23

D rei Tage später schnitt ich gerade den Stauden-Lein in meinem Garten, als Zelda in ihrem weißen Buick die Auffahrt hochkam und mir aus dem offenen Fenster zuwinkte. Ich stellte die Leinblüten in eine Milchflasche und goss Wasser aus dem Zapfhahn des Regenfasses hinein, während sie parkte. Ich stellte die Blumen auf den Terrassentisch zwischen zwei Gläser eisgekühlte Limonade. Der Schatten der Pappeln und die duftende Katzenminze, die am Rand der gemauerten Terrasse wuchsen, nahmen der glühenden Augusthitze zwar die Spitze, aber ich schwitzte einfach vor Nervosität.

»Was ist das hier alles?«, fragte sie, als sie näher kam und die Arme für eine Umarmung ausbreitete.

»Bloß Limonade«, log ich und umarmte sie. Ich war so nervös wie ein schreckhafter Hase, und sie sah es mir an.

Sie setzte sich hin und nippte an ihrem Getränk, wobei sie mich über den Rand ihres Glases anschaute.

»Was ist los, Vi?«, fragte sie mit durchdringendem Blick.

Ich schluckte und schaute ihr direkt in die Augen.

»Also … es ist höchste Zeit, dass ich dir eine Geschichte erzähle«, brachte ich heraus.

Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich dasselbe tun konnte wie Inga Tate: meine Geschichte erzählen und um Hilfe bitten.

Sie sah mich erleichtert an. »Eine Geschichte.«

»Ja«, sagte ich und nestelte an den Blumen herum.

»Gut.« Sie nickte auf eine Art, die bestätigte, dass sie schon immer gewusst hatte, dass ich Geheimnisse hatte. »Bitte, erzähl sie mir.«

Ich holte tief Luft. Sie saß erwartungsvoll da, und ich hatte das Gefühl, gleich aus der Haut fahren zu müssen. Ich stand auf.

»Können wir dabei spazieren gehen?«, fragte ich.

Wir warfen beide einen Blick auf Zeldas Schuhe, die alles Mögliche hätten sein können – von spitzen Heels bis zu Overknee-Stiefeln. Die flachen Riemchensandalen, die perfekt zu ihrem gelben Sommerkleid passten, schienen geeignet für einen Spaziergang.

»Selbstverständlich«, sagte sie und stand ebenfalls auf.

Wir gingen schweigend in den heißen Sonnenschein hinaus, umrandeten den Obstgarten bis zu dem Kiesweg, der sich zur hinteren Grenze meines Grundstücks schlängelte. Ich wollte anfangen, brachte es aber einfach nicht über mich. Ich wartete, ob Zelda vielleicht die Stille mit Geplauder über irgendetwas füllen würde, was sie in den Nachrichten gelesen hatte, aber sie tat mir den Gefallen nicht. Als wir bei den hohen Sonnenblumen angekommen waren, die an meinem hinteren Zaun wuchsen, öffnete ich das Tor. Wir überquerten die Holzbrücke, die sich über den Sumpf spannte, und gingen dann weiter auf dem schattigen Pfad am Bewässerungsgraben entlang, der das Flusswasser an die benachbarten Farmen weiterverteilte. Ich wünschte, meine Geschichte wäre so leicht geflossen.

»Also …« Ich atmete schließlich aus und spürte, wie sich die Ränder meines altbekannten Universums ganz leicht anhoben. »Ich hätte dir das schon vor langer Zeit mal erzählen sollen. Verzeih mir, dass ich das nicht getan habe.«

»Ich soll dir verzeihen?« Zelda schüttelte den Kopf. »Werd nicht albern. Du versuchst es doch bloß hinauszuzögern, Vi.«

»Oh, meinst du?« Ich lachte. »Wie meine Mutter immer so schön gesagt hat: ›Hör jetzt auf mit dem Getrödel, Torie, und mach dich endlich dran.‹«

»Torie?«, fragte sie überrascht.

