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1970

W ährend die Zeit verging, verliebte ich mich immer mehr in die sommerlichen Sonnenaufgänge über meinem Obstgarten. Jeder Morgen, der damit begann, dass ich aus der Seitentür in die süße, taugesättigte Luft trat, in der der Duft von reifenden Pfirsichen, üppigem Boden und nächtlichem Regen lag, war für mich der Beginn eines guten Tages. Genau so ein Morgen dämmerte klar und golden Mitte August im Jahr 1970. Ich kurbelte die kühlen Metallzapfhähne auf, um den Obstgarten zu bewässern, dann griff ich mir einen Erntekorb und machte mich ans Pflücken. Die Ernte war durchweg drall, makellos und wunderbar süß.

Das Land und die Jahre hatten mich größtenteils freundlich behandelt. Greeney und ich hatten fast zehn Jahre gebraucht, um den umgepflanzten Bäumen wieder ihren vollen Ertrag und die alte Qualität zu entlocken, und genauso lange, aus den Ablegern ertragreiche neue Blöcke hochzuzüchten, doch irgendwann hatten wir einen Punkt erreicht, an dem auch Großvater Hollis und mein Vater stolz auf uns gewesen wären. Bis zu diesem Sommer gab es an jedem Stand in der Umgebung auch Nash-Pfirsiche, und treue Kunden kamen wieder mal kilometerweit gefahren. Greeney veröffentlichte Artikel und gewann Preise und eine Professur für seinen Anteil daran, und ich verbrachte meine Sonnenaufgänge im Spätsommer und Frühherbst wie als kleines Mädchen – beim Pfirsichpflücken.

Ich hatte meine alljährlichen Pilgerfahrten zur Lichtung fortgesetzt, doch hatte ich das Rätsel des pfirsichförmigen Steins nicht lösen können. Nachdem ich an jenem Frühlingsmorgen 1962 den Stein und die Fußspuren gefunden hatte, fuhr ich monatelang fast jede Woche hinaus, wobei ich hoffte, Hinweise auf eine Rückkehr der Besucher oder auf ihre Identität zu bekommen, doch ich fand nichts. Noch mehrere Jahre danach untersuchte ich die Ränder der Lichtung gründlich auf – was? –, auf jeden noch so mageren Hinweis auf sie. Einmal hatte ich sogar einen Zettel hingelegt, hatte hastig etwas auf ein Stück Papier gekritzelt, das ich im Pick-up gefunden hatte, aber wahrscheinlich war die Nachricht zu kurz oder zu vage und wahrscheinlich auch nur ungenügend gegen den Wind gesichert gewesen. Ich hatte einfach nur »Erzähl’s mir« draufgeschrieben. Immer noch nichts.

Irgendwann hörte ich auf, nach Hinweisen Ausschau zu halten, und gab die verzweifelte Idee auf, dass dieser runde Stein für mich dorthin gelegt worden war. Ich zwang mich zu glauben, dass es reichte, wenn ich auf dem Baumstamm an diesem stillen, heiligen Ort saß und einen weiteren Stein für meinen Sohn hinlegte. Der runde Stein hatte lange zu Hause auf meinem Bücherregal gelegen, nicht als Symbol der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit meinem verlorenen Kind, sondern als Warnung vor dummen Wünschen und den Streichen, die die Fantasie einem spielen kann, wenn man sich zu sehnlich wünscht, was man nicht haben kann.

Ich stellte bei jeder Ernte Hilfsarbeiter ein – ortsansässige Männer und ihre Söhne und Wanderarbeiter, die an meine Tür klopften –, und sie arbeiteten neben mir, um sicherzustellen, dass jeder Pfirsich genau auf der Höhe seiner Reife gepflückt und ausgeliefert wurde. An diesem einen Augustmorgen des Jahres 1970 ging ich weg, als die Erntehelfer eintrafen, und schlug den Weg zum Hühnerstall ein. Die Perlhühner huschten mir kreischend um die Füße, während ich ihnen ihr Futter ausstreute und einen Korb voll beige gefleckter Eier einsammelte. Zelda wollte zum Frühstück vorbeikommen. Sie hatte sich etwas bestellt, und ich kam nur zu gerne ihrem Wunsch nach: Rührei aus Perlhuhneiern mit Knoblauch und Spinat aus dem Garten, meine Pfirsich-Himbeer-Muffins und dazu Pfirsichschnitze, frisch gepflückt und mit Zimt bestreut.

