18

1955

A ls ich zum ersten Mal die Grand Avenue hinunterfuhr, dachte ich, dass Paonia zu fein für mich wäre.

Ich spähte über das Lenkrad auf die ordentlichen Gehsteige und Bordsteine, das bunte Paradise-Kino mit einem gerahmten Filmplakat und ein großes Gebäude, auf dem Hays Variety in roten Schreibschriftbuchstaben auf gelben Backsteinen geschrieben stand. Das Café hatte eine grüne Markise und saubere Glastüren, und davor stand eine Kreidetafel, auf der ein Forellen-Waffel-Gericht beworben wurde. Ein paar Leute musterten mich neugierig, als ich vorbeifuhr, und ich genierte mich schrecklich für mein Eindringen und die Störung des stillen Frühlingsnachmittags durch den grummelnden Motor meines Wagens.

Doch nachdem ich von der Grand Avenue auf die Second Street abgebogen war und die Bahnschienen zum Minnesota Creek überquert hatte, breiteten sich vor mir Obstgärten und Weiden und offenes Land aus. Ein Kiefernwäldchen in der Ferne zog sich zu einem schmalen Kamm hoch, der zwei schneebedeckte Berggipfel verband, von denen einer schroff und unzugänglich war, der andere glatt und sanft wie ein Walrücken. Ich nahm Greeneys bekritzelten Zettel vom Armaturenbrett und folgte seiner Beschreibung des restlichen Weges: links nach einer roten Scheune, rechts über eine kleine Brücke über einen Drainagekanal auf eine namenlose unbefestigte Straße, und dann noch mal links.

Da begrüßte mich meine neue Farm, erwartungsvoll und fremd, wie eine entfernte Verwandte, die ich noch nie getroffen hatte. Das kornblumenblaue Wohngebäude brauchte einen neuen Anstrich und ein neues Metalldach, aber es war viereckig und sah ganz bezaubernd aus, mit seiner breiten Veranda davor und einer Reihe von weißen Koppelfenstern im zweiten Stock. Der grasbewachsene Hof war klein, hatte kleine gelbe Tupfer vom Löwenzahn und wurde überschattet von grünenden Pappeln. Knospende Fliederbüsche und andere Sträucher, die ich noch nicht benennen konnte, zogen sich an einem rostigen schmiedeeisernen Zaun entlang. Ich folgte der Kiesauffahrt bis zu einem langen seitlichen Hof, vorbei an einer gemauerten Terrasse, die an einen erhöhten Küchengarten und Blumenbeete voller Unkraut grenzte, bis zu einer alten Garage, deren breite Tür offen stand, sodass man das leere Innere sehen konnte. Ich blieb einen Moment dort stehen, weil ich mir vorkam, als würde ich unbefugt ein fremdes Grundstück betreten, doch die Kiesauffahrt ging weiter, also fuhr ich auch weiter – vorbei an zwei Trauerweiden und einem wegsackenden Schuppen, der von den dürren Zweigen der Himbeersträucher umgeben war, und vorbei an einer großen Scheune, die mit den Jahren grau geworden war, aber immer noch aufrecht und stabil stand. Mein Herz begann zu rasen, als der Obstgarten in Sicht kam.

Da standen die Bäume. Meine Bäume. Ein paar lagen immer noch uneingepflanzt herum und ragten in seltsamen Winkeln aus ihren in Leinen gehüllten Wurzelballen neben den wartenden Pflanzlöchern. Doch die meisten standen schon aufrecht in langen, geraden Reihen, jeder Stamm angepflockt und gemulcht, jeder nackte Zweig emporgereckt zu einem neuen Stück Himmel. Es wäre dumm gewesen zu sagen, dass die Bäume mich willkommen hießen, obwohl ich gerne von irgendwem die Zusicherung bekommen hätte, dass ihnen der Umzug bekommen war und ich keinen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Stattdessen konnte ich ihnen und ihrem Ersatzboden nur ansehen, dass eine neue Reise begonnen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde. Doch ich war klug genug, um eines zu wissen: Das Land würde mein Schicksal entscheiden.

Greeney und ein paar Studenten hörten meinen Wagen näher kommen und rannten mit erhobenen Armen auf die Straße am Obstgarten, um zu winken, zu jubeln und zu lachen, als wären sie Kinder, die gerade irgendetwas gewonnen hatten. Ich hupte wild zur Antwort und hatte plötzlich viel mehr Hoffnung als seit geraumer Zeit. In nicht allzu weiter Ferne hörte ich ein lang gezogenes, tiefes Pfeifen, und zum ersten Mal seit Jahren lächelte ich, als ich das vertraute Rattern und Summen eines vorüberfahrenden Zuges hörte.

Ich ging noch am gleichen Tag in den Obstgarten und berührte jeden einzelnen Baum, zählte, segnete und ermutigte ihn mit lauter Stimme, wie ich es noch wochenlang zweimal täglich machen sollte. Ich pfropfte und goss und düngte meine Bäume in Übereinstimmung mit der geerbten Erfahrung meines Vaters, meinen eigenen Instinkten und Greeneys Empfehlungen, und langsam, aber sicher entlockte ich ihnen die ersten Anzeichen von Leben.