»Oh, als ich jung war, haben mich alle Torie genannt.«

»Das wusste ich gar nicht«, sagte sie. »Ich weiß noch, wie ich dich einmal gefragt hab, ob ich dich Vicky nennen dürfte, und du rundheraus gesagt hast: ›Ganz bestimmt nicht.‹«

Wir lachten, und das fühlte sich gut an.

»Ich war so froh, dass du das so empfunden hast«, fügte sie hinzu. »Du bist keine Vicky. Und auch keine Torie. Wann bist du zu Victoria gewechselt?«

Ein Chor von Rotschulterstärlingen in den Rohrkolben, die an der Drainageleitung wuchsen, sang mir Mut zu.

»Das ist ein Teil der Geschichte, die ich gerne erzählen würde«, sagte ich. Ich legte eine Pause ein, dann fand ich einen Weg, wie ich beginnen konnte, indem ich einfach sagte: »Es war einmal ein Junge.«

»Aha, wusste ich’s doch«, neckte sie, doch meine Art verriet ihr, dass das hier kein gewöhnlicher Junge gewesen war, über den man einfach seine Witze machen konnte.

»Ja, ein Junge«, seufzte ich. »Du wirst die Einzige sein, der ich jemals von ihm erzählt habe. Und alles andere, was danach kam. Aber ich muss beim Anfang beginnen. Ich hoffe, du kannst einfach nur zuhören.«

»Natürlich«, erwiderte sie.

»Er hieß Wilson Moon«, fuhr ich fort.

Wilson Moon. Der Name war mir über zwei Jahrzehnte nicht über die Lippen gekommen. Ihn einfach nur auszusprechen, erinnerte mich an diesen beglückenden Rausch der ersten Liebe, der immer noch sehr lebendig durch meine Adern pulste.

Als ich fertig erzählt hatte, waren wir anderthalb Kilometer am Bewässerungsgraben entlang und wieder zurück gegangen, hatten einen Korb Gemüse, das ich am Morgen aus dem Küchengarten geholt hatte, geputzt und geschält und uns eine Suppe zum Mittagessen aufgesetzt. Es alles im Detail wieder zu durchleben, war schwieriger und erschöpfender und – in vielerlei Hinsicht – viel großartiger, als ich vorher gedacht hatte.

Zelda lauschte aufmerksam jedem meiner Worte. Ihr Gesicht verriet, dass sie sich schwertat zu glauben, dieses Mädchen in der Geschichte – diese Torie – sei wirklich ich gewesen und dass die ganze Geschichte so viele Jahre in mir gesteckt hatte wie in einem fest verschlossenen Tagebuch. Sie legte sich mehrfach die Hand aufs Herz oder auf den Bauch, und als mir die Tränen kamen, nahm sie mich in die Arme. Sie hatte ja auch Verluste erlitten, wie unzählige Frauen vor uns. Sie wusste, dass ich das immer noch alles in meinem Körper fühlte, genauso wie sie in ihrem.

Am Ende, als ich, erstaunt über diese ganzen Enthüllungen, in der Suppe rührte, sagte ich: »Jetzt hab ich lange genug geredet. Sag mir, was du davon hältst.«

Mir drehte sich der Kopf von all den schrecklichen Bildern, die ich heraufbeschworen hatte, während ich ihre Reaktion vorherzusehen versuchte – das Bild von Wils blutigem Körper, der über die Kante eines Canyons geworfen worden war, von mir, schmutzig, ausgemergelt und desorientiert nach meiner Tortur in der Wildnis, wie ich mein Baby auf den Autorücksitz einer Fremden legte und davonstolperte.

»Du hast getan, was du tun musstest«, verkündete sie dann, mit der kompletten Aufrichtigkeit eines sorgfältig ausgesuchten Geschenks. Es war die freundlichste Antwort, die sie mir nur hätte geben können.

»Ich hab nie darüber sprechen können«, sagte ich.

»Hast du es deswegen geheim gehalten – aus einer Art Scham?«

»Wahrscheinlich«, gestand ich leise.