Ed und Zelda waren die einzigen Leute, die ich im Tal kannte, die nichts von ihrem Essen selbst anbauten. Zelda sagte gerne, dass ihr Mann und sie zum Kaufen und Verkaufen von Grundstücken da seien, nicht um sie zu bebauen. Das war kein Scherz. Die Coopers machten sich grundsätzlich nie die Hände schmutzig, was die Zuneigung zwischen uns noch unerklärlicher machte. Doch ich hatte sie im Laufe der Jahre beide liebgewonnen, und Zelda war eine der größten Segnungen meines Lebens. Wir sahen uns nicht besonders oft. Ich war immer mit der Farm beschäftigt und genoss es, alleine durch den Wald oder am Flussufer entlangzuwandern, oder was immer mir sonst einfiel. Zelda ging Ed bei seinen Immobiliengeschäften zur Hand, verbrachte Zeit mit ihrer großen Familie unten in Hotchkiss und unternahm jede Woche Einkaufsbummel nach Grand Junction. Außerdem war sie eine unersättliche Leserin, und wenn wir uns trafen, hatte sie immer etwas Spannendes zu erzählen. Meistens brachte sie eine Ausgabe des Reader’s Digest oder der Time mit, und dann zeigte sie auf die Schlagzeilen und fasste die Artikel zusammen und erinnerte mich daran, dass es eine ruhelose Welt gab, die sich jenseits des North Fork Valley heftig bewegte.

An jenem Morgen redete Zelda mal wieder ununterbrochen, als wir uns zum Frühstück an meinen langen Kiefernholztisch setzten. Sie zeigte mir Artikel über Bürgerrechte und Hippies, die für irgendetwas demonstrierten, was sich »Tag der Erde« nannte, und die neueste Katastrophe in dem Land, das sie immer »dieses verfluchte Vietnam« nannte. Ich lernte gerne von Zelda. Was ich nicht so gerne mochte, war ihr anderes Lieblingsthema, nämlich Männer.

»Hat dich dieser reizende Imker angerufen?«, fragte sie. Die spätmorgendliche Sonne, die durchs Fenster fiel, ließ ihren blonden Pagenkopf leuchten wie ein Heiligenschein, doch ihre Hoffnungen für mich und den Imker waren nicht gerade engelhafter Natur.

»Ach, Zel«, seufzte ich. »Müssen wir immer darüber reden?«

Sie hatte es sich von Anfang an zum Ziel gesetzt, mein Desinteresse an der Männerwelt zu kurieren.

»Ja, allerdings.« Sie nickte stur und nahm sich einen noch warmen Muffin aus dem Brotkorb. »Hat er angerufen?«

»Ich will nicht mit ihm ausgehen«, erwiderte ich.

»Wer redet denn gleich von Ausgehen?« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu, dann biss sie in ihren Muffin und stöhnte vor Entzücken. »In Gottes Namen, Vi. Ich hab dich schon verstanden. Du bist nicht an einer Ehe interessiert. Hab ich kapiert. Aber jeder braucht doch mal ein bisschen … Honig … ab und zu.«

Sie lachte, und ich verdrehte die Augen.

»Also, worauf wartest du eigentlich?«, wollte sie wissen. »Dass Warren Beatty bei dir anklopft?«

»Definitiv nicht.« Ich schüttelte grinsend den Kopf.

»Aber worauf denn dann ?« Sie seufzte und ließ ihre Schultern in einer gespielt dramatischen Geste herabsacken. Doch dann nahmen ihre großen Augen einen ernsten Ausdruck an, der über unser Standardgeplänkel hinausging, und sie flehte mich an, ihr zu erklären, was mit mir los war. Doch ich brachte es nicht über mich.

Ich war schon oft in Versuchung gewesen, Zelda die Geschichte von Wilson Moon zu erzählen.

