fuß steht«, sagte er.

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie hat gesagt, dass du kommen würdest, um dir dein Geld zu holen.«

»Dann bist du also nicht überrascht, mich zu sehen«, kicherte er nervös.

»Das Einzige, was mich überrascht, ist, dass du so lange gebraucht hast, um hier aufzutauchen.« Das war eigentlich als Seitenhieb auf seine Gier gemeint, aber er antwortete mir, als würden wir uns ganz normal unterhalten.

»Ja, ich schätze, ich konnte mich nicht entscheiden, was ich tun sollte«, meinte er. »Ich hab mir eigentlich immer gesagt, dass ich nie wieder zurückkommen würde.«

Ich überlegte, wie er dieses Versprechen gebrochen hatte, sobald es um eine Auszahlung ging, aber nicht, um zur Beerdigung meines Vaters zu kommen. Er wusste, dass ich das dachte, und zuckte die Schultern über mein unausgesprochenes Urteil.

»Vielleicht bin ich ja auch für mehr zurückgekommen als bloß für Geld«, sagte er schließlich.

»Zum Beispiel?«, fragte ich.

»Vielleicht habe ich das Bedürfnis, dir ein paar Sachen zu erzählen.« Er blinzelte zu mir hoch und sah auf einmal dem Jungen sehr ähnlich, der seiner Mutter das selbst gemachte Kreuz gegeben hatte, nachdem er uns unser Weihnachtsfest verdorben hatte.

Ich dachte über die unterschiedliche Art nach, wie mein Bruder und ich unsere Lasten trugen. Wir waren noch nicht alt genug, um mit Verlusten fertig zu werden, als uns die Verluste dennoch heimsuchten. Wir hatten weitergemacht – ohne Mutter, ohne Cal und Tante Viv, mit nur einem abbauenden Vater und einem bösartigen, ruinierten Onkel an ihrer Stelle –, indem wir ernstere Versionen dessen wurden, was wir vorher schon gewesen waren: ich, das gehorsame Mädchen, Seth, der böse Junge. Keiner von uns hatte einen anderen Weg gewusst. Doch die Liebe zu Wil hatte mir die Rüstung meiner Schüchternheit genommen, und Baby Blue hatte mir meine Kraft gezeigt. Ich bezweifelte, dass Seth dasselbe Glück gehabt hatte. Also machte ich mich gefasst auf das, was er jetzt sagen würde.

»Ich musste dir unbedingt sagen«, fuhr er fort und schluckte schwer, »dass ich diesen Indianerjungen nicht getötet habe.«

Ich musste mich zwingen, ruhig zu atmen. Zu gern hätte ich ihm gesagt, dass Wil kein Junge und schon gar kein Indianer war, sondern ein Mann mit einem Namen und einer Liebenswürdigkeit, die er überhaupt nie begreifen würde. Aber es war zwecklos. Also schnauzte ich zurück: »Tja, das musst du jetzt wohl sagen, oder? Wenn du hierherkommst und hoffst, Geld von mir zu kriegen. Du würdest alles Mögliche sagen.«

»Nein, Torie, wirklich.« Seth schüttelte energisch den Kopf. »Das war dieser Forrest Davis. Er hat den Jungen … festgebunden … er hat dem Jungen das angetan. Ich war dabei, und ich hätte nicht dort sein sollen, aber getan hat er es.«

Mir fiel keine andere Antwort darauf ein, als das Gewehr sichtbar fester zu greifen. Gewalt war mir so fremd wie der Mars, doch in jenem Moment verstand ich das Konzept der Rache, wie sie explodierte, der verzweifelte Drang, Schmerz auszulöschen, indem man einem anderen so viel wie möglich davon zufügte. Ich konnte mich noch zu gut an diese furchtbare Nacht erinnern, als Seth nach Hause gekommen war, betrunken und triumphierend und ganz sicher mit Blut an den Händen, als ich nur noch davonschleichen konnte.

