Der verbindende Funke – die Liebe

Was macht die bindenden Kräfte eines Paares aus? Wie kommt es dazu, dass wir uns genau mit diesem Mann, mit dieser Frau verbinden und gemeinsam durchs Leben gehen? Der Blick auf das, was der Anfangsimpuls war und was das Paar aneinander langfristig innerlich bindet, hilft, sich auf die Quellen von Intimität, Verbundenheit und Vertrauen zu besinnen – gerade in Situationen des Vertrauensverlustes und bei Verletzungen.


Das Band der Liebe

Jede Liebe hat ihren spirituellen Auftrag

In fast jeder Beziehung gibt es so etwas wie einen Anfangsimpuls. Von vielen Paaren wird er als eine Art magischer Funke beschrieben. Auch umgangssprachlich sagen wir: »Es hat gefunkt.« Das kann ein längerer Blick sein, der wie unvergesslich erscheint, oder jene erste liebevolle Berührung, die das Gefühl hinterlässt, dass sich damit etwas im eigenen Leben grundlegend verändern wird. Mitten in einem Gespräch entsteht ein Gefühl seelischer Berührtheit, von körperlicher Wärme und Anziehung. Das Gefühl, in der Tiefe verstanden und gesehen zu werden, prägt die Anfangsbindung. Paare können sich oft noch viele Jahre später an diese ersten besonderen Momente der Beziehung erinnern.

Allen wissenschaftlichen Forschungen zum Trotz ist das Geheimnis der Liebe größtenteils unerschlossen und unergründlich. Es erscheint ein Mysterium, weshalb wir gerade diese Partnerin, diesen Partner aus der Vielzahl von Frauen und Männern gewählt haben.

In unserer Kultur herrscht, vor allem was die Anfangsbindung anbelangt, die romantische Liebe vor. Bildlich gesprochen beginnen wir die Paarbeziehung auf dem Gipfel des Berges statt an seinem Fuß. Ohne jegliche Prüfung, ob die Beziehung auch tragfähig sein kann, und ohne große Anstrengungen fallen wir im romantischen Liebesideal in die Liebe hinein. Das Liebeslied von Rainer Maria Rilke fasst diesen Zustand sehr eindrücklich in Worte:

Wie soll ich meine Seele halten, daß sie nicht an deine rührt?

Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen?

Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas Verlorenem im Dunkel

unterbringen an einer fremden stillen Stell’,

die nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.6

Viele Paare werden im Laufe ihrer Beziehung vor die Aufgabe gestellt, die Kluft zwischen den romantischen Idealbildern und der Alltagsrealität zu überwinden. Die romantische Liebe kann in Desillusionen, zerrütteten Beziehungen und schweren Anklagen enden.

Im Gegensatz zur westlichen Kultur, in der wir den Partner mehr oder weniger bewusst selbst wählen, wird in der afrikanischen Kultur der Dagara davon ausgegangen, dass es die übergeordneten Lebensaufgaben von Menschen sind, die diese als Paar zusammenbringen. Mann und Frau kommen in dieser Tradition zusammen, da sie eine ganz eigene spirituelle Kraft verbindet. Die Ehe wird bei den Dagara als ein Weg beschrieben, »den Ruf der spirituellen Kräfte weiterzutragen. [...] Durch die Ehe können die spirituellen Kräfte die Unterstützung, die sie zwei Menschen geben, zu einer großen Energie zusammenfließen lassen.«7 Jede Beziehung hat dabei eine spirituelle Dimension. Und spirituelle Energien lenken zugleich die Beziehung. Aufgrund ihrer einzigartigen Verbindung kann das Paar damit etwas ganz Eigenes, Neues sehr viel besser als alleine in der Welt entfalten und der Gemeinschaft auf ihre besondere Art dienen.

Auch wenn diese Sichtweise uns nicht so geläufig ist, gehen doch viele Paare insgeheim davon aus, dass sie eine größere oder höhere Kraft zusammengeführt hat. Wenn wir uns darauf besinnen, was uns in der Tiefe auch spirituell miteinander verbindet, kann uns das in verstrickten Paarsituationen helfen, uns wieder an das Wesentliche der Bindung zu erinnern.