»Auf nichts«, sagte ich stattdessen. »Ich hab’s dir doch schon gesagt. Ich warte auf überhaupt nichts. Oder überhaupt niemand. Am allerwenigsten darauf, dass irgendein Imker mir seinen Honig gibt.«

Ich grinste, doch Zelda, die normalerweise so bereitwillig mitlachte, schon gar bei so einem schlüpfrigen Thema, behielt ihren ernsten Blick bei. Sie legte ihre Gabel auf den Teller und beugte sich zu mir vor.

»Was ist mit dir, Vi? Na komm schon«, drängte sie. »Warum willst du mir nicht sagen, warum du mit keinem Mann ausgehen magst?«

Wie hätte ich ihr erklären können, dass eine tragische erste Liebe im zarten Alter von siebzehn Jahren mich daran hinderte, jemals wieder einen anderen zu lieben?

»Jetzt lass uns endlich mal darüber reden«, sagte sie.

Doch ich konnte nur an die vielen Arten denken, wie ich Wil und unseren Sohn schon verraten hatte, und nur ein Leben ohne Mann garantierte, dass ich sie – oder irgendjemand anderen – nie wieder verraten würde. Mir war nur noch wichtig, was ich zu lieben wusste: das Land, die Bäume und die Pfirsiche.

»Hat dir irgend so ein Schwein wehgetan? Ist das der Grund?«, fragte Zelda und runzelte ihre gezupften Augenbrauen.

»Nein, nein«, erwiderte ich hastig. »Das ist es nicht. Es ist …« Ich wünschte mir so sehr, ihr alles erzählen zu können. Doch mein Geheimnis lag so tief in mir verschlossen, dass ich einfach nicht wusste, wie ich den Riegel aufmachen und es hervorholen sollte. Ich hatte keine Angst vor Zeldas Groll. Aber ich brachte die Worte immer noch nicht über die Lippen. Ich konnte ja mir schon kaum meine Vergangenheit erklären, ich wusste nur, dass ein schöner, junger Mann für mich gestorben war und dass unser Sohn irgendwo da draußen lebte, ohne zu wissen, wer er war oder woher er gekommen war.

»Es ist … was?« Sie wartete mit erwartungsvollem Blick.

»Es ist … nichts«, antwortete ich und ließ die Wahrheit wieder vorbeigehen wie ein schwebendes Samenkorn, das unfähig war, sich irgendwo festzusetzen.

»Bist du lesbisch?«, fragte sie, ohne jedes Urteil in ihrem Ton.

»Nein.«

»Stehst du am Ende auf deinen verrückten Wissenschaftlerfreund?«

»Auf Greeney? Du liebe Güte, nein.«

Greeney hatte mir über die Jahre immer wieder wertvolle Ratschläge gegeben, und ab und zu war er auch ein willkommener Besucher auf meiner Farm gewesen. Sein Privatleben hatte mich jedoch nie interessiert, und er hatte mir auch nie davon erzählt. Wir unterhielten uns über Baumwurzeln und Boden und Pilze und verkosteten gemeinsam Pfirsiche mit methodischer Genauigkeit.

»Dann bist du also mit deinem Obstgarten verheiratet, wie so eine Art Baumnonne?«, fragte sie ganz ohne Ironie.

»Nein.« Ich lächelte sie ausdruckslos an, wobei ich mir dachte, dass in ihren Worten durchaus ein Körnchen Wahrheit steckte.

Sie seufzte und aß ihr Rührei auf, während ich in die Küche ging, um noch mehr Pfirsiche aufzuschneiden.

»Also, keine Männer, keine Babys«, sagte sie, als ich wiederkam.

Mir fiel das Herz in die Hose. Über Männer konnte ich zumindest reden. Über Babys nicht.

Der Kreis auf dem Felsen zählte mittlerweile zwanzig Steine, so viele, dass ich ihn schon spiralförmig legen musste, ein langer Schwanz wie ein Schneckenhaus, das die ganze flache Oberfläche des Felsens umschloss.

Der graue, pfirsichförmige Stein, den ich vor Jahren in der Mitte des Kreises entdeckt hatte, lag auf dem Bücherregal, gleich hinter Zeldas Kopf.