Am Abend machte ich mich an die seltsame Aufgabe, den Haushalt zu organisieren in einem Haus, das mir immer noch vorkam, als würde es jemand anders gehören. Das alte Haus roch, wie nur alte Häuser riechen, nach Geschichten, nach Jahrzehnten von Frühstücken aus gebutterten Pfannen und schwarzem Kaffee und tropfenden Wasserhähnen, nach Familie und Leben und alterndem Holz. Die Farm in Paonia ähnelte in vielerlei Hinsicht meiner eigenen in Iola, aber hier saßen eben nicht die Erzählungen und die Gewohnheiten und die Geschichte meiner Familie in den Wänden. Ohne zu wissen, zwischen welchen Geistern ich mich bewegte, tat ich mich schwer, mich wirklich auf dieses Haus einzulassen. Ich stellte das goldfarbene Sofa so hin, dass man aus dem Wohnzimmerfenster den besten Bergblick hatte, und schlief jede Nacht darauf. Ich arrangierte sorgfältig Mutters Kreuze auf dem Kaminsims. Ich stellte meine weißen Teller in die Küchenschränke und füllte die Vorratskammer mit einem Dutzend Einmachgläsern mit Pfirsichen vom Vorjahr. Die vorherigen Besitzer hatten einen langen Esstisch aus Kiefernholz dagelassen, der sich wahrscheinlich als zu sperrig für den Transport herausgestellt hatte. Im Obergeschoss standen zwei Doppelbetten mit Kopfteilen aus Eichenholz und dazu passende Schreibtische, die zu warten schienen, bis ich mich richtig eingewöhnt hatte und die Gastfreundschaft ihres richtigen Besitzers akzeptieren konnte.

In jenen ersten Wochen war ich nie sicher, wo ich mich aufhalten sollte, wenn ich nicht gerade im Obstgarten war. Das Bepflanzen des Küchengartens mit den Samen, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, half ein bisschen, ebenso wie das Spazierengehen mit den Hunden von Ruby-Alice über die Landstraßen und Pfade entlang der Straßengräben. Greeney oder einer von seinen Studenten kam jeden Donnerstag vorbei, um Daten zu sammeln, und dann lud ich ihn zum Mittagessen ein, bei dem ich über unsere Fortschritte informiert wurde – immer noch langsam und ungewiss. Wenn Nachbarn mit Eintöpfen, frisch gebackenen Kuchen oder Marmelade nach dem Rezept ihrer Großmutter als Willkommensgeschenk vorbeikamen, nahm ich ihre Geschenke gerne entgegen und tauschte mit ihnen Telefonnummern. Ihr Geplauder war zwar immer freundlich, aber es konnte nicht verhehlen, dass den meisten von ihnen der Gedanke, dass eine alleinstehende junge Frau eine Plantage betrieb, nicht nur sehr seltsam vorkam, sondern auch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die meisten hatten von den Nash-Pfirsichen gehört, aber meine Bäume und ich waren jetzt im Pfirsichland von Colorado, meinten sie, neben den besten Kirschen, Birnen und Äpfeln im ganzen Staat. Manche gaben mir indirekt zu verstehen – andere auch direkt –, dass, wenn meine Bäume überleben sollten, ich nicht erwarten dürfte, etwas Besonderes zu sein. Und außerdem müsste sich noch herausstellen, ob die Bäume überhaupt gedeihen würden. Ich nickte und schüttelte Hände und meinte, dass mir das alles recht war, obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie beim ersten Mal, wenn sie einen süßen Nash-Pfirsich öffneten, wenn das rosarote Fleisch in der Mitte sich glatt vom Kern löste und sie den ersten Bissen nahmen, sie vielleicht ihre Meinung ändern würden. Ich betete, dass sie die Gelegenheit dazu bekommen würden.

Eines trüben Morgens Ende April saß ich auf dem Sofa, nippte von meinem Kaffee und schaute hinaus in den Regen. Die Welt war weich und still. Bleigraue Wolken lagen in Schichten auf dem Talboden. Ich kannte die neue Aussicht von meinem Fenster mittlerweile auswendig – der Anstieg des fernen Kiefernwaldes bis zu den steilen Felsen, dann der jäh aufragende Felsen bis zu den zerklüfteten Klippen von Mount Lamborn und schließlich der glatte, baumbestandene Hang des benachbarten Mount Landsend – doch an diesem Morgen war nur wenig zu sehen hinter dem grauen Flanell. Nur die Spitzen der beiden Berge schauten oben aus den Wolken heraus, eine zerklüftete Spitze und eine glatte, die beide Richtung Himmel stießen und die erste Andeutung eines violetten Sonnenaufgangs einfingen. Die Welt schien kopfzustehen in diesem Augenblick – die Umkehrung von Land über Wolke, Wolke unter Land –, und der ganze Anblick war schön und beunruhigend zugleich.