Zelda streckte die Hand nach mir aus, und wir nahmen uns in die Arme. Sie bestätigte mich in jeder Hinsicht, die ich brauchte. Doch ich war es so gewohnt, alles über Wil und meinen Sohn zu verschweigen, so routiniert darin, meinen Kummer nur mit der Lichtung und dem Fluss und dem Obstgarten zu teilen, dass ein Teil von mir sich am liebsten aus ihren Armen zurückgezogen hätte und weggerannt wäre, durch das Tor und über den Sumpf und dann immer noch weiter.

Als sie schließlich zurücktrat, ließ sie eine Hand auf meinem Arm ruhen und fragte: »Was ist mit Seth passiert? Ist er jemals gefasst worden? Angeklagt?«

Das letzte Mal, als ich Seth gesehen hatte, hatte ich ein Gewehr auf seinen Rücken gerichtet, als er mit hängendem Kopf von dem Zuhause wegging, in dem wir einmal eine Familie gewesen waren. Ob er versucht hatte, die Farm zu besetzen, oder unter Wasser gesetzt worden war, oder ob er sich selbst zu Tode getrunken hatte oder im Gefängnis oder im Paradies gelandet war … es war mir egal. Vor fünfzehn Jahren, als ich mit dem Pick-up meines Vaters zum ersten Mal auf dieses Stück Land gefahren war, hatte sich mein Leben geteilt: in Iola und die Zeit danach. Seth gehörte zu meinem vorherigen Leben. Er existierte einfach nicht mehr für mich. Es widerstrebte mir, überhaupt über ihn zu sprechen, aber ich brachte eine Antwort zustande.

»Tatsache war«, sagte ich, »dass damals keine Jury Davis oder Seth für den Mord an Wil verurteilt hätte, vor allem nachdem man ihn als Dieb hingestellt hatte.« Seths Name fühlte sich auf meiner Zunge so herb an, wie Wils Name süß schmeckte. Davis’ Name fühlte sich an wie das reine Gift. »Lyle, der Sheriff … er war ein guter Mann«, gelang es mir fortzufahren. »Er wusste, dass Gerechtigkeit geübt werden musste, auch wenn nur wenige außer ihm fanden, dass Wils Tod wirklich … etwas ausmachte. Doch er hat den Fall nicht weiter verfolgt. Natürlich gab es damals noch keine Bürgerrechte, zumindest nicht für Indianer, niemand scherte sich darum, was sie alles hatten erdulden müssen. Ist ja heute auch nicht viel anders. Das weißt du ja selbst.«

»Allerdings.« Zelda nickte und legte sich beide Hände aufs Herz. »Aber ich kenne nur die geschichtlichen Zusammenhänge beziehungsweise irgendeinen Bericht in den Nachrichten über ein weit entferntes Ereignis. Dass es wirklich so passiert, ist widerlich. Eine Farce. Wäre er bloß nach Hause gegangen, als du ihm gesagt hast, dass er gehen soll.«

Wil hatte mir nur einen kleinen Hinweis darauf gegeben, wo dieses Zuhause vielleicht liegen könnte – er hatte einmal nach Südwesten gedeutet und gesagt: »Ihr nennt es Vier Ecken.« Ich hatte davon gehört – das war der Punkt, an dem Colorado, New Mexico, Arizona und Utah zusammenstießen. Touristen stellten sich auf die gekreuzten Linien auf einem Messingschild, um alle vier Staaten gleichzeitig zu berühren – ich hatte diese Region nie irgendwie benannt und war zu naiv, um zu begreifen, was er mit ihr meinte. Als ich ihn fragte, ob er es vermisste, antwortete er nur: »Land hat keine Ecken«, als wäre damit alles gesagt, was ich wissen musste.

»Er konnte nicht zurück«, sagte ich zu Zelda. »Ich weiß nicht, warum. Ich war noch ein Mädchen. Ich hatte keine Ahnung, was für einen Reim ich mir auf das Ganze machen sollte oder wie ich irgendetwas davon wiedergutmachen könnte.«

Ich rührte in geistesabwesenden Kreisen die Suppe um, immer noch verblüfft von der Scheinheiligkeit und dem Grauen, das man auf diesen unschuldigen jungen Mann losgelassen hatte.