»Und was ist mit dir?« Ich spielte den Ball an Zelda zurück. »Du hast nie erzählt, warum Ed und du keine Kinder habt. Ich hab mich das selbstverständlich immer gefragt. Aber ich wollte mich nicht einmischen.«

»Ach, Süße, ich würde doch niemals irgendetwas, was du mich fragst, als Einmischung betrachten«, sagte sie und wedelte meine absurde Aussage mit ihrer manikürten Hand beiseite. »Es ist vertrackt, ehrlich gesagt«, fuhr sie fort. »Dieser Körper sieht vielleicht toll aus …« Sie fuhr sich mit den Händen an den Seiten ihres orangen Minikleids entlang, als wäre ihre Figur ein Preis in einer Spielshow. »Aber er kann leider keine Babys machen.«

Sechs Mal, sagte sie. Sechs Schwangerschaften. Sechs verlorene Babys. Beim sechsten, erklärte sie mit herzzerreißend eingezogenem Kopf, hatte sie die Fehlgeburt in einem so späten Stadium erlitten, dass sie das winzige blaue Baby tatsächlich in der Hand gehalten hatte.

»O Gott, Zelda«, stöhnte ich, denn ich erinnerte mich nur zu gut daran, mit welchem Entsetzen ich mein eigenes lebloses Neugeborenes in der Hand gehalten hatte, um dann das schiere Wunder seines ersten heiseren Atemzugs mitzuerleben. Tränen traten mir in die Augen, die ebenso sehr auf die Erinnerung an meine Erleichterung zurückzuführen waren wie auf das Mitleid für meine Freundin.

»Ein Junge«, sagte sie ernst. »Wir haben ihm auch einen Namen gegeben. Joseph.« Sie schwieg. »Ich trage ihn – sie alle – genau hier.« Sie legte sich die Hand aufs Herz. »Eddie und ich, wir machen uns weiterhin ein schönes Leben. Aber es fehlt immer ein kleines Stück, weißt du?«

Ich wusste nur zu gut. Ich wischte mir über die Augen und hörte einfach nur zu.

»Du wirst mich für verrückt halten«, fuhr sie fort, »aber ich hab immer unser Wohnzimmer oder unseren Garten oder den Weihnachtsbaum angeschaut, bevor du kamst, und dann hab ich mir alle meine Kinder vorgestellt, wie sie rumalbern und sich balgen wie die Welpen.« Sie lächelte schwach, dann wedelte sie mit den Händen vorm Gesicht herum, um die Bilder zu verscheuchen. »Vielleicht bin ich wirklich verrückt«, lachte sie.

Ich hatte nie aufgehört, mir Wil und meinen Sohn in unserem Obstgarten vorzustellen, wie sie mir von den Seiten zulächelten oder sogar neben mir arbeiteten. Wenn sie verrückt war, dann war ich es auch.

»Weißt du, worüber ich auch nachdenke?«, sagte sie. »Mein Joseph wäre jetzt genau in dem Alter, in dem die ganzen Soldaten für Vietnam rekrutiert werden. Direkt aus dem Tal geholt. Ich sag dir eins: Wenn er immer noch meiner wäre, dann würde ich ihm bei der Flucht nach Kanada helfen oder eine Gefängnisstrafe riskieren oder die Hölle, um sicherzustellen, dass er da nicht hinmuss.« Sie schaute wehmütig aus dem Fenster, sah vielleicht ihren Sohn dort zwischen den Pappeln stehen und sagte: »Oh, ich hätte eine wütende Mama Bär abgegeben, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte.«