»Wenn du dabei gewesen bist«, sagte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte, »warum zur Hölle hast du ihn dann nicht davon abgehalten?« Ich zitterte jetzt, denn mir wurde klar, dass ich immer den Verdacht gehabt hatte, Forrest Davis könnte der Mörder gewesen sein, aber ich wusste auch die ganze Zeit, dass Seth zu schwach, zu fehlgeleitet und zu verblendet engstirnig gewesen war, um etwas anderes zu tun, als Wil beim Sterben zuzuschauen. »Warum?«, wiederholte ich. Ich wollte es herausschreien, aber ich beherrschte mich und kämpfte meine Tränen zurück. »Warum hast du ihm nicht geholfen?«

Seth starrte eine ganze Weile auf die ausgetretenen Dielen der Veranda, dann sagte er: »Weil ich damals ein Dummkopf war. Ein wütender, scheißblöder Trottel.«

Jetzt war bloß noch das Geräusch zu hören, mit dem seine rauen Handflächen über den Jeansstoff auf seinen Oberschenkeln rieben. Dann griff er in seine Jackentasche, um eine Schachtel Lucky Strike herauszuholen, sich eine auf die Hand zu schütteln, zwischen die Lippen zu schieben und anzuzünden. Das knisternde Geräusch des Tabaks, der bei jedem Zug herunterbrannte, füllte die Stille aus.

Wolken krochen wie ein Dutzend graue Schlangen über den vorher noch sonnigen Himmel, nahmen ihn vollkommen ein und warfen lange Schatten auf den Schnee. Die rauchgeschwängerte Luft war kühl.

»Nur für eines war ich nicht zu blöd«, sagte er und gestikulierte mit seiner Zigarette zu mir. »Ich war nicht zu dumm, um zu begreifen, warum du weggelaufen bist.«

Ich biss mir auf die Lippe und wartete auf die Worte, dass er von dem Baby gewusst hatte, dass mein Vater und Og und Lyle und die ganze Stadt von dem Baby gewusst hatten.

»Du hattest Angst, dass wir dich auch bestrafen würden«, sagte er düster und nahm noch einen tiefen Zug, bevor er auf die Veranda abaschte. »Aber ich hätte dir nie etwas tun können, Torie. Du und ich … wir …« Er hielt inne und blickte wieder zu Boden. »Es hat mir überhaupt nicht gefallen, als ich dir nachgeschlichen bin und gesehen habe, wie du diesen Indianer geküsst hast. Das geb ich zu. Es hat mir überhaupt nicht gefallen. Aber ich hätte dir nie einen Vorwurf daraus gemacht. Du wusstest nichts über seinesgleichen, ihre Zaubersprüche und Hexerei und was nicht alles.«

Diesen Indianer , dachte ich angewidert. Seinesgleichen. Zaubersprüche und Hexerei.

Mir fiel wieder Cals Erklärung für Seths Wut ein, als wir ihn aus unserem Baumhaus aussperrten. Weil er neidisch ist, das ist alles , hatte Cal gesagt. Auf dich und mich .

»Als Lyle uns langsam, aber sicher auf die Schliche kam und Davis meinte, dass wir lieber aus der Stadt verschwinden sollten, hab ich dich gesucht«, sagte Seth. »Ich bin durch die ganze verdammte Stadt gefahren. Ich wollte dir sagen, dass du in Sicherheit sein würdest, nachdem Davis weg war und dieser Indianer auch. Bitte sag, dass du mir das glaubst!«

Ich glaubte es ihm nicht. Oder vielleicht doch. Aber das war jetzt alles nicht mehr wichtig.

»Was willst du, Seth?«, fragte ich ausdruckslos, denn ich wollte, dass diese Unterhaltung endlich vorbei war. »Warum bist du hier?«

»Ich weiß nicht«, sagte er, warf die Kippe auf die Dielen und trat sie mit einem Stiefel aus. »Um mir das Geld zu holen. Aber wo ich schon mal hier bin, könnte ich …« Er machte eine Pause und überlegte. »Ist diese verrückte Akers da drin?«, fragte er und zeigte auf die Haustür.

»Nein«, sagte ich. »Die ist gestorben. Schon vor einer ganzen Weile.«

Er spottete: »Da hab ich aber anderes gehört.«

Ich zuckte mit den Schultern und fragte erneut: »Was willst du, Seth?«

»Na ja, ich komm eben ins Überlegen … wer wird hier wohnen, wenn du weggezogen bist? Wer wird das Land bearbeiten?«

Fische , wollte ich schon sagen. Und Seegras und Fäulnis .

»Die Leute sagen, dass sie den Stausee gar nicht anlegen werden«, meinte er. »Sie behaupten, so einen Damm zu bauen, ist unmöglich. Dass jeder, der sein Land verkauft, ein Trottel ist.«

Er mochte recht haben oder auch nicht, mir war es egal. Ich hatte einen Plan und einen Ausweg gefunden.