Es kann sein, dass uns diese gemeinsame tiefere Aufgabe gar nicht so bewusst ist und wir sie erst später erkennen. Im westlichen Sprachgebrauch sprechen wir eher von einer gemeinsamen Lebensvision, Lebensplanung oder ähnlichen Zielvorstellungen. Ist das Neue, das Dritte, das durch diese Beziehung in die Welt gebracht wird, ein physisches, ideelles oder geistiges Kind, kann die gemeinsame Aufgabe leichter erkannt und benannt werden. Das Gefühl von biologischer und geistiger Fruchtbarkeit dieser Bindung wird auch in der Außenwelt sichtbar. Weitere Bindungskräfte sind gemeinsame Visionen, prägende Erlebnisse und die Erfahrung, gemeinsam Krisen bewältigt zu haben.

Da wir keine Ältesten und keine Gemeinschaft haben, die uns – wie bei den Dagara – erzählen, was unser spiritueller und partnerschaftlicher Lebensauftrag ist, müssen Paare heute diese tieferen Quellen des Verbundenseins selbst ergründen.

Fehlt eine gemeinsame Vision oder haben zwei Menschen grundsätzlich unterschiedliche Zielvorstellungen, kann dies im Laufe der Beziehung zu heftigen Konflikten führen. Insbesondere wenn ein Partner das Gefühl hat, die Verwirklichung der eigenen Lebensentwürfe verleugnen zu müssen, um in der Beziehung bleiben zu können, kommt es nicht selten zur Zerrüttung der Liebe. Hier liegt bereits in den unterschiedlichen Lebensplanungen etwas Unversöhnliches. Vielleicht möchte Er gerne noch für ein paar Jahre im Ausland arbeiten, während Sie eng verbunden ist mit ihrer Heimatfamilie und sich nicht vorstellen kann, ihr vertrautes Netzwerk für eine so lange Zeit hinter sich zu lassen. Oder Er möchte gerne noch Kinder, aber Sie hat bereits Kinder aus erster Ehe und hat diese Phase für sich abgeschlossen.

Es wird deutlich: Ein wesentliches Band in der Liebe ist die gemeinsame Zugehörigkeit zu etwas Tieferem, Größerem, was zwei Menschen zu einer Einheit zusammengeführt hat und zusammenhält. Es ist eine gemeinsame Lebensausrichtung, die Bindung schafft und doch ein Mysterium bleibt. Je mehr ein Paar sich mit dieser gemeinsamen Ausrichtung identifiziert und sie in der Beziehung lebendig und präsent hält, desto stärker kann sich ein Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit entfalten.

Übung: Den Anfangsfunken für die Beziehung erinnern

Erinnern Sie sich an den Anfangsfunken in Ihrer Beziehung. Welche Momente waren es, die Ihr Interesse am anderen geweckt haben? Welche Bilder kommen Ihnen von den ersten magischen Momenten? Was waren die Beweggründe, zusammenzukommen?

Erinnern Sie sich daran, was Sie anfänglich an Ihrer Partnerin, Ihrem Partner am meisten fasziniert hat, was Sie am meisten geliebt haben.

Reflektieren Sie: Was ist Ihre ganz besondere Aufgabe als Paar? Was bringen Sie gemeinsam in die Welt? Was ist das Neue, das Dritte, das durch Ihre Verbindung entstanden ist oder entsteht? Was könnte Ihr verbindender gemeinsamer Auftrag sein?

Was macht Ihre Liebe aus? Wie pflegen Sie sie? Was hält Ihre Liebe zusammen? Was verbindet Sie?

Nehmen Sie sich Zeit, sich Ihre Bilder, Gefühle und Gedanken zu den Fragen in Ruhe zu erzählen und gemeinsam die verbindenden Kräfte Ihrer Paarbeziehung zu erkunden. Hören Sie gut zu. Schreiben Sie sich Ihre Erzählungen auf und erinnern Sie sich regelmäßig daran.