Ich beneidete Zelda Cooper um vieles – ihr Talent für Konversation, ihre Klugheit bei politischen Themen, ihre engen Familienbande, ihren Sinn für Mode, ihr lautes, unverfrorenes Lachen und, wenn ich ehrlich sein soll, auch um ihre großen, wasserblauen Augen mit den langen schwarzen Wimpern. Sie ihrerseits erwähnte oft, worum sie mich beneidete: Sie meinte, sie könnte nie alleine wohnen oder alleine im Wald spazieren gehen, so wie ich es tat, und sie könnte schon gar nicht mithalten, was mein Wissen über meine Plantage anging oder über den Garten oder die Küche. Ich wusste nicht viel über Freundschaft, aber ich glaube, in dieser Hinsicht waren wir wie die meisten guten Freundinnen – wir schätzten uns für unsere unterschiedlichen Eigenschaften, ohne jemals neidisch aufeinander zu sein. Doch an jenem Tag, als Zelda mit der Offenheit einer Frau sprach, die komplett mit ihrer eigenen problematischen Vergangenheit im Reinen ist, brach mir zwar das Herz für meine Freundin, aber hauptsächlich war ich eifersüchtig auf ihre ungefilterte Aufrichtigkeit, ihren kompletten Mangel an Selbstbezichtigung.

Vielleicht hätte ich es dann endlich gesagt, hätte ihr alles erzählt, wären wir nicht von einem Klopfen an der Tür unterbrochen worden.

Als ich aufmachte, stand Carlos mit seiner roten Werkzeugkiste vor mir. Er war groß, breitschultrig und gut aussehend, ein junger Mann von einundzwanzig Jahren und ein guter Zimmermann. Er kam immer vorbei, wenn er Geld brauchte, denn er wusste, dass ich immer ein paar kleine Arbeiten für ihn hatte.

Ich bat ihn herein, und er betrat die Küche auf seine stille, freundliche Art, um sich eine Weile zu uns zu setzen. Zelda plauderte mit ihm, während er drei Pfirsich-Muffins vertilgte und ihre Fragen mit Grinsen und Nicken beantwortete. Ich schaute ihm einfach nur zu, wie er aß und lächelte und sich mit seiner breiten, schwieligen Hand den schwarzen Pony aus der Stirn strich.

»Was wirst du machen, wenn du eingezogen wirst?«, fragte Zelda, bevor ich bemerkte, dass sie schon wieder über Vietnam sprach.

»Dann verkriech ich mich ins Hinterland«, erwiderte Carlos ohne Zögern durch einen Mundvoll Muffin. Er zeigte aus dem Fenster auf die weite Wildnis von West Elk. »Die Berge da kenn ich gut.«

Zelda nickte und umklammerte seine Schulter, als wollte sie ihn da festhalten, wo er saß.

»Guter Junge«, sagte sie.

Er war jung und naiv, und er hatte einen kühnen Plan, genauso wie ich damals.

Als ich Carlos zum Stall begleitete, um ihm den wegsackenden Stützbalken zu zeigen, der verstärkt werden musste, beugte er sich über seinen Werkzeugkasten, um sich gleich an die Arbeit zu machen. Doch ich konnte mich nicht losreißen, ich stand an der Stalltür und beobachtete ihn noch ein bisschen zu lange.

»Carlos?«, sagte ich schließlich. Er blickte auf. »Wenn du gehen musst, bitte komm noch mal bei mir vorbei, um dich zu verabschieden. Dann geb ich dir noch ein paar Gläser eingemachte Pfirsiche mit.«

Wenn ihn diese Bitte befremdete, war er zu höflich, um es zu zeigen.

»Ich werd’s versuchen.« Er nickte höflich – das war die Art eines jungen Mannes, mir mitzuteilen, dass er es wahrscheinlich nicht tun würde.

Mein Herz schmerzte, als ich die Stalltür hinter mir zuschob.

Aber dann machte ich sie doch wieder auf.

»Carlos?«, sagte ich noch einmal.

Er blickte mit seinen sanften, dunklen Augen auf.

»Was ich eigentlich sagen wollte, ist … ich werd dich rauffahren. Wenn du es brauchst, du weißt schon. Ich kenn diese Berge auch.«

Er lächelte und bedankte sich, und ich musste mich gewaltsam von ihm losreißen, mit einem schrecklichen, hohlen Gefühl im Bauch.

Als ich wieder ins Wohngebäude zurückkam, wusch Zelda gerade das Frühstücksgeschirr ab. Sie meinte, sie müsse Ed beim Abschluss eines Geschäfts zur Hand gehen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Vielmehr schien sie vor mir davonzulaufen. Ich dachte, ich müsste mich bei ihr für irgendetwas entschuldigen, aber ich hatte sie ja nie angelogen – ich hatte ihr bloß einige Dinge verschwiegen. Es gab nichts, was ich hätte zurücknehmen müssen.