Er fuhr fort: »Wenn du diese Farm nicht haben willst, vielleicht nehm ich sie dann. Ich habe es so satt, ohne ein Zuhause durch die Welt zu ziehen. Und niemand anders kann sich um diese Plantage so kümmern wie ich.«

»Gut«, sagte ich und stürzte mich auf das, was in meiner Hoffnung eine Gelegenheit sein könnte. »Dann zeig Davis bei Lyle an, sag aus, was du damals beobachtet hast, und die Farm gehört dir.«

»Da gibt es nur zwei Probleme«, erwiderte er. »Erstens wird sich niemand genug um irgendeinen Indianerjungen scheren, der vor Jahren ums Leben gekommen ist, um deswegen ein Geschworenengericht zusammenzurufen.«

Er legte eine Pause ein und schaute mir in die Augen, in denen er leider die Antwort las, dass ich wusste, wie recht er damit hatte.

»Und zweitens«, fuhr er fort, »wäre es sowieso nicht mehr wichtig. Davis ist nämlich bei einem Kampf getötet worden, als wir draußen in Fresno waren.« Er zeigte auf die weiße Narbe auf seiner Wange. »Der Kerl hätte mich um ein Haar auch noch um die Ecke gebracht.« Wieder machte er eine Pause, bevor er hinzufügte: »Mehr Gerechtigkeit wird es da nicht geben.«

Meine Augen brannten, ich wollte, dass er endlich ging.

»Ich bin bis zum Sommer hier raus«, sagte ich. »Bleib mir bloß vom Leib, dann soll es mich auch nicht kümmern, was du so treibst. Wenn du mir auch nur noch ein Mal zu nahe kommst, dann werde ich jeden Zentimeter dieser Farm mit Benzin übergießen und sie bis auf die Grundmauern niederbrennen.«

Er schnaubte verächtlich. »Den Obstgarten nicht.«

»Mit dem Obstgarten werde ich anfangen«, log ich und starrte ihm in die Augen.

Seine bekümmerten Augen verrieten mir, dass ihm zumindest eine Sache auf dieser brutalen Welt – die Pfirsiche – tatsächlich an seinem verwilderten Herzen lag.

»Zweifle nicht an meinen Worten, Seth«, sagte ich und rückte näher zu ihm auf. »Bleib hier weg, bis ich längst weggegangen bin. Dann nimm dir dieses Land, wenn es dich haben will. Und wenn Lyle dich entdeckt oder die Männer von der Regierung kommen, um sich diese Farm zu nehmen, dann ist das nicht mehr meine Sache. Dann hast du unbefugt ein Grundstück betreten und kannst die Geschichte verdammt noch mal selbst ausbaden.«

Er war völlig verdutzt über meine Nachgiebigkeit. Aber ich hatte ihm nichts gegeben, was ich nicht schon der Flut versprochen hatte. Was mit der Farm passierte, wenn die Bäume erst mal gerettet waren und ich mein neues Leben begann, war mir nicht mehr wichtig. Seth, so redete ich mir ein, war mir nicht mehr wichtig. Wenn er wirklich wiederkam, würde der Obstgarten nicht mehr da sein, die Farm wäre leer, und nur die Geister seiner Reue würden noch hier herumspuken. Meine Rache und die einzige Gerechtigkeit, die Wil jemals bekommen würde, würde darin liegen, dass Seth von diesen Geistern verfolgt werden würde, und in dem Tag, an dem der Gunnison River so anstieg, dass er alles auslöschte.

Ich hob das Gewehr und zielte direkt auf seine Brust.

»Und jetzt sieh zu, dass du von meiner Veranda verschwindest«, sagte ich.

Seth stand auf und schaute mich mit einem so verbrauchten und bekümmerten Gesicht an, dass er eher aussah wie achtzig statt seiner zweiundzwanzig. Er wirkte so traurig, dass ich einen Moment lang wieder das kleine Mädchen war, das seinen Bruder liebte und diese Liebe aus der Umklammerung von Angst und Verwirrung befreien wollte, ihn vor sich selbst retten und alles Böse in ihm ausgleichen wollte, alles Böse auf der ganzen Welt, indem es selbst gut war. Ich wollte ihm sagen, dass in mir mehr gesteckt hatte, als ich jemals für möglich gehalten hätte, und dass vielleicht auch in ihm mehr steckte.