Die Erinnerung an den Anfangsfunken und an die verbindenden Kräfte, die das Paar zusammengeführt haben, macht die positiven Gefühle des Beginns wieder lebendig. Es wird fühlbar, dass dieses Positive immer noch da ist, wenn vielleicht auch unter Verletzungen verschüttet. Zugleich kann es sein, dass das, was am Anfang am meisten faszinierte, später zu dem wird, was die Partnerin ablehnt: Die Entspanntheit des Mannes, die der Frau anfangs guttat, nervt sie im Laufe der Jahre als Lethargie. Umgekehrt war der Mann vielleicht anfangs sehr von ihrer strebsamen und kraftvollen Energie fasziniert, bis er nach einigen Jahren die beständige Betriebsamkeit und ihren ruhelosen Geist immer heftiger kritisiert. Hier sind beide eingeladen, das, was der Partner ausgleichend lebt, selbst in sich zu entwickeln, um es an ihm wieder wertschätzen zu können. Dann können die schönen Seiten des anderen wieder neu entdeckt werden.

Gerade wenn wir an einem Tiefpunkt in unserer Partnerschaft angelangt sind, bringt ein Blick auf die ursprüngliche Verbundenheit eine neue Ausrichtung in die Beziehung. Denn wenn wir in einen Konflikt verstrickt sind, wird leicht vergessen, wie stark das Fundament der Beziehung eigentlich ist. Die Erinnerung an die Zeiten großer Verbundenheit und die starken Augenblicke der Beziehung können in der Krise zu den wichtigsten Verbündeten werden.

Das Band der Liebe besteht nicht nur darin, dass wir bestimmte Seiten des Partners lieben und er umgekehrt Eigenschaften von uns. Der andere kann vielmehr auch etwas Neues in uns hineinlieben, und wir können durch die Art und Weise, wie er oder sie auf uns blickt, vollständiger werden und uns selbst neu erkennen. Manchmal lieben wir auch einfach den liebenden Blick des anderen und das, was er in uns hineinliebt.

Liebe als Erfahrung von Ganzheit und Entwicklung

Schon Platons Gleichnis, dass Mann und Frau wie zwei Hälften einer Kugel sind, die ursprünglich eins waren und die sich erst dann vollständig fühlen, wenn sich die Hälften vereinigen, deutet an, wie zentral die Erfahrung von Ganzheit für das Band der Liebe ist. In seinem Gedicht »Liebeslied« findet der Dichter Rainer Maria Rilke ein treffendes Bild dafür:

Doch alles, was uns anrührt, Dich und mich,

nimmt uns zusammen wie einen Bogenstrich,

der aus zwei Saiten EINE Stimme zieht.8

Das Bild für die Ganzheitserfahrung ist die eine Melodie, die aus zwei Saiten gezogen wird und doch einen Ton ergibt. Es drückt das Gewahrsein aus, dass aus zwei Einzelwesen ein neues Ganzes hervorgeht. Die Liebe macht aus eins plus eins gleich drei. Die Beziehung ist das Dritte, das Wir.

Die Ganzheitserfahrung in der Liebe hat viele unterschiedliche Schwingungsebenen. Sie reichen von spirituellen, körperli­chen, unbewuss­ten Ebenen bis hin zu erlebten Gemeinsamkeiten, gemeinsamen Wertvorstellungen, Interessen, Beziehungsmodel­len.

Zunächst kann sich die Ganzheitserfahrung einfach auf sich ergänzende Fähigkeiten beziehen.

Marion ist eine sehr aufgeweckte Frau, die schnell in Kontakt mit anderen Menschen kommt und die Gesellschaft anderer liebt. Sie redet gerne, ist kommunikativ und schafft schnell eine gelassene Atmosphäre unter Menschen. Paul, ihr Mann, ist eher zurückgezogen, still und liebt es, sich stundenlang mit seinen Büchern, in seinen geistigen Welten oder mit Recherchen zu beschäftigen. Lange Zeit profitieren die beiden von den Stärken des anderen und fühlen sich gegenseitig bereichert. Erst als Paul einige Jahre vor Marion in den Vorruhestand wechselt und er sich zunehmend sozial isoliert, möchte sie seine Rückzugstendenzen nicht mehr ausgleichen müssen.

Hier wird deutlich, dass die Partner ihre gegenseitigen Schwächen akzeptieren und annehmen. Beide fühlen sich gerade durch die Polarisierung ganz. Die Ganzheitserfahrung entsteht darüber, dass sie sich an ihren Stärken teilhaben lassen. Sie funktioniert so lange, wie beide Partner mit der Polarisierung einverstanden sind.

