N achdem Zelda weggefahren war, saßen Inga und ich über eine Stunde in ihrer ordentlichen, gelben Küche. Wir sagten uns alles, was wir aushalten konnten zu sagen, jede von uns wollte die andere mit Einzelheiten und Mitgefühl ehren, bis Inga irgendwann aufstand, um ihr verweintes Gesicht frisch zu machen. So hatten wir beide ein bisschen Ruhe nach unseren ganzen geteilten Geschichten und Tränen.
Ich stellte mir Lukas und seinen Bruder Max am Küchentisch aus Resopal vor, wo sie von Kleinkindern zu Männern herangewachsen waren. Lukas’ Lieblingsspeise waren Spaghetti mit Hackbällchen gewesen, hatte Inga mir verraten, und der deutsche Apfelkuchen, den zu backen ihr ihre Mutter beigebracht hatte. Ich überlegte mir, dass Inga mit jeder Mahlzeit, die sie Lukas auf diesen Tisch gestellt hatte, sie eigentlich mir hingestellt hatte. Jedes Mal, wenn er gebadet wurde, seine Hausaufgaben machte, tröstend in die Arme genommen werden musste oder sie die doppelte Menge Schmutzwäsche von kleinen Jungs waschen musste, hatte sie das auch für mich gemacht. Als sie in Lukas ein Gefühl von abgeschnittener Herkunft wahrgenommen hatte, war sie mit ihm zur Lichtung gefahren, um zumindest den Versuch zu unternehmen, ihm die Wahrheit zu erzählen. Es war für sie gewesen, aber auch für mich. Jeder Tag, an dem sie ihn geliebt hatte, war ihre Liebe an die Stelle meiner Liebe getreten.
Ich hatte endlich die Hände der anderen Mutter gehalten, ihr meine Geschichte erzählt und mich bei ihr bedankt. Aber ich würde nie fähig sein, ihr die wahre Tiefe meiner Dankbarkeit zu zeigen. Die Details ihres Familienlebens, die Inga mir erzählt hatte, legten die Vermutung nahe, dass sie wie viele Familien waren, dass ihr Zusammenleben ein Gewebe aus traurig und komplex und glücklich und wonnig und tragisch zugleich war. Sie waren alles andere als perfekt, aber sie waren zumindest für meinen Sohn da gewesen und ich nicht.
Ich schaute aus dem Fenster auf die massive, gegabelte Pappel in der Mitte des Gartens und erinnerte mich an die Geschichte von Max’ gebrochenem Arm und den falschen Anschuldigungen gegen Lukas. Ich starrte auf die Gartenbank neben dem Baum und stellte mir vor, wie Inga dort neben Lukas saß und ihm die schreckliche Wahrheit enthüllte, bevor er aufsprang und wegrannte, über den Zaun setzte und verschwand. Ich spürte, wie seltsam es war, dass ich so viel über die privaten Details ihrer Familie wusste. Und ich staunte darüber, wie so viel von ihren Leben auf die bizarre und verwickelte Art, wie sie in der Welt üblich ist, von meinem Gang in die Stadt, im Alter von siebzehn Jahren an einem Oktobertag, ausgelöst worden war. Es hatte auch eine ganz besondere Rolle dabei gespielt, dass Inga ihren grausamen Ehemann um die Scheidung bat, wozu sie erst den Mut gefunden hatte, als sie die couragierte Entscheidung getroffen hatte, mich zu suchen, endlich ihre Geschichte aufzuschreiben und die Seiten auf den Stein zu legen, die mich zu ihr geführt hatten.
»Victoria?« Inga stand auf der Schwelle der Küche. »Komm mal mit, ich muss dir was zeigen.«
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie lauter Fotos auf einem Beistelltisch mit Glasplatte ausgebreitet hatte.
»Ich dachte mir, die würdest du dir gerne anschauen«, sagte sie.
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Meine Familie hatte nie einen Fotoapparat besessen. Ich besaß keine Fotos von meiner Vergangenheit, von dem Land und den Leuten, die ich geliebt und verloren hatte. Trotzdem lag hier, direkt vor mir, ein viereckiges Farbfoto von Wil.
Ich hob das Foto mit zittriger Hand hoch. Der muskulöse Jugendliche mit dem weißen T-Shirt und Jeans posierte in einem Rosengarten. Seine sanften dunkelbraunen Augen und sein großzügiges Lächeln ließen mich durch Zeit und Raum wirbeln. Ich musterte das Bild, unfähig, meinen Blick abzuwenden.