»Tut mir leid«, sagte ich trotzdem.

»Was tut dir leid, Vi?«, fragte sie, womit sie mir eindeutig noch eine Gelegenheit geben wollte, aufrichtig zu ihr zu sein.

Ich war nicht sicher, wie ich antworten sollte. »Es tut mir leid, dass ich dich dazu genötigt habe, über deine Babys zu sprechen«, sagte ich dümmlich.

Der Blick, den sie mir zuwarf, war ebenso ungläubig wie mitleidig.

»Warum sollte ich nicht über sie sprechen wollen? Es sind doch meine Babys. Außerdem hast du mich zu überhaupt nichts genötigt . Ich hab dir das schon immer erzählen wollen. Ich war mir nur nicht sicher, ob dich das überhaupt kümmern würde. Wenn es jetzt natürlich Setzlinge gewesen wären …«, versuchte sie zu witzeln, aber ihr Lachen war zu schwach und ihre Worte zu wahr.

»Was auch immer du mir immer noch verschweigst«, fuhr sie fort, »ist deine Sache. Aber ich würde dir gern zweierlei sagen. Erstens, ich weiß, wie zäh du bist, dass du deine Bäume gerettet hast und diese Farm führst und so hart arbeitest und herumwanderst und alle anderen Dinge, die du ganz alleine machst. Aber deine Sorgen ganz alleine zu tragen, ist kein Zeichen von Stärke, Vi. Das ist schlicht und einfach eine Strafe. Was auch immer dir zugestoßen ist, du musst aufhören, dir die Schuld daran zu geben.«

Ich kam mir vor wie ein Kind, das zurechtgewiesen wird, und wollte einfach nur noch, dass sie ging.

»Und zweitens, ich hab hier gerade an deinem Tisch gesessen und beobachtet, wie du diesen Jungen Carlos mit den traurigsten Augen angeschaut hast, die ich jemals gesehen habe. Wann immer du bereit bist, mir zu erzählen, was da passiert ist, werde ich hier sein und dir zuhören.«

Ich wandte meinen Kopf ab, damit sie meine Augen nicht sehen konnte.

Sie küsste mich auf die Wange, bedankte sich fürs Frühstück und hielt auf dem Weg zur Tür noch einmal inne: »Und ich werde aufhören, dir Männer zuzuschanzen. Versprochen.«

Als ich hörte, wie Zeldas Wagen die Auffahrt hinunterfuhr, zog ich mich zum Pflücken in den Obstgarten zurück. Reihe um Reihe von perfekten Pfirsichen umgaben mich. Die Erntearbeiter pfiffen Lieder ganz oben auf ihren Ernteleitern und stellten die vollen Körbe an den Rand des Weges, der durch die Plantage führte, damit sie später vom Lieferwagen abgeholt werden konnten. Das Wasser floss durch die Bewässerungskanäle, und die Augustsonne schien warm und hell. Meine ganze Farm und mein Geschäft liefen wie ein Uhrwerk. Zweifellos warteten schon vor jedem meiner Stände in der Umgebung Schlangen von Kunden auf meine Früchte. Wie Zelda schon gesagt hatte, ich hatte tatsächlich bewiesen, dass ich zäh genug war, dieses Land alleine zu bewirtschaften, und das Land war so großzügig gewesen, mich zu dulden. Trotzdem. In meinen ehrlichsten Momenten wusste ich genau, dass Traurigkeit in jedem Blatt und jeder Wurzel und jedem Pfirsichkern steckte. Wil und unser Sohn saßen eben doch nicht wirklich am Rand des Obstgartens und lächelten mir zu oder arbeiteten neben mir, und daran würde auch noch so viel Vorstellungskraft nichts ändern.