»Und dann sind alle Bewohner von Iola verstreut worden, in ihre neuen Leben«, sagte ich. Es kam mir vor, als hätte ich einen Stein in der Kehle. »Es wurde alles ausgelöscht.«

Ich hob den Blick, schaute ihr in die Augen und flehte sie stumm an, das Thema Seth und den Mord an Wil fallen zu lassen, und das tat sie auch, aber nur aus Nettigkeit. Doch ich hatte den Verdacht, dass sie über das nachdachte, was sie gerade über Dr. Martin Luther King erfahren hatte, und dass ich es versäumt hatte, Wils Mörder anzuklagen, während sie erbittert für Gerechtigkeit gekämpft hätte, wäre Wil ihre große Liebe gewesen. Ich schnitt noch eine Karotte in Scheiben und gab sie zur Suppe dazu, um Zeit zu schinden, bis meine Stimme wieder fest klang.

Zelda räumte mir diese lange Pause ein, bevor sie mir die unvermeidliche Frage stellte, die ich einerseits fürchtete, aber auch hören wollte.

»Hast du jemals versucht, deinen Sohn zu finden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie zuckte zusammen. Natürlich war ihr meine Antwort unbegreiflich. »Darf ich fragen, warum?«

»Es war eine andere Zeit«, erklärte ich. »Es wäre unmöglich gewesen, ihn aufzuspüren.«

Sie nickte.

»Und selbst wenn ich ihn gefunden hätte – was hätte ich dann tun sollen?«, fuhr ich fort. »Ich konnte ihn ja schlecht seiner neuen Familie stehlen. Ich habe gewisse Entscheidungen getroffen. Ich musste darauf vertrauen, dass sie die richtigen waren und dass mein Weitermachen und das Erschaffen von alldem hier«, ich deutete auf mein Grundstück, »reichen würde.«

»Und? Reicht es?«, fragte sie sanft, aber ohne Angst zu haben, mich unter Druck zu setzen.

Ich blieb ihr die Antwort schuldig. Ich hatte mir so verzweifelt gewünscht, dass es reichen würde: meinen Vater pflegen, Ruby-Alice pflegen, die Bäume unserer Familie pflegen. Alles retten, was ich konnte, und mein Leben neu aufbauen mit dem Segen des Landes. Doch zu guter Letzt musste ich mir selbst eingestehen, dass es nicht reichte. Ich konnte nicht genug retten, um all das auszugleichen, was ich verloren hatte.

»Er ist dein Sohn«, sagte Zelda. »Irgendwo da draußen. Ich bin sicher, dass du dich noch immer fragst, wie er aussieht und wie er ist.«

Ich nickte, denn in den einundzwanzig Jahren war nicht ein Tag vergangen, an dem ich nicht an meinen Sohn gedacht hatte.

»Vi, wir müssen ihn finden«, sagte sie.

Ich wandte den Blick ab. Ein Teil von mir wollte alles wieder zurücknehmen, meine Geschichte tief in der festen Erde vergraben, wo sie in diesen ganzen Jahren wie ein Fossil geruht hatte.

Doch jetzt war die Zeit gekommen, um sich der Vergangenheit zu stellen und zuzugeben, dass ich nie wirklich zu Hause sein konnte, solange mein Sohn nicht da war. Genauso wenig wie er – das hatte mir Inga Tates Geschichte klargemacht. Ich dachte an den Tag zurück, an dem ich Abel aus seinem Stall geführt hatte und in die Berge aufgebrochen war, wohl wissend, dass ich Kräfte in Bewegung setzte und Konsequenzen auslöste, die man nie wieder rückgängig machen konnte. Mich Zeldas Fragen zu stellen und meinen nächsten Schritt zu beschließen, fühlte sich ganz ähnlich an. Ich musste nur noch einmal dieselbe Entschlossenheit aufbringen.

Ich ging von der Küche zum Esstisch, auf den ich Inga Tates Geschichte gelegt hatte. Dann ging ich zu Zelda zurück und hielt ihr die blassblauen Blätter hin. Ihre großen Augen weiteten sich noch mehr.