Als der Regen irgendwann aufhörte, zog ich meine Gummistiefel an und machte mich auf den Weg zum Obstgarten. Der durchnässte Boden roch üppig und süß, aber anders als zu Hause. Die Vögel waren ganz still. Ein Zug pfiff in der Ferne. Dicke Wolken schwebten überall, stiegen langsam nach oben, um die Berggipfel auszulöschen und jede Hoffnung auf Sonnenschein. Die Stimmung passte zu der unangenehmen Arbeit, die ich heute Morgen angehen musste. Meine Bäume hatten endlich glänzende grüne Blätter angesetzt und dazwischen erbsengroße Knospen, ein wundersames Versprechen von Leben und Blüte und Frucht, alles fest ineinandergefasst. Doch an jenem Tag ging ich von Zweig zu Zweig und tötete jede von ihnen ab. Jedes Schnipsen stellte alles auf den Kopf, was ich jemals gewusst hatte über die Heiligkeit einer Pfirsichknospe, dass man sie pflegen musste wie einen Edelstein, bis sie sich zu einer zarten rosa Blüte öffnete. Greeneys Forschung hatte ihn überzeugt, dass man im ersten Jahr nach der Umpflanzung dem Baum nicht erlauben durfte, Früchte zu tragen, vielleicht sogar zwei Jahre. Wenn man die Knospen abschnitt, kehrte die Energie des Baumes in seine Wurzeln zurück, meinte er. Indem man diese Knospen opferte, garantierte man später stärkeres Wachstum. Ich musste ihm glauben. Doch bei jedem Schnitt, bei jeder kostbaren Knospe, die nutzlos zu Boden fiel, tat mir der Bauch weh, und ich überlegte, was mein Vater dazu gesagt hätte. Als es wieder anfing zu regnen, zunächst ganz leicht und nebelfein, dann aber heftig und hart, als würden Kiesel herabprasseln, schnitt ich einfach weiter, und meine Tränen mischten sich auf meinen Wangen mit dem Regen. Ich wandte mein Gesicht dem Himmel zu, mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen, als wollte ich mich ergeben, und ich ließ mich vom Schauer durchtränken.

In jener Nacht schlief ich wieder auf dem Sofa unter Ruby-Alice’ Quilts. Zwei von ihren kleinen Hunden lagen neben meinen Füßen, und zwei weitere hatten sich auf dem Boden neben mir in einem weißen Streifen Mondlicht zusammengerollt. Der älteste Hund war tagelang verschwunden gewesen, entweder hatte er sich verlaufen, oder er war von einem Kojoten erbeutet worden oder hatte sich einfach zum Sterben zurückgezogen, wie es alte Hunde oft tun. Ich überlegte, wie Ruby-Alice sich fühlen würde, und versuchte, dasselbe zu fühlen, so schweigend-stoisch in Bezug auf abgängige Viecher, wie sie zu allem stand. Dann fiel mir auf einmal der gefleckte Welpe wieder ein, den Wil mit seinen Zauberhänden gerettet hatte, und ich fragte mich, was aus ihm geworden war und warum es mir noch nie aufgefallen war, und auf einmal, völlig absurd, wurde ich vom Kummer um diesen Welpen, an den ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, vollkommen verzehrt. Ich drückte die Quilts an die Brust und weinte, während der Streifen Mondlicht Zentimeter für Zentimeter vom Boden über meinen ganzen Körper kroch. Als er mein Gesicht erreichte, machte ich die Augen zu, um nicht ins Licht schauen zu müssen, und ich beruhigte mich, denn ich wusste, dass meine Tränen nicht wirklich dem Welpen gegolten hatten.

In jener Nacht träumte ich, dass ich mit einem gewickelten Säugling im Arm eine lange, breite Straße entlangging. Mein linker Arm hielt das Baby unter seinem gepolsterten Hintern fest, den rechten Arm hatte ich um seinen Rücken gelegt, und meine Handfläche stützte sein seidiges Köpfchen an meiner Schulter. Sein Atem kitzelte mich am Hals wie eine winzige Feder. Ich wusste, dass ich das Kind irgendwohin bringen musste, dass sein Leben davon abhing, dorthin zu kommen, doch obwohl ich aufs Ziel zuhastete, hatte ich keine Ahnung, wo ich hinmusste. Ich lief weiter, verzweifelt eilte ich mit dem Baby nach irgendwo im Nirgendwo. Plötzlich verloren meine Füße die Bodenhaftung. Ich spähte über das Bündel in meinem Arm, um meinen nächsten vorsichtigen Schritt zu beobachten, und dann wurde mir auf einmal klar, dass ich auf nichts lief. Der Boden unter meinen Füßen, die Erde, die doch eigentlich solide und sicher sein sollte, war auf einmal porös geworden, ohne jedes bisschen Licht und Substanz. Mein Herz klopfte heftig. Ich musste weitergehen. Vorsichtig machte ich den nächsten Schritt, als würde ich auf Eis treten, bei dem ich befürchten musste, dass es mein Gewicht nicht tragen konnte, aber ich musste! Ich fasste das Baby fester, das darauf vertraute, dass ich nicht hinfiel. Und dann rutschte ich aus, und wir fielen gemeinsam in die bodenlose Dunkelheit. Herumwirbelnd und immer tiefer sinkend, umklammerte ich es mit aller Kraft. Doch die Kraft, die an ihm zog, war einfach zu stark. Genau in dem Moment, als es mir aus den Armen gerissen wurde, schreckte ich aus dem Schlaf hoch.