Eine tiefe Ganzheitserfahrung ist der Aspekt der körperlichen Verschmelzung. In der erotischen Begegnung lösen sich die Grenzen zwischen Ich und Du auf. Das Paar wird zu einer Seele, zu einem Körper und teilt meist ein Exklusivrecht auf diesen intimsten Bereich. Dadurch entsteht – je nach Beziehungsmodell – mitunter auch auf einer energetischen Ebene – eine bezogene Einheit.

Die dritte Ganzheitserfahrung ist ganz anderer Natur. Dahinter liegt der Gedanke verborgen, dass wir den Partner unbewusst entsprechend alter Beziehungsmuster wählen mit der tieferen Intention, diese zu heilen. Ganzheit bezieht sich hier eher auf den einzelnen Menschen: Die Partnerin unterstützt – vielleicht sogar durch ihre schwierigen Seiten – uns darin, über frühere, verletzende Muster hinauszuwachsen. Die erlebte Ganzheit besteht darin, sich durch den Lern- und Heilungsprozess selbst als vollständiger zu erleben.

Diese Sicht kann in krisenhaften Paarsituationen hilfreich sein. Das, was schwierig ist, wird zur Lern- und Heilungsaufgabe in Bezug auf frühere Verletzungen. Eine Reihe von Beziehungsmodellen beruht auf dieser Sichtweise, dass Paare ganz individuelle Entwicklungsaufgaben miteinander haben. Die unbewusste Partnerwahl bedeutet, gemeinsam zu lernen und sich auch über Familiengenerationenmuster hinaus zu entwickeln. Solange es Entwicklung gibt, kann die Beziehung erfüllt weitergehen. Ist keine Entwicklung mehr möglich, ist die wachsende Beziehung gefährdet.

Eine vierte Dimension des Ganzheitsaspekts bezieht sich darauf, dass beide, Partnerin und Partner, sich als Teil einer größeren Ganzheit erleben. Sie spüren die Liebe als göttliche Kraft oder auch als Ausdruck des Göttlichen selbst. In ihr erfahren beide eine Qualität von heiliger Verbundenheit, die über das menschlich Fassbare und irdisch Erklärbare hinausweist. Die Verbundenheit von Mann und Frau symbolisiert immer auch den Ursprung allen Lebens und die Fruchtbarkeit, die das Leben erhält. Beide transzendieren miteinander sich selbst, hinein in ein umfassenderes Größeres der Schöpfung.

Liebe und Verliebtsein: Projektion und überzogene Erwartung?

Die Anfangsphase der Liebe, das Verliebtsein, wird in unserer Kultur sehr vielschichtig gewertet. Von einem göttlichen Zustand über ein vergängliches Gefühl, Romantisierung, Verblendung bis hin zu Heilung reichen die Zuschreibungen. Klar ist: Paare im Anfangsstadium verwechseln meist das kribbelnde Gefühl des Verliebtseins, der Schmetterlinge im Bauch, mit Liebe.

Verliebtsein wird in der psychologischen Literatur auch mit einem fast psychoseähnlichen Zustand verglichen, in dem die »rosarote Brille« das gesamte psychische System einer Person zunächst destabilisiert. Verliebte färben mit dieser Brille die Wahrnehmung des anderen in ein goldenes, verzaubertes Licht. Die Partnerin wird in ihren besten Seiten, in ihren höchsten Potentialen wahrgenommen. Wider besseren Wissens werden kleine Unzulänglichkeiten, die später in der Beziehung zu erheblichen Schwierigkeiten führen können, ausgeblendet. Im besten Fall sehen wir in den anderen Menschen das hinein, wie er von der Schöpfung gemeint sein könnte.

Eine weitere Form der Projektion besteht darin, dass wir in der romantischen Liebe zur Partnerin unsere spirituelle Verbundenheit mit dem größeren Ganzen auszudrücken suchen. Dies kann zu einem übermäßigen Verlangen nach der Partnerin führen, um die allumfassende Verbundenheit zu spüren. Die ganze Leidenschaft richtet sich auf den anderen, statt dass sie in der Verbindung mit einer spirituellen Quelle – mit dem Göttlichen, dem Urgrund des Seins – gelebt wird.