»Das hier hab ich mit einem Zettel gefunden«, sagte ich. »Vor ein paar Tagen, nachdem du bei mir zum Frühstück gewesen bist. Ich bin noch am gleichen Tag zur Lichtung rausgefahren. Und das hier lag auf meinem Steinkreis.«

Mit offenem Mund nahm sie die Blätter entgegen.

Ich rührte weiter die Suppe um, während sie anfing zu lesen. Auf einmal wurde mir vom Geruch der Suppe richtig übel.

»Das ist von …«, begann sie.

»Ihr«, bestätigte ich.

»O mein Gott«, hauchte Zelda, während sie fieberhaft die Seiten überflog. »Dann hast du also schon mit ihr gesprochen?«

»Nein«, gab ich zu.

»Warum nicht?«

Das war die Frage, die ich mir schon seit drei ruhelosen Tagen und drei schlaflosen Nächte gestellt hatte. Keine Mitternachtsspaziergänge im Obstgarten und keine Frage an den zunehmenden Mond hatten mir eine Antwort geben können. Jede Entscheidung ab dem Tag, als ich zum ersten Mal meinen kleinen Jungen in meinem Schoß flattern spürte, hatte mir bis dahin ungenutzten Mut abverlangt. Ich hatte so viel riskiert und so viele Hindernisse überwunden, doch Inga Tates Geschichte hatte mir vor Augen geführt, dass auch hart erkämpfter Mut nicht grenzenlos ist.

»Er ist jetzt erwachsen«, versuchte ich einzuwenden. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine Frau akzeptieren würde, die plötzlich aus dem Nichts auftaucht und behauptet, seine Mutter zu sein. Ich habe kein Recht dazu.«

»Du hast alles Recht dazu«, entgegnete Zelda.

»Ich kann sein Leben doch nicht so auf den Kopf stellen. Das wäre nicht fair.« Meine Worte waren total falsch, aber ich musste sie laut sagen, damit sie vom verdutzten Gesicht meiner Freundin abprallten und zu mir zurückkamen.

»Wenn du ihn weiter durchs Leben gehen lässt, ohne ihm zu sagen, warum er die Hände gewechselt hat – das wäre nicht fair«, sagte sie. Sie konnte ihre Erbitterung nicht mehr zügeln.

»Er hat nicht die Hände gewechselt , Zelda. Er war kein Stück Vieh«, schoss ich zurück.

Sie ließ sich nicht im Geringsten von meiner Abwehrhaltung beeindrucken und warf in einer entgeisterten Geste die Arme seitlich hoch. Ich erprobte an ihr meine Entschlossenheit – an jemand, der in der Lage war, die volle Wahrheit zu hören und mit der vollen Wahrheit zu antworten –, und das wusste sie auch.

»Und was ist mit dem, was du brauchst, Vi? Hier geht es genauso gut um dich wie um ihn.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Frauen erdulden. Das ist unsere Aufgabe.«

»So ein Unfug«, gab sie zurück und klang gröber, als ich erwartet hatte. »Eine Frau ist mehr als ein Gefäß für Babys und Kummer.«

»Und was soll das heißen, Zelda?«

»Das soll heißen, dass du es verdient hast, einen Sohn zu haben.«

»Nicht mehr, als du verdient hättest, deine Kinder zu haben.«

»Oh, ich habe es verdient, meine Kinder zu haben. Das wollen wir mal klarstellen. Jedes einzelne von ihnen«, hielt sie dagegen. »Verlust hat aber nichts damit zu tun, was man verdient oder nicht verdient hat, in Gottes Namen.«

Ich hatte keine Ahnung, wie ich sicher sein konnte, dass ich etwas Besseres verdient hatte. Ich kannte nichts anderes als Ertragen.

»Du hast Angst«, sagte Zelda unverblümt, und ich fühlte mich gefangen in einer Falle, die ich mir selbst gestellt hatte.

»Natürlich hab ich Angst«, sagte ich, während meine Augen von unterdrückten Tränen brannten. »Ich wüsste nicht, wie sich das vermeiden ließe.«

»Wenn du das glaubst, dann hast du nicht so gut zugehört wie ich, als du mir deine Geschichte erzählt hast«, sagte sie.