Ich hatte dieses Jahr noch gar nicht meinen alljährlichen sommerlichen Besuch auf der Lichtung gemacht, weil ich mir immer einredete, dass ich mit diesem oder jenem zu viel zu tun hatte. Doch wenn ich ehrlich sein soll, hatte eine Art von Endgültigkeit mein Herz gepackt, als ich letzten Sommer den zwanzigsten Stein hingelegt und den Kreis betrachtet hatte. Ich hatte mich auf der Lichtung umgeschaut und mich gefragt, ob dieser Ort jetzt auch mit mir fertig war, nachdem der Kreis nun vollständig und mein Kind ein Mann geworden war. Nachdem ich durch meinen Morgen mit Zelda und Carlos aus dem Gleichgewicht gebracht worden war, zog die Lichtung mich jetzt magisch an, dass ich doch wieder kommen und diese Frage noch einmal stellen sollte.

Ein neuer blauer Ford Pick-up stand neben dem alten Pick-up meines Vaters in der Garage. Das verrostete Überbleibsel war heikel und unzuverlässig geworden, aber ich fuhr ihn trotzdem. Wenn das meine letzte Abrechnung mit der Lichtung werden sollte, war es nur recht und billig, dass ich mit dem alten Pick-up dorthin fuhr.

Viel von der langen Fahrt zurück zur Big Blue Wilderness war mittlerweile kaum noch wiederzuerkennen. Neue Kieswege und hastig zusammengezimmerte Unterkünfte für die Bauarbeiter zogen sich über die Hügel, auf denen es früher nur Salbeigestrüpp und Rinder gegeben hatte. Bagger und Bulldozer standen herum wie schlafende gelbe Drachen, nachdem sie ihren Schaden angerichtet hatten. Der umgeleitete Highway 50 stieg an und fiel ab und schlängelte sich hindurch, bis die hoch aufragende Masse aus Zement und Fels, die den Blue-Mesa-Damm bildete, wie eine breite Narbe zutage trat. Ich hatte die Bauarbeiten voranschreiten sehen, Stück um abstoßendes Stück, in vielen der letzten paar Sommer, wenn ich zur Lichtung gefahren war. Trotzdem schockierte mich die Realität dieses Staudamms immer wieder. Und dieses Jahr war es noch schlimmer, ich machte mich gefasst auf das, was ich auf der anderen Seite sehen musste: der weitläufige, blaue Stausee an der Stelle, wo früher Cebolla, Sapinero und Iola gestanden hatten, der abgewürgte, angeschwollene Gunnison River, der anderthalb Kilometer weit über sein ursprüngliches Ufer getreten war.

Vereinzelte Angler und ein paar picknickende Familien saßen am südlichen Ufer des Stausees und verwechselten die Landschaft mit Natur. Sie fanden den neuen See natürlich landschaftlich reizvoll, und ich hätte vielleicht auch so gedacht, wenn ich hier keine Geschichte gehabt hätte, kein Wissen um die Künstlichkeit dieser Anlage und den Ruin, der sich durch seine Tiefen zog. Ich tat mein Bestes, nicht hinzuschauen, als ich am Rand des Stausees vorbeifuhr, und war erleichtert, als ich auf die vertraute unbefestigte Straße abbiegen konnte, die zur Lichtung führte.

Der alte Pick-up arbeitete sich ächzend den langen Hügel hinauf und durch den Wald. Als ich schließlich an den Wegrand fuhr und ihn parkte, tätschelte ich das Armaturenbrett dankbar. Eine warme, süße Brise zog durch das offene Fenster, während ich die Lichtung vom Fahrersitz aus musterte. Irgendetwas am schonungslosen Licht des Nachmittags und den gezackten Schatten, die von der alten Kiefer geworfen wurden, fühlte sich seltsam schroff und abweisend an. So sicher, wie das Erwachen im Sommerschnee das Schicksal meines Babys besiegelt hatte oder das Öffnen meiner Tür für den Regierungsangestellten, der mir anbot, mein Land aufzukaufen, wusste ich auf den ersten Blick, dass nun die Zeit gekommen war, diesen Ort endgültig zu verlassen.

Und während sich diese Veränderung in meinem Herzen vollzog, sah ich es: Dort auf dem Felsen, in der Mitte des Steinkreises für meinen Sohn, genau dort, wo ich damals einen Pfirsich und später einen pfirsichförmigen Stein gefunden hatte, lag jetzt eine Plastiktüte unter einem flachen Stein, deren Ränder von der Brise bewegt wurden wie die Flügel eines festgehaltenen Vogels.