Seit drei Jahren ist Petra, Ende vierzig, mit ihrem Partner Claus zusammen. Die Beziehung beschreibt sie als einzigartig, noch nie dagewesen und alles übertreffend, was sie je an tiefen Gefühlen erlebt hat. Er sei ihre zweite Hälfte und umgekehrt – sie würden sich ohne Worte verstehen. Petra kommt alleine in die Paarberatung, um zu ergründen, warum sie immer wieder tagelang in den Rückzug gehe und nach einem Streit nicht einfach auf Claus zugehen könne, worunter dieser sehr leide. Im Gespräch zeigt sich weiter, dass Claus mit starken Verlassenheitsängsten reagiert, weshalb Petra viele Aktivitäten in ihrem Leben aufgegeben hat.

Petra spürt, wie sinnvoll ihre Auszeiten eigentlich für sie sind, weil sie während dieser Zeit nur mit sich selbst Kraft schöpfen kann für eine neue, versöhnliche Haltung. Diese Strategie versagt sie sich jedoch, weil sie mit ihrem Rückzug Claus’ altes Beziehungsmuster anstößt: die Angst, verlassen zu werden. Letztendlich kommt es dann aber nach ein paar Tagen für sie zu einer unerträglichen Situation, bis sie weggehen muss, um sich selbst wiederzufinden.

Hohe Erwartungen, die wir an unsere Partnerin haben, deuten auf Projektionen hin. Der heutige große Anspruch an Intimität impliziert, dass der eigene Partner die engste Bezugsperson sein soll. Das war in früheren Zeiten nicht so selbstverständlich. Männer und Frauen lebten eher in geschlechtsspezifischen Welten und waren sich auch fremder. Und gleichgeschlechtliche Partnerschaften waren früher so gut wie unmöglich. Die Erwartung, sich nah zu sein, ist heute viel stärker ausgeprägt. Werden die Erwartungen nach Nähe nicht erfüllt, sind Schuldzuweisungen, Liebesentzug oder kleine Racheakte schnell an der Tagesordnung.

Dabei gibt es im Alltag für Paare viele Aufgaben zu erfüllen und Verantwortung zu übernehmen: im Beruf, in der Familie, in der Gemeinschaft. Die Rolle des einzelnen Menschen als Partner bzw. Partnerin in einer Liebesbeziehung reduziert sich zunehmend zugunsten anderer Rollen, während sie anfangs im Zentrum steht. Das vergrößert die Gefahr, dass die Intimität von der Alltagsroutine überschattet wird.

Dolores Richter findet für die Anspruchshaltung auf Seiten der Frau starke Worte: »Frauen, wir haben einen Anspruch an Männer entwickelt, der sich gewaschen hat! Befreien wir den Mann davon, Vater, Liebhaber, Inspirator, Begleiter, Partner, Verführer, ­Be­schützer, Vater unserer Kinder, immer gleichliebender Gott und alles in einem zu sein. Erst dann haben wir die romantische Liebe in unserem Inneren wirklich abgeschafft.«9 Umgekehrt gilt natürlich auch: Männer stellen oft übergroße Ansprüche an ihre Partnerin und wünschen sich die finanziell unabhängige, beruflich erfolgreiche kraftvolle Frau, die gleichzeitig faszinierende Sexgöttin, den Mann und die Kinder umsorgende liebende Gattin und Mutter sowie geistreiche, den Mann inspirierende Partnerin auf Augenhöhe sein soll.

Übung: Meine guten Seiten entwickeln

Mit unseren Ansprüchen und Erwartungen an den anderen bewegen wir uns auf dem schmalen Grad der Projektionen. Wir sehen in den Partner etwas hinein, was nicht da ist, sowohl am Anfang der Beziehung im Positiven als auch am Ende an Negativem.

Die Idealisierung ermöglicht jedoch, dass wir in den anderen das hineinsehen, was seine besten Möglichkeiten sind und was wir selbst über unser Gewordensein hinausentwickeln können. Indem der andere uns idealisiert, können wir lernen, die guten Seiten in uns zu entwickeln und hervorscheinen zu lassen, die der Partner in uns sieht. Fragen Sie sich also einmal:


Intimität und Vertrauen

Verbundenheit, Intimität und Vertrauen sind Grundpfeiler einer gelingenden Partnerschaft und zentrale Bindungskräfte.