Zelda ging, nachdem sie mir versichert hatte, dass sie mir helfen würde, den nächsten Schritt zu tun, wenn ich dazu bereit war. Jetzt musste ich mich erst mal hinlegen. Ich nahm Ingas Geschichte mit nach oben in mein Schlafzimmer, um sie noch einmal zu lesen. Aber dann legte ich sie doch beiseite und legte meinen Kopf auf die Kissen. Die Fenster neben dem Bett waren weit offen, doch die Luft war heiß und drückend. Die Hitze, die Entscheidungen und die nächsten Schritte, die ich unternehmen musste, lasteten so schwer auf mir, dass ich die Augen schloss und mich in den Schlaf flüchtete.

Als ich Stunden später wieder aufwachte, bewegte eine gnädige Brise die Schlafzimmervorhänge und fächelte kühle Luft auf meinen Körper. Die Brise kam aus dem Osten, über die Gipfel und Gebirgsausläufer, und brachte Gerüche von Wildnis, Kiefern, Salbei und Erde und einem Hauch von Regen mit sich. Ich atmete sie tief ein und stand auf. Inga Tates Geschichte lag auf meiner Kommode. Ich wusste immer noch nicht, wie ich reagieren sollte. Ich wusste nur eines mit Sicherheit: dass der Wald mich rief.

Ich fuhr mit dem neuen Pick-up zum Mount Lamborn. Die Straße wurde glatter auf der breiten Oberfläche des Tafelbergs und wand sich dann an einem Dutzend verstreuter Häuser und Farmen und Weiden vorbei. Dann fiel sie jäh ab, bevor sie in Serpentinen einen steilen Hügel hinaufführte. Als ich oben war, wo Blaufichten und Douglastannen die Straße in Schatten hüllten, stellte ich meinen Wagen ab und trat hinaus in die Stille. Als ich mich streckte, tief ein- und ausatmete, begann sich mein Geist zu klären.

Ich ging über den vertrauten Wildpfad durch Eichengestrüpp und Kaninchensträucher zu einer meiner liebsten Wiesen, die im Sommer besonders üppig und lebendig war. Weiße Schmetterlinge gaukelten zwischen den rüschenbesetzten Klebschwerteln und hohen Gräsern. Bienen und Schwalbenschwänze untersuchten ganz genau die sonnige Mitte von Rainfarnblüten. Grashüpfer sprangen davon, als ich über die Wiese schritt. Ich setzte mich ans Ufer eines kleinen Baches, der sich wie eine Ader durch die Mitte der Wiese zog, und bewunderte die kleinen Trompeten der violetten Enziane, die sich auf dem feuchten Boden drängten. Ich schöpfte mit den Händen kühles Wasser aus dem Bach und warf es mir ins Gesicht, immer wieder und wieder. Ich wollte diesen Ort auf meiner Haut spüren, wollte aufwachen und lauschen. Als ich aufstand, um weiterzugehen, fühlte ich mich leichter, als wäre irgendetwas, was ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen hatte, liegen geblieben, als ich mich erhob.

Ich folgte dem Verlauf des Baches bis zu dem Punkt, wo er als bemooster Wasserfall im Wald verschwand. Ich ging den Hügel zur Musik des Wasserfalls und neben nebelverhangenen Felsen hinunter, flink und trittsicher wie ein Reh. Ich überlegte, wann das wohl passiert war – wann ich gelernt hatte, mich in der Wildnis mehr wie ein Geschöpf des Waldes als wie ein ungeschickter Mensch zu bewegen, wann der Boden nicht mehr zu steinig oder zu rutschig oder zu steil gewesen und stattdessen einfach nur Erde geworden war.