Schwitzend und zitternd sprang ich vom Sofa auf und lief nervös im Kreis. Selbstverständlich hatte ich auch schon früher von Baby Blue geträumt, Dutzende von Malen in den Jahren seit seiner Geburt, aber nur selten so grauenvoll. Das Nirgendwo dieses Traumes verstörte mich genauso wie mein Loslassen.

Ich zog mir eine Jacke über mein Nachthemd. Als ich in den Garten hinaustrat, verstummten die Nachttiere. In der kühlen Luft lag der Duft von nasser Erde. Ein heller Halbmond schob sich langsam, aber sicher auf die westlichen Hügel zu. Ich stand eine Weile da und schaute auf die schattige Landschaft. Als mir Wil zum ersten Mal begegnete, konnte ich nicht verstehen, warum er behauptete, ein Ort sei genauso gut wie jeder andere. Ich glaubte ihm nicht, dass er das wirklich dachte – weder damals, als er es sagte, noch heute. Aber jetzt verstand ich, was er gemeint haben könnte: Wenn einen kein Ort aufnehmen will, wird einem jeder Aufenthaltsort zum Nirgendwo, und jeder Boden wird so unsicher wie der in meinem Angsttraum.

Als die Spitze des Mondes jenseits des Horizonts verschwand und der Himmel schwarz und sternenbesprüht aussah, kniete ich mich ins feuchte Gras und bat das Land um seinen Segen. Ich wollte mir hier ein Zuhause schaffen, für mich und meine Bäume. Zum Ausgleich gelobte ich, dass ich dieses Fleckchen Erde lieben und pflegen würde bis ans Ende meiner Tage. Während ich auf irgendeine Art von Antwort wartete, fügte ich meiner Bitte schnell noch hinzu, was ich mir am meisten von allem wünschte, aber mir nie erlaubt hatte einzugestehen: dass, wenn mein Kind durch irgendein Wunder des Schicksals zu mir zurückkäme, dieses Land und ich es gemeinsam ernähren würden, ihm beibringen, dass eben nicht gleichgültig ist, an welchem Ort man lebt, dass dieses kleine Fleckchen in der weiten, unbekannten Welt der Ort war, wo man uns akzeptierte.

Die ganzen nächtlichen Geräusche, die verstummt waren, als ich in die Dunkelheit hinausgetreten war, setzten genau in diesem Moment wieder ein – das Grillenzirpen und das an- und abschwellende Lied der Laubheuschrecken, die Frösche, die aus dem nassen Schilf tönten, der hohle Ruf einer Eule in der Ferne –, und als ich so dastand, deutete ich diesen Chor als eine Annahme meines Angebots oder zumindest – so wollte ich glauben – ein Vielleicht.

Ein lautes Klopfen und bellende Hunde rissen mich aus tiefem Schlaf. Ich brauchte eine Weile, um vom Sofa aufzustehen und die Haustür zu finden. Ich hatte noch keine Spiegel aufgehängt, aber ich war sicher, dass ich nach dieser unruhigen Nacht ziemlich fertig aussah. Ich wischte mir über die geschwollenen Augen und steckte mir das Haar mit einer Spange fest, bevor ich zur Tür ging. Doch dann merkte ich, dass ich immer noch mein Nachthemd mit den zwei getrockneten Grasflecken auf den Knien anhatte, und machte kehrt, um mir schnell die Hose und den Pullover anzuziehen, die ich am Vorabend auf den Boden gelegt hatte. Als ich die Tür aufmachte, traf mich die grelle Morgensonne wie ein Böller ins Gesicht. Ich wich zurück und blinzelte, während ich den großen, dunklen Schatten auf der Veranda betrachtete.

»Miss Nash?«, fragte ein Bariton, in dem ich den Makler wiedererkannte, mit dem ich schon oft telefoniert und dem ich unterschriebene Papiere mit der Post geschickt hatte, dem ich jedoch nie persönlich begegnet war.

»Ja«, erwiderte ich heiser.

»Ed Cooper«, sagte er, machte einen Schritt nach vorn und streckte mir die Hand hin. »Ich bin Ihr Makler. Tut mir furchtbar leid – hab ich Sie geweckt?«

Soviel ich wusste, schlief niemand in einer bäuerlichen Gegend länger als bis sechs Uhr, und jetzt war es schon gut nach neun, dem Stand der Sonne nach zu urteilen. Ich wollte mich schon entschuldigen für mein zerzaustes Aussehen, aber seine blassblauen Augen schauten so freundlich und unbekümmert, dass ich beschloss, ihn einfach auf eine Tasse Kaffee hereinzubitten.