Trotzdem hielt ich das Gewehr stetig auf Seth gerichtet, der langsam die Stufen der Veranda hinunterging und hinter den Pappeln verschwand. Ich senkte den Gewehrlauf nicht, ich holte nicht mal richtig Luft, bis ich in der Ferne einen Motor anspringen und ein Auto davonfahren hörte.

Es war fast so, als hätte Seth den Winter mitgenommen, denn am nächsten Tag setzte die Schneeschmelze so richtig ein. Im Laufe der nächsten zwei Wochen kam die Erde nach und nach und fleckchenweise wieder zum Vorschein, um dann, von einem Tag auf den anderen, als der Schnee sich in Matsch verwandelte, ganz grün zu werden. Während Greeney und seine Studenten die Vorbereitung des Bodens auf dem neuen Grundstück hinter den Elk Mountains abschlossen, pfropfte ich die Bäume im laublosen Obstgarten Zweig für Zweig, bis auf die alten Exemplare, die ich zurücklassen musste. Dabei sagte ich mir selbst laut vor, dass bei der kommenden Umpflanzung alles gut gehen würde, dass meine Bäume und ich im Mai in Paonia aufblühen würden. Noch während ich die Worte aussprach, verknotete sich mein Magen um die Möglichkeit eines Scheiterns. Als ich auf dem schlammigen Boden saß und mich an den breiten, knorrig verdrehten Stamm des alten Baumes lehnte, den ich am meisten vermissen würde, faltete ich meine Hände zum Gebet. Doch als meine Worte zum Himmel stiegen, wurde mir klar, dass ich nicht mit Gott sprach, sondern mit meinem Vater, demjenigen, der den Obstgarten am besten kannte und am meisten liebte. Ich bat um seinen Segen und seine Hilfe, um Wunderpfirsiche und gutes Wetter, und ich bat für den Fall, dass alles richtig schiefging, um seine Vergebung und Verständnis dafür, dass ich es wenigstens versucht hatte.

Am ersten März stand ich neben Greeney und vier seiner Studenten mit lauter Leinensäcken neben uns. Ich beobachtete nervös, wie zwei der jungen Männer sorgfältig um den ersten Baum herumgruben. Erst mal den Boden lockerten, bis die Wurzeln komplett freigelegt waren. Als sie den Baum aus der Erde hoben, kniete ich mich hin, ebenso Greeney, bewunderte die dicken, verschlungenen Wurzeln und versuchte, so viel Erde wie möglich dazwischenzuschieben. Die zwei anderen Studenten beeilten sich, den großen Wurzelballen in den Leinensack zu hüllen. Gemeinsam hievten wir das Bündel auf eine Schubkarre, um den Baum dann zum wartenden Pick-up zu schieben. Ich atmete erst wieder richtig durch, als Greeney die Daumen hochhielt und mir ein hoffnungsvolles Grinsen zuwarf. Ich lächelte zurück, doch innerlich war mir, als müsste ich mich gleich übergeben.

Tag um Tag machten wir weiter, immer einen Baum nach dem anderen, bis eine Ladefläche voll war, der Pick-up weggefahren werden konnte und ein neuer bereitgestellt wurde. Die riesigen Löcher im Obstgarten waren wie offene Wunden. Ich machte mir Sorgen, dass das Land die Schmerzen dieses Ausreißens spüren würde, ein blutloses, stilles Leiden von aufgerissenem Boden und verstreuten Felsen und Wurzeln, genauso wie sich das letzte Ringen nach Luft anfühlen würde, wenn die Fluten stiegen. Doch wenn mich diese Berge eines gelehrt hatten, war es die Tatsache, dass das Land wenn nötig geduldig die menschliche Torheit aushält und übersteht, sich erholt, sobald es kann, und weitermacht. Trotzdem saß ich an manchen Abenden im kühlen, blauen Zwielicht im geplünderten Obstgarten und entschuldigte mich für das, was ich getan hatte.

