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I ch legte die Seiten von Inga Tate auf den trockenen Boden neben dem Baumstamm und sicherte den Stapel mit einem Stein, damit die Blätter nicht vom Wind erfasst wurden. Ich stand auf. Mein Geist war immer noch zu voll, als dass ich einen klaren Gedanken hätte fassen können, mein Herz zu geschwollen und wund. Ich musste mich bewegen. Ich schaute hoch zum von Baumwipfeln gerahmten blauen Himmel, um mich zu vergewissern, und dann betrat ich den Wald.

Inga Tates Geschichte war zu viel – zu überraschend, zu traurig. Aber sie war auch zu wenig.

Sie hatte so viel enthüllt, aber sie konnte mir nicht sagen, wo mein Sohn war. Jetzt flehte mich diese Frau um Hilfe an, und ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte.

Auf einmal überwältigte mich der Unterschied zwischen der Sehnsucht nach meinem Sohn und seiner tatsächlichen Existenz. Er war jetzt keine Abstraktion mehr oder ein Wunsch, sondern ein trauriger junger Mann namens Lukas, der nicht wusste, woher er kam, und der Krieg führte gegen Feinde, die er unmöglich verstehen konnte. Und diese Inga war keine verschwommene Erinnerung oder eine Art Retterin, sondern eine trauernde Frau, die glaubte, dass etwas Verlorenes in mir wiedergefunden werden könnte.

Ich ging durch den Wald und dachte über das nach, was ich gerade erfahren hatte. Als ich wieder zur Lichtung zurückkam, stellte ich sie mir dort vor: Lukas, wie er als Zwölfjähriger durch die letzten Schneereste gegangen war, um den Kreis zu entdecken und seinen pfirsichförmigen Stein dazuzulegen. Und Inga, die Jahre später nach der Beerdigung ihres anderen Sohnes alleine zurückkam und ihre Worte unter einen Stein legte, in der schwachen Hoffnung, dass ich sie lesen würde.

Am gezackten Felsen legte ich meine beiden unruhigen Hände auf den Kreis und hoffte, dass die Jahre der Sehnsucht, die in jedem der sorgfältig hingelegten Steine steckten, mich anleiten würden, was ich als Nächstes tun sollte.