»Sie haben nichts für die Betten übrig, die Mrs. Harding hiergelassen hat?«, fragte er mich, als er am Sofa vorbeiging, auf dem Quilts und Kissen und mein schmutziges Nachthemd lagen.

»Noch nicht«, erwiderte ich.

Er kicherte, als ob er nicht sicher wäre, wie ich das gemeint hatte, es aber trotzdem lustig fände.

Ich stellte den Wasserkessel auf und entschuldigte mich für die nicht vorhandenen Stühle. Er zuckte mit den Schultern, lehnte sich mit einer Schulter an die Küchenwand und fragte, wie ich so zurechtkäme. Er trug ein Hemd mit weißem Kragen, eine schwarze Hose und spitze schwarze Schuhe, die ihre Glanzzeiten schon hinter sich hatten. Sein größtenteils graues Haar passte nicht zu seinem jugendlichen Gesicht und Verhalten. Seine Armbanduhr und sein Ehering waren aus demselben glänzenden Gold wie die zwei Füllfederhalter in seiner Brusttasche.

»Ganz gut«, erwiderte ich wenig überzeugend.

»Wissen Sie, es braucht eine Weile, bis man sich an einem neuen Ort eingewöhnt hat«, versicherte er mir. »Haben Sie irgendwelche Fragen?«

»Ja, ein paar«, sagte ich und löffelte Kaffeepulver in die Kanne. »Ich hab über die Leute nachgedacht, die diese Farm verkauft haben. Warum sind sie gegangen?«

»Ach, das ist wirklich eine traurige Geschichte«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nette Leute. Sie haben verschiedene Apfelsorten angebaut. Bisschen Zuckermais. Aber dann kamen lauter Schicksalsschläge, wissen Sie? Ihr Sohn ist im Krieg gefallen, und dann ist ihre Tochter mit einem mexikanischen Hilfsarbeiter durchgebrannt, und können Sie sich noch an die Dürre 1949 erinnern? Da hat Mr. Harding angefangen zu trinken. Sie haben fast alles verloren in jenem Jahr, die Bäume sind einfach verschrumpelt.« Ed sagte, dass Mr. Harding versucht hatte, sich danach in einem Kohlebergwerk zu verdingen, oben im Tal, in Somerset. Und am Ende starb er an einem Herzinfarkt in einem der Bergwerksschächte. Mrs. Harding kellnerte im Diner und arbeitete hinter dem Tresen bei Hays, aber irgendwann konnte sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen.

»Lila heißt sie«, sagte Ed. »Netteste Frau, die Sie jemals kennengelernt haben.«

Ich goss den Kaffee in zwei weiße Becher und reichte ihm einen. Er nahm ihn mit einem Nicken entgegen.

»Und was ist mit dem Land passiert?«, fragte ich.

»Oh, das ist zugewuchert, war zu nichts mehr zu gebrauchen. Können Sie sich so was vorstellen? In dieser Gegend hier? Hätte vielleicht noch gerettet werden können, wenn sie ihm ein bisschen Pflege hätten angedeihen lassen oder um Hilfe gebeten hätten. Dieser Freund von Ihnen, dieser Wissenschaftler? Der Professor, verdammt will ich sein, der rief mich am selben Tag an, als Lila Harding in mein Büro kam und mir unter Tränen sagte, dass sie die Farm verkaufen musste.«

Wir legten beide eine kurze Schweigepause ein und nippten an unseren Kaffees.

»Was Sie und der Professor hier gemacht haben, ist wirklich toll«, sagte er und deutete zum Fenster.

Ich lächelte höflich und erwiderte: »Ich werd mein Bestes tun. Wenn das Land mich hier duldet.«

»Na ja, die Hardings waren nicht die Ersten, die von Kummer und den Launen des Wetters erledigt wurden. Ich wünsche Ihnen und Ihren Pfirsichen mehr Glück.«

»Darauf trinken wir«, sagte ich.

Wir stießen mit unseren Bechern an, und ich fragte mich, an welchem Tag, in welcher Stunde das Glück der Hardings sich gewendet hatte und ob meines, nach so viel Mühen und Verlusten, sich jetzt in die umgekehrte Richtung drehen würde. Ich stellte mir vor, wie ich mitten in der Nacht im nassen Gras auf die Knie gefallen war und um eine Chance gebeten hatte.

Ed fuhr fort mit Einzelheiten über die Stadt und ihre Umgebung, von denen mich einige gar nicht interessierten, wie Klatsch über meine Nachbarn oder wo man den besten Burger beziehungsweise die attraktivsten Junggesellen der Stadt finden konnte. Doch andere Informationen stellten sich als durchaus nützlich heraus – woher die Bahnlinien kamen und wo sie hinführten, wo man die besten Verkaufsstände fand und wo der Bauernmarkt am Dienstag stattfand, welcher Installateur sich meine Bewässerungskanäle genauer ansehen konnte, welcher Mechaniker den alten Traktor reparieren konnte, der hinter der Scheune vor sich hin rostete, und wen ich anrufen musste, wenn mein Bewässerungsgraben im Frühjahr verstopft war oder im Herbst austrocknete.