Ruby-Alice verschlief fast alle Tage und schien sich von den Plänen und Veränderungen nicht beunruhigen zu lassen, doch als die erste Ladefläche gefüllt wurde, begann sie ihren Kopf wegzudrehen, wenn ich ihr zu essen oder zu trinken anbot. Iola war ihr Zuhause, und ich konnte nur raten, dass sie sich weigerte, weggefahren zu werden wie diese Bäume. Die Tage vergingen ohne Nahrung oder Bewegung. Als ich spürte, dass ihre Zeit gekommen war, trug ich ihren winzigen Körper zum Wagen meines Vaters, scheuchte ihre kleinen Hunde hinein und fuhr sie zurück zu ihrem Haus zwischen den Kiefern. Wenige Stunden nachdem ich sie auf das Sofa gelegt hatte, auf dem sie gerne schlief, und sie mit einem Quilt zugedeckt hatte, wurden ihre Atemzüge kürzer und flacher mit langen Pausen dazwischen. Sie ging so friedlich, wie man es sich nur wünschen kann, wobei ihre bläulichen, gefalteten Hände auf der Brust lagen. Vier Hunde schliefen neben ihr, einer hatte sich sogar an ihrer Schulter eingerollt. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und war froh über ihr Leben – ein so ungewöhnliches und einzigartiges, das sich mit meinem so seltsam überschnitten hatte – und froh über ihren Tod, den einzigen guten Tod, den ich jemals erlebt hatte.

»Fließe wie ein Fluss«, flüsterte ich ihr zu, wie Wil es wahrscheinlich auch gemacht hätte, und ich schwöre, ich spürte, wie ihr Geist sich aus ihrem Körper erhob.

Ich erwartete, dass Ruby-Alice’ Beerdigung auf dem Friedhof in Iola so sein würde wie unser Leben in der letzten Zeit – nur wir zwei und über uns die Big Blue Wilderness. Es schien mir passend, sie tief in dieser Erde zu begraben, wo den ganzen Sommer über weiße Gänseblümchen blühten und ihre verlorene Familie und meine und Generationen von Stadtbewohnern unter bescheidenen Grabsteinen ruhten. Wenn der Stausee kommen würde, würden ihre sterblichen Überreste mit dem Land ertrinken oder – so hatte es die Regierung versprochen – auf einen hoch gelegenen Hügel umgebettet werden, als Denkmal für das, was einmal gewesen war, und die Leute, die einmal hier gelebt hatten. Ich verpackte die sorgfältig arrangierten alten Gegenstände, die ich in Ruby-Alice’ Kommodenschublade gefunden hatte, und gab sie Reverend Whitt, damit er sie zu ihr in den Sarg legte, bevor man ihn versiegelte. Er fragte mich, ob er am Morgen des Begräbnisses ein paar Worte sagen dürfte, und ich gab meine Zustimmung.

Tschilpende Spatzen und perfekt goldener Sonnenschein begleiteten mich auf meinem Weg zum Friedhof. Gleich würde ich meinen Kopf am offenen Grab senken, während der alte Mann ein Gebet sprechen würde, und dann Abschied von ihr nehmen. Vor mir erstreckte sich ein völlig neues Leben. Zwar stellte ich fortwährend meine Entscheidungen in der Vergangenheit infrage, doch in der bekannten Welt führt jeder Schritt unweigerlich zum nächsten, und wir müssen in diesen offenen Raum gehen ohne Landkarte und ohne Einladung. Wil und der Gunnison River und die Schichten von Leben und Tod in den Wäldern der Big Blue Wilderness lehrten mich das jeden Tag aufs Neue. Ob richtig oder falsch, mein nächster Schritt lag vor mir, und ich versuchte, ihm zu trauen. Dieses Begräbnis würde mein letztes Band zu Iola auflösen, bald würde ich weggehen.

Als ich mich dem winzigen Friedhof näherte, traute ich im ersten Moment meinen Augen nicht, als ich eine sich sammelnde Menschenmenge sah. Aber es war tatsächlich so: Zwei Dutzend Stadtbewohner traten durch das weiße schmiedeeiserne Tor, ganz in Schwarz, einige von ihnen mit einem Strauß Salbei in der Hand, der mit einem Band zusammengehalten wurde, statt noch nicht aufgeblühter Blumen. Die Tradition war stärker als alles andere, als ich meinen Platz unter ihnen einnahm. Der Pfarrer rezitierte Psalmen. Die weißen Gipfel leuchteten. Wir fassten uns bei den Händen und sangen zusammen das Lied, das in unserer Gemeinde immer auf Beerdigungen gesungen wurde, »Bald sehen wir uns wieder«. Ich schaute in die ernsten, wettergegerbten Gesichter, da waren die Familie Mitchell und die Brüder Whitt und Dr. und Mrs. Bernette und Mr. Jernigan, ein paar alte Klassenkameradinnen, die ich kaum noch wiedererkannte, die Viehzüchter, für die mein Vater gearbeitet hatte, und die anderen normalen Leute aus der Stadt. Es war kein einziger fauler Apfel darunter. Das waren die anständigen, hart arbeitenden Menschen, zwischen denen ich mein ganzes Leben verbracht hatte, die auf Beerdigungen gingen und leidenschaftlich ihre Familien beschützten, auch wenn sie dabei manchmal ein bisschen übers Ziel hinausschossen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo sie hingehen würden und wer sie dort sein würden und was sie verteidigen würden, nachdem die Flut alles verändert hatte, wie sie ihre Herzen und Leben wieder zusammensetzen und weitermachen würden.