Ich stieg langsam aus dem Auto und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Mein Herz raste dahin wie ein Bach im Frühjahr, als ich mich dem Felsen näherte und einen dicken Stapel blassblaues Papier in der zugeklebten Tasche sah. Ich streckte eine zitternde Hand aus. Ich konnte mich erinnern, wie ich die Hand genauso ausgestreckt hatte, als ich zum ersten Mal an Ruby-Alice’ rosa Tür geklopft hatte, in dem festen Glauben, dass Wil mir aufmachen würde, und dann tat er es tatsächlich. Ich hob die Tüte hoch und wusste, dass auch dies hier wie das Aufmachen einer Tür war, das alles verändern würde.

Staub und Kiefernpollen wurden durch die Brise von der Tüte gewirbelt. Man konnte unmöglich abschätzen, ob der feine Überzug sich auf dem Plastik an einem Tag gebildet hatte oder über ein Jahr. Aber ich beschloss, dass das egal war. Sie war jetzt hier, und ich war auch hier.

Durch die Plastikfolie hindurch konnte ich eine verschlungene Schrift sehen, wie ein hastig hingekritzelter Brief. Als ich die erste Zeile las, schnürte sich mir die Kehle zusammen, und Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Es war kein Brief, sondern Tagebuchseiten. Schon bei den ersten Worten war mir klar geworden, dass diese Gabe wirklich für mich war und dass sie hier nicht von ihm hingelegt worden war, meinem Sohn, sondern von ihr, der anderen Mutter.

Ich wischte mir mit dem Saum meines T-Shirts über die Augen und las noch einmal die erste Zeile durch die Plastiktüte:

Als ich das Baby an meiner Brust hatte, habe ich Vogelstimmen gehört.

Ich sehnte mich ebenso sehr danach, die nächsten Worte zu lesen, wie ich mich vor jedem einzelnen fürchtete. Ich trug die Tüte zum Baumstamm und wartete eine Weile auf dem Fleck, wo ich immer saß – auf ihrem Platz –, bevor ich den Verschluss öffnete und die Seiten auf meinen Schoß herauszog.

Ein zusammengefaltetes halbes Blatt fiel aus der Tüte auf den Boden. Ich faltete es auseinander und sah eine Nachricht in derselben eiligen Handschrift. Dort stand einfach:

Waldmutter,

dies ist meine Geschichte. Zumindest ein Versuch. Ich dachte, dass ich das hier für mich selbst schreibe, um zu versuchen, mir einen Reim auf diese Geschehnisse zu machen und um mich zu erinnern. Aber das Loch in dieser Erzählung bist immer du gewesen.

Jetzt ist mir klar, dass ich das hier in Wirklichkeit für dich geschrieben habe. Um dir endlich alles zu erzählen, was du wissen musst.

Der Zettel war mit einem Namen unterschrieben – Inga Tate – gefolgt von einer Telefonnummer und einer Adresse, unten im Süden, in Durango.

Als ich die ersten paar Seiten las, war es, als würde ich jenen Augusttag im Jahr 1949 noch einmal durch eine Kristallkugel erleben – das Picknick auf einer roten Decke, die kreischenden Diademhäher, der Mann und die Zigarette, der Säugling, der in ihren Armen zappelte.

Sie hatte mein Baby gefunden, schrieb sie, ziemlich genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte – erst begannen seine Schreie das Vogelgezwitscher zu übertönen, dann rannte sie von dem umgefallenen Baumstamm zum Auto, wo sie ihn entdeckte. Ich weinte, als ich las, dass sie ihn unmittelbar und instinktiv an ihre Brust gezogen hatte, um ihn zu stillen. Und ich weinte wieder, als ich endlich den Namen meines Kindes erfuhr.

»Lukas«, flüsterte ich atemlos in den Wald und drückte die Seiten an meine Brust.

Dann ging ich wieder zurück zur ersten Seite. Ich holte tief Luft, um das Zittern meiner Hände in den Griff zu bekommen und meine Gedanken zu beruhigen, die sich drehten wie ein wildes Karussell. Dann begann ich wieder zu lesen.