»Dieser Fluss hier, aus dem sich mein Graben speist«, sagte ich und merkte, dass ich zum ersten Mal etwas hier als meines bezeichnete, »der heißt doch North Fork, oder?«

Er nickte.

»Und von welchem Fluss ist er die nördliche Abzweigung?«

»Na, selbstverständlich die nördliche Abzweigung des Gunnison River«, sagte er.

»Des Gunnison River?« Ich wollte meinen Ohren nicht trauen.

»Natürlich. Gleich nachdem der Gunnison River durch den Black Canyon geflossen ist, geht die nördliche Abzweigung ab und fließt bei Roger’s Mesa hinein.« Er legte seine Hände flach in Form eines V aneinander, um die Stelle zu illustrieren, an der die beiden Gewässer sich vereinigten, dann zeigte er nach Süden. »Ungefähr fünfzehn Meilen das Tal runter.« Dann kicherte er. »Tja, dasselbe Gunnison-Wasser fließt zuerst direkt durch Iola. Also kennen Sie es gut.«

»Ja, allerdings«, sagte ich.

Er meinte das als Trost, und so nahm ich es auch an, doch meine Gefühle gegenüber dem Gunnison River waren so turbulent geworden wie der Fluss selbst. Ich stellte mir seinen Verlauf vor, von seinem Quellgebiet oben im Tal in Almont, wo mein Vater und Seth immer die Rinder von den Weiden heruntergetrieben hatten, durch die Stadt Gunnison und Iola und meine alte Heimat hindurch, vorbei am Zusammenfluss mit dem Big Blue Creek, wo immer noch meine Tränen um mein Baby flossen, und dann hatte er sich durch den Black Canyon gegraben, wo mein Wil sein tragisches Grab gefunden hatte. Die Länge dieses großen Flusses erzählte meine ganze Geschichte. Ich empfand gleich viel Liebe und Qual angesichts seines geschlängelten Weges und Furcht, dass er mir bis hierher gefolgt war.

Ed trank seinen Kaffee aus und stellte seinen Becher auf die Arbeitsplatte. Als ich ihn zur Haustür begleitete und er in die Sonne hinaustrat, erklärte er, dass ich mich nicht als Fremde fühlen sollte, dass seine Frau Zelda mit Vornamen hieß und er sich wünschte, dass ich sie kennenlernte.

»Übrigens findet diesen Samstag eine Haushaltsauflösung bei den Walkers statt, die ziehen nämlich auch um. Einfach hier die Dry Gulch Road runter«, sagte er und zeigte von der Veranda.

»Besorgen Sie sich ein paar Möbel, und bleiben Sie ein Weilchen, Miss Nash.« Er zwinkerte mir freundlich zu und fügte dann hinzu: »Keine Sorge, die Walkers haben keine traurige Geschichte. Sie sind aus der Stadt hergezogen und wollen wieder zurück. Das muss man sich mal vorstellen!«

»Das muss man sich mal vorstellen«, echote ich mit einem Lächeln.

Ich legte die rosa Quilts auf dem Sofa zusammen und dachte daran, was Ed mir von dem komplizierten Leben der Leute erzählt hatte, die vorher auf dieser alten Farm gelebt hatten. Ich dachte an den Sohn, der den Frieden der Farm gegen die Hölle des Krieges eingetauscht hatte, und die Tochter, die mit einer verbotenen Liebe geflohen sein musste, wenn ich das richtig verstanden hatte. Ich bin sicher, dass man den Jungen als Helden betrachtet hatte und die Tochter als eine Abtrünnige, aber dieselbe wilde Kühnheit, aus dieser Haustür herauszutreten, hatte sie beide irgendwo anders hingetrieben. Ich dachte an Mr. Harding, wie er seinen Schmerz im Alkohol ertränkte, und an Lila Harding, der das Herz jeden Tag ein bisschen mehr brach. Und ich dachte an meine eigene Ruhelosigkeit seit meiner Ankunft und wie sehr ich Ruby-Alice ähnelte, wenn ich Nacht um Nacht auf dem Sofa schlief.

Als hätte sich meine Entscheidung plötzlich herauskristallisiert, hob ich die zusammengelegten Quilts hoch, ging die Treppe hoch und legte sie auf ein Regalbrett im Flurschrank. Dann nahm ich ein Bad, zog mir ein anständiges Kleid an und stieg in den alten Wagen, um zu Hays Variety zu fahren und mir zum ersten Mal in meinem ganzen Leben nagelneues Bettzeug zu kaufen.