Ich bedankte mich bei jedem Einzelnen von ihnen, als sie aus dem Tor gingen. Viele gaben mir die Hand und ließen die Vergangenheit ruhen – zumindest vorübergehend. Ich überlegte, wer von ihnen Wils Begräbnis besucht hätte, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten. Nicht alle, entschied ich, aber doch zweifellos die meisten – eine Erkenntnis, die mir dicke Tränen um alles, was ich verloren und missverstanden hatte, über die Wangen strömen ließ.

Reverend Whitt und seine Söhne schlossen die Beerdigung ab, luden ihre Ausrüstung auf ihren schwarzen Wagen und fuhren davon. Ich blieb noch eine Weile bei dem frischen Erdhügel zwischen den acht kleinen Grabsteinen auf der Grabstelle der Familie Akers stehen. Ich verspürte eine gewisse Erleichterung, dass sie jetzt endlich auch bei ihnen lag.

Meine Familie war auf der grasbewachsenen Anhöhe darüber begraben. Ich schlenderte über den Friedhof, berührte die gebogenen hölzernen Grabtafeln und sagte bei jedem laut den Namen des Toten. Als sich die Menschen dort versammelt hatten, um sich bei den Händen zu fassen und für jeden von ihnen zu singen, war ich davon ausgegangen, dass mein eigenes Begräbnis genauso aussehen würde, wenn meine Zeit einmal gekommen war. Seltsam, dachte ich, als ich ein letztes Auf Wiedersehen sagte und den Hügel wieder hinunterging, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie mein Leben jetzt aussehen würde, von meinem Tod ganz zu schweigen.

Mitte März hatten Greeney und ich die Entfernung und den Abtransport jedes einzelnen kostbaren Baumes überwacht. Und mit diesen letzten Bäumen verließ auch ich Iola.

Die Hühner in ihren Käfigen warteten auf dem goldfarbenen Sofa neben den gepackten Erntekörben mit Lebensmittelvorräten und gestapelten Steigen mit eingemachten Pfirsichen und den Gartenwerkzeugen meines Vaters, und was die helfenden Studenten sonst noch alles auf der Ladefläche des alten Pick-ups untergebracht hatten. Greeney und seine Studenten beluden dann ihre eigenen Fahrzeuge, um vor mir zum neuen Obstgarten vorauszufahren. Ich kehrte noch einmal um und ging zur Seitentür, um noch einen letzten Rundgang durchs Haus zu machen, doch dann hielt ich inne. Ich hatte die stillen Räume bereits durchgesehen und Frieden mit den Erinnerungen und den Gegenständen gemacht, die ich zurücklassen würde. Stattdessen lud ich den letzten Korb auf den Beifahrersitz. Ich hatte ihn mit einem blauen Band markiert, um seinen Inhalt als ganz besonders zu kennzeichnen: Mutters Porzellankreuze, gerahmte Stickereien und ihre Bibel, die Flanellhemden meines Vaters, zwei von Ruby-Alice’ Quilts und meine Lieblingsfigur aus ihrem Nippes. Ich trieb die kleinen Hunde aus Haus und Hof heraus und setzte sie auf die Rückbank. Dann zog ich die Küchentür energisch hinter mir zu.

Ich fuhr die lange Auffahrt hinunter und versuchte, nicht zurückzuschauen. Doch ich schaffte es nicht. Ich stellte den Wagen also ab und stieg aus, um noch einen letzten, langen Blick auf den Ort zu werfen, der mich geformt hatte. Dann ging ich zurück zum Auto und fuhr weiter. Ich würde meine Vergangenheit hinter mir lassen und versuchen, mein Leben neu aufzubauen, wobei ich nicht auf Wunder hoffte, sondern einfach nur auf die Kraft im neuen Boden. Ich dachte mir, wenn meine Bäume überleben konnten, entwurzelt und gegen alle Wahrscheinlichkeit, dann konnte ich das trotz allem Pech auch.