»Lukas an seinem siebzehnten Geburtstag«, erläuterte Inga.
»Er sieht so … freundlich aus«, sagte ich, und erst dann fiel mir wieder ein, dass ich weiteratmen musste.
Inga drückte mir noch ein anderes Foto in die Hand – ein Schwarz-Weiß-Bild von zwei Säuglingen in einem Zwillingskinderwagen, und einer von ihnen war mein Baby Blue, genau so, wie ich sein kostbares Gesicht in Erinnerung hatte. Ich ließ mich unsicher auf das geblümte Sofa sinken. Sie gab mir weitere: ein Baby in Windeln, das mit zahnlosem Grinsen über einen geflochtenen Teppich krabbelt, ein stolzes Kleinkind auf einem Dreirad, Brüder mit Zahnlücken, die spitze Hüte für ihre Geburtstagsfeier tragen, zwei schmächtige kleine Jungs, die auf identischen Fahrrädern sitzen. Ich sehnte mich schmerzlich nach allem, was ich verpasst hatte, weil ich nicht die Mutter auf der anderen Seite dieser Kamera gewesen war. Ich hatte nie die Stimme meines Kindes gekannt oder gesehen, wie er jeden Tag unmerklich wuchs und sich veränderte.
»Das hier hab ich, ein paar Wochen bevor er gegangen ist, aufgenommen«, sagte Inga und gab mir ein Polaroid-Foto, auf dem Lukas lachend am Küchentisch saß, genau da, wo Inga und ich gerade unsere Seelen voreinander entblößt hatten. »Oh, dieses Lächeln«, sagte sie. »So lässig und so lieb …« Ihre Stimme brach, und wir schwiegen.
»Victoria«, sagte sie, als wir wieder weitersprechen konnten und sie gerade mit der Fingerspitze sein Gesicht nachfuhr. »Schau doch, hier … der Schwung seiner Augen, seine Nase, sein Kinn – es steckt so viel von dir in ihm.«
Ich sah einfach nur Wil. »Wahrscheinlich«, sagte ich trotzdem. »Seine Haut …«
Inga lächelte und nickte. »Sie ist im Laufe der Jahre immer dunkler geworden«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich. Ich starrte auf das Bild und fühlte mich auf einmal beunruhigt.
Wenn es stimmte, was Wil mir einmal gesagt hatte, nämlich, dass es mehr Leute wie Seth als Sterne am Nachthimmel gab, hatte Lukas sicher auch sein ganzes Leben lang das Gift von Leuten wie Seth ertragen müssen. Ingas Geschichte von dem scheinheiligen Präparator, der ihn als Halbblut bezeichnet hatte, war höchstwahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Ich sehnte mich danach, ihm alles zu erzählen, was ich von seinem Vater wusste und nicht wusste – aber was, wenn Lukas von der verbotenen Liebe seiner Eltern und Wils brutalem Tod erfuhr und das für ihn viel schlimmer war, als gar nichts zu wissen?
Zum ersten Mal, seit ich ihn verlassen hatte, spürte ich, dass er mein Sohn war und ich ihn schützen musste.
»Was, wenn ihm alles, was ich ihm erzählen muss, zu sehr wehtut?«, fragte ich. »Wir haben doch keine Ahnung, wie es ist, Lukas zu sein. Wir verstehen nicht, wovor er davonläuft oder wo er hinwill. Vielleicht können wir zwei ihm gar nicht helfen.«
Inga nickte nachdenklich.
»Du hast recht. Das können wir auch nicht. Lukas’ Leben ist seine Sache. Wir können ihm nur erzählen, woher er kommt und dass er immer geliebt worden ist«, meinte sie. »Das ist alles, was er jetzt von dir braucht, Victoria. Dann kann er selbst entscheiden, was er sonst noch wissen will.«
Ich dachte an meine Farm und den Obstgarten und den North Fork River, an Wälder und Wiesen und jede perfekte Sache, die ich ihm seit so vielen Jahren hatte zeigen wollen. Ich schaute den jungen Mann auf dem Foto noch einmal gut an. Ich nickte und schloss mich dem Schicksal, der Rätselhaftigkeit und all den wilden, unvorhersagbaren Kräften an, die unsere Leben formen, und schwor mir, mein Baby endlich zu mir einzuladen.
»Wie geben wir ihm Bescheid, dass ich bereit bin?«, fragte ich mit zitternder Stimme.
Inga lächelte und legte ihre Hand auf meine.