Als ich wiederkam, suchte ich mir mein Schlafzimmer aus und kam zu dem Schluss, dass mir das Zimmer im Obergeschoss, dessen Fenster auf den Obstgarten hinausgingen, am besten gefiel. Ich bezog das breite Bett mit den frischen, neuen Laken, einer himmelblauen Baumwolldecke und einem dazu passenden blauen Bettüberwurf aus Chenille, für dessen Auswahl ich eine halbe Stunde gebraucht hatte. Ich bezog meine vier dicken Kissen, die ich mir als letzte Extravaganz noch gegönnt hatte, mit weißen Bezügen und lehnte sie gegen das Kopfteil aus Eichenholz. Dann trat ich einen Schritt zurück und bewunderte mein neues Schlafzimmer. Wil hatte mich immer gerne damit geneckt, dass mein Name zu einer Königin passen würde. Ich lächelte und sagte, er solle gut hinschauen, denn jetzt hätte ich auch ein standesgemäßes Schlafzimmer. Als ich auf der Kante meiner Matratze saß, starrte ich zum Fenster hinaus. Meine langsam grünenden Bäume standen in engen, perfekten Reihen. Dahinter konnte ich bis zum Stacheldrahtzaun und dem silbernen Metalltor schauen, die an der hinteren Grenze meines Grundstücks verliefen, und dahinter wiederum die wachsende Heuwiese eines Nachbarn und in der Ferne der North Fork River, der glitzernd und geschwollen vom Schmelzwasser aus den Bergen dahinfloss.

Ich kaufte mir Möbel von der Haushaltsauflösung, die Ed Cooper mir empfohlen hatte, und arrangierte sie nach meinem Geschmack. Ich suchte mir bei Hays einen gestreiften Stoff mit kleinen Sonnenblumen aus und nähte mir daraus Vorhänge für Küche und Schlafzimmer. Ich schnitt jede Knospe von meinen Bäumen ab, goss und pflegte sie und machte dabei auch mir selbst Mut.

Und mittendrin in meinem langsamen Fußfassen begann ich allwöchentlich das Tal hinunterzufahren, immer am Ufer des North Fork River entlang, bis zu der Stelle, an der er sich mit dem Gunnison River bei Roger’s Mesa vereinigte. Ich ging den Pfad durch das Salbeigestrüpp und die Wildblumen und Weiden, dann zog ich meine Schuhe aus und krempelte meine Hosenbeine hoch und watete in den kalten, reißenden Fluss, bis ich genau an der Stelle stand, wo die beiden Flüsse zusammenkamen und einen einzigen bildeten. Das Dröhnen, das die beiden beim Zusammenfließen machten, löschte jedes andere Geräusch aus, außer dieses einen ihrer uralten Unterhaltung. Ich krümmte meine Zehen um die glitschigen Steine unter meinen Füßen und musste gegen die Strömung das Gleichgewicht halten, und dann schloss ich meine Augen und lauschte. Ich kann nicht genau sagen, was dieses klare Wasser mir mitteilte. Ich weiß nur, dass es mir die reine Wahrheit sagte.

Eines Tages im Spätsommer desselben Jahres saß ich am Ufer der Stelle, an der die beiden Flüsse sich zu einem vereinigten, und ließ meine Beine von der Sonne wärmen. Wil hatte mich oft ermuntert, mich ganz zurückzulegen, statt zu sitzen, auf diese Art meinen ganzen Körper auf dem Boden zu spüren und in den Himmel zu blicken, und genau das tat ich an jenem Tag, einfach um des Vergnügens willen, die Welt in mich aufzunehmen. Ich hatte das Gefühl, die Vibration der Flüsse und der Felsen und des perfekt blauen Himmels und der geschäftigen Insekten spüren zu können, und als ich aufstand, fühlte ich mich gestärkt und selbstsicher. Ich ging den Pfad wieder zurück und stieg in den alten Pick-up. Bevor ich merkte, was ich tat, ertappte ich mich dabei, wie ich nach Iola fuhr. Ich wusste erst nicht, was für unerledigte Angelegenheiten mich dorthin zurückzogen, bis die kilometerlangen, mit Salbeigestrüpp bewachsenen Hügel sich zum Gunnison Valley öffneten und ich merkte, dass ich nicht nach Hause fuhr.

Stattdessen fuhr ich vom Highway 50 ab auf die Kiesstraße, die parallel zum Big Blue Creek verlief. Der Pick-up quälte sich stöhnend den Hügel hinauf, den ich einst als halb verhungerte, benommene junge Frau heruntergestolpert war. Ich kehrte zum ersten Mal an den Ort zurück, an dem ich mein Baby abgelegt hatte. Ich wusste nicht, was ich dort zu finden hoffte. Höchstwahrscheinlich das Nichts dieses Ortes, die absolute Leere dieses Ortes, an dem ich ihn so sehnlichst gern gesehen hätte, wie er auf mich wartete – wobei ich natürlich wusste, dass ich ihn dort nicht finden würde.