Ich setzte mich in die kühle Dunkelheit der Kiefernschatten. Ich grub rechts und links von mir die Hände in den Boden: schwarze Erde, Kiefernnadeln, Kiesel, Zweige, Blätter, ein winziges Schneckenhaus, eine weiße Daune. Ich schaute mich um und nahm die Geburt, das Wachstum und den Tod in mich auf, die sich hier übereinander drängten, blickte auf die offenen Bäuche umgefallener Bäume, aus denen neue Keimlinge wuchsen, das ganze Leben, das sich durch jede Ritze und Lücke schob und jede Möglichkeit nutzte, Licht zu bekommen. Es war eine uralte Klugheit, viel zu komplex und zu reichhaltig, als dass ich sie voll hätte erfassen können, doch genau das, was ich brauchte, um mir vor Augen zu führen, dass sich genau in diesen Zeitschichten alles bildet und entsteht.

Ja, Zelda hatte recht, dass ich mich als widerstandsfähig auf neuem Boden erwiesen hatte, genauso wie mein Obstgarten. Entwurzelt durch die Umstände, aber dann doch in der Lage, trotzdem weiterzumachen. Aber ich war auch unzählige Male gescheitert und gefallen, hatte meine Entschlossenheit verloren und mich in meine Angst zurückgezogen. Stärke, so viel hatte ich gelernt, war wie dieser mit allem Möglichen bestreute Waldboden, zusammengesetzt aus kleinen Siegen und unzähligen Fehlern, Sonnenstunden gefolgt von jähen Stürmen, die alles wieder niederrissen. Wir sind uns alle gleich, und sei es aus keinem anderen Grund als durch die ebenso qualvolle wie wunderschöne Art, wie wir Stück für unvorhersehbares Stück wachsen, einstürzen, uns wieder aus dem Schutt hervorarbeiten, erneut aufstehen und aufs Beste hoffen.

Da beschloss ich, dass das meine Antwort für Inga Tate sein würde und dass ich das auch meinem Sohn sagen würde, sollte ich jemals das Glück haben, ihn kennenzulernen: Ich hatte mein Leben gelebt, immer bereit, mich allen Herausforderungen zu stellen, und ich hatte immer versucht, das Richtige zu tun. Ich würde ihnen erklären, was ich über das Werden hauptsächlich gelernt hatte – nämlich, dass es Zeit brauchte. Ich würde ihnen sagen, dass ich versucht hatte, wie ein Fluss dahinzufließen, wie Wil es mich gelehrt hatte, doch es hatte lange gedauert, bis ich begriffen hatte, was das bedeutete. Vorwärtsfließen gegen ein Hindernis war nicht meine ganze Geschichte. Denn wie ein Fluss hatte ich auch die ganzen winzigen Stückchen mitgenommen, die mich mit allem anderen verbanden, und dadurch war ich hier gelandet, mit zwei Fäusten voll Walderde und einem Herzen, das immer noch lernte, keine Angst vor sich selbst zu haben. Ich war von meinesgleichen geformt worden – von meiner verlorenen Familie und meiner verlorenen Liebe, von den Freundschaften, die ich gefunden hatte, obwohl es wenige waren, von meinen Bäumen, die immer weiterlebten, und von jedem Baum, der mir Schutz gewährt hatte, von jedem Geschöpf, das mir unterwegs begegnet war, von jedem Regentropfen und jeder Schneeflocke, die sich meine Schulter ausgesucht hatten, und von jeder Brise, die die Luft bewegte, von jedem gewundenen Pfad unter meinen Füßen, von jedem Ort, an dem ich gearbeitet und geruht hatte, und von jedem Bach wie dem, der hier vor mir vorbeifloss, den Hügel hinunterlief und durch die Schwerkraft immer mehr Kraft gewann, durchs nächste Kehrwasser strudelte, sich um die nächste Kurve schob und immer in stiller Übereinkunft mit jedem Lebewesen nahm und gab.

Ich würde ihnen sagen, dass dies alles hier, zusammen mit dem Land, das mich ernährt, das ist, was ich meinem Sohn bieten kann. Wenn er seinem Vater auch nur ein bisschen ähnlich war – und ich hoffte natürlich inständig, dass er es war –, dann würde er den zerbrechlichen Mut in der Person spüren, zu der ich geworden war, und er würde eine Ecke in seinem eigenen ängstlichen Herzen finden, um mir die Chance zu geben, ihn zu lieben.