Ich wollte ihm sagen, dass ich jetzt bereit für ihn war. Ich wollte ihm sagen, dass ich den Schmerz des Entwurzeltseins kannte und wie leid – wie unglaublich, unermesslich, grenzenlos leid – es mir tat, ihn weggegeben zu haben, aber dass ich einfach keine andere Möglichkeit gewusst hatte, ihn zu retten.

Der Kiesweg führte zu einer schmalen, unbefestigten Straße, beide steiler und länger, als ich sie in Erinnerung hatte, und die Straße erhob sich aus Salbei- und Eichengestrüpp und schlängelte sich durch den dichten Wald. Es verschlug mir einen Moment den Atem, als ich die Lichtung wiedererkannte. Ich brachte den Pick-up am Straßenrand zum Stehen, wo damals das lange schwarze Auto geparkt hatte, und stieg dann genau auf denselben Boden aus, wo ich zum letzten Mal mein Kind in den Armen gehabt hatte. Ich kreuzte meine Hände über meinem Herzen, als müsste ich es in meinem Brustkorb festhalten, und ging über die Lichtung zu dem umgefallenen Baumstamm, wo ich immer noch so deutlich wie damals die Frau sah, wie sie ihren Säugling stillte. Stare zwitscherten auf demselben Kiefernast, auf dem die beiden Diademhäher über ihrem Mann und seinem lang gezogenen Kringel aus Zigarettenrauch gekeckert hatten. Der Baum warf einen breiten Schatten auf die Stelle, wo sie ihr Picknick auf einer roten Decke ausgebreitet hatten. Ich setzte mich auf den Baumstamm an die Stelle, an der die andere Mutter gesessen war, und weinte.

Ich kann die Gefühle, die ich an jenem Tag empfand, nur mit denen von der Geburt selbst vergleichen, diese animalische Entfesselung, dieses grobe Hineingestoßensein in etwas, was sich jeder eigenen Entscheidung und jedem gesunden Menschenverstand entzog, sodass meine Schluchzer zu abgerissenen Heulern anschwollen. Ich schlang die Arme um meinen Bauch und beugte mich vor. Ich umarmte das unnennbare Gewicht in meinem Inneren, das man einfach nicht erleichtern konnte, egal wie viel man weinte, und gleichzeitig diese Leere in meinem Schoß, die nur er füllen könnte. Ich schnappte nach der kühlen Bergluft, als wollte ich versuchen, ihn darin zu schmecken, und als meine Tränen langsam, aber sicher versiegten, machte ich meine Augen zu und lauschte, als könnte ich ihn in diesem stillen Wald hören.

Der Felsen, auf den mir die andere Mutter den Pfirsich gelegt hatte, stand am Rande der Lichtung. Er sah dem Gestein in der Umgebung gar nicht ähnlich – nicht rund und hell, sondern bronzefarben-orange und gezackt, mit drei schwarzen Streifen, die sich an seiner Vorderseite herunterzogen wie Klauenspuren. Er schien in zwei Hälften gespalten zu sein, und seine andere Hälfte war offenbar im Laufe der Jahrhunderte zermahlen oder abgetragen worden. Von all dem, was dieser Felsen erlebt hatte im Laufe der Zeit, nahmen sich meine Besuche an diesem Ort so verschwindend klein aus wie ein einziger Regentropfen. Und doch stand dieser Felsen für mich da als Denkmal und als Anker, als greifbarer Beweis, dass das, was hier im Sommer 1949 geschehen war, nicht bloß ein Traum gewesen war.

Zögernd näherte ich mich dem Stein, obwohl ich den Grund nicht hätte nennen können. Auf seiner flachen Oberfläche, die sich ungefähr auf Brusthöhe befand, lagen nur ein paar kupferfarbene Piniennadeln und ein glatter, runder Stein. Ich nahm den Stein und umschloss ihn mit meiner Hand, wobei ich an den Pfirsich von damals dachte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Felsen und schaute mich um. Leuchtend rosa Weidenröschen glühten im Nachmittagslicht. Singvögel, die von meinem Weinen verscheucht worden waren, kehrten wieder zurück auf die Zweige über mir. Ich schaute nach unten und bemerkte einen ganz ähnlich glatten Stein wie den, den ich in die Hand genommen hatte, und ich bückte mich, um ihn aufzuheben. Ein weiterer lag in der feuchten Erde daneben, und den hob ich ebenfalls auf.

Und in diesem Moment fasste ich den Entschluss, sechs glatte Steine zu sammeln und sie auf den Felsen zu legen, einen für jedes Jahr, das seit der Geburt meines Kindes vergangen war. Nächsten Sommer würde ich wiederkommen und einen weiteren hinzufügen, und dann den nächsten, und auf diese Art hätte ich eine Art Denkmal, einen Ort, wo ich ihn fühlen konnte, einen Altar, auf dem ich einen schlichten Geburtstagssegen für meinen Sohn darbringen konnte.

Ich betete, dass es ihm in jedem von diesen Jahren gut gegangen war, als ich die sechs Steine, einen nach dem anderen, zu einem perfekten Kreis anordnete.