Vertrauen und Verbundenheit entstehen über die viele gemeinsam geteilte Lebenszeit, gemeinsame Interessen, das gemeinsame Durchleben von Schicksalsschlä­gen und freud- sowie leidvollen Lebensereignis­sen. Paare begleiten sich bei ihren ganz persönlichen Entwicklungen im Leben. Durch gemeinsame Projekte, die Geburt und das Begleiten der eigenen Kinder, der regelmäßige Austausch über das, was einen innerlich bewegt, vertieft sich die Bindung. Besonders die Erfahrung, durch eine gemeinsame Not zu gehen, sich im Leid zur Seite zu stehen, in schwierigen Lebenssituatio­nen Rückendeckung durch die Partnerin zu erfahren, das Gefühl, nicht alleine zu sein, sondern getragen zu werden, schweißt das Paar eng zusammen.

Die Beziehung wird so zu dem Ort, wo wir uns zugehörig fühlen, wo wir die sein können, die wir sind. Auch wenn jede für sich ein Individuum ist und bleibt, entsteht ein »Beziehungsselbst«. Das Paar ist im Beziehungsselbst zu einem unbewusst verbundenen Beziehungsgefüge verwoben. Es entsteht eine Definition als »Wir«. Ein neues System ist kreiert, das immer auch Auswirkungen auf andere bisherige Systeme im Leben der Partner hat und die alten Systeme, z. B. die Herkunftsfamilie oder frühere Systeme wie Verbindungen, die aus einer ersten Ehe stammen, durcheinanderbringen kann.

Intimität

Die körperliche, emotionale und räumliche Nähe in der partnerschaftlichen Verbundenheit weist wohl den größten Grad an Intimität auf, der zwischen zwei Menschen entsteht. Keinen Menschen lassen wir so tief körperlich und seelisch an uns heran und in unsere Lebensbe­züge hinein wie die Partnerin bzw. den Partner. Es erinnert an zwei Bäume, die dicht nebeneinander gepflanzt sind und im Laufe von Jahren mit den Zweigen und Wurzeln mehr und mehr ineinander verwachsen, sodass manchmal nicht mehr erkennbar ist, welcher Ast und welche Wurzel zu welchem Baum gehört. Diese Erfahrungen von Verschmelzung, die zahlreichen Momente authentischer, tiefer Begegnung und das Erleben des gemeinsamen Wachsens führen zu Intimität, Vertrauen und Liebe. In dieser Form der Verschmelzung kann sich die Unterscheidung von Ich und Du aufheben. Das wird dann vor allem im Prozess der Erkenntnis und Rücknahme der gegenseitigen Projektionen bedeutsam, wenn nicht mehr klar erkennbar ist, welche Eigenschaften zu wem gehören und von wem entspringen.

Für den amerikanischen Sexualtherapeuten David Schnarch bedeutet Intimität, »dass wir unseren eigenen Geist in Gegenwart unseres Partners spiegeln und gleichzeitig zulassen, dass auch unser Partner unseren Geist spiegelt«10. Sobonfu Somé begreift Intimität als einen »Gesang, der zwei Menschen dazu einlädt, ihre Spiritualität miteinander zu teilen«11.

Intimität ist nichts Statisches. Sie kann immer wieder erlebt werden, wenn sich beide Partner im Beziehungs­raum von Neuem öffnen, offenbaren und verletzlich bleiben, d. h. sich nicht vor dem anderen emotional abschotten.

Im Anfangsstadium der Partnerschaft ist die Intimität aufgrund der starken Anziehung leicht spürbar. Unter der Einwirkung des Alltags und der Gewohnheit kann sie sich verlieren. Küsse werden flüchtig, die Kommunikation nimmt ab, das Entkleiden abends geschieht nebenbei. Der intime Raum ist so selbstverständlich geworden, dass er nicht mehr als solcher bewusst wahrgenommen wird.

Aus diesem Grund ist es in langjährigen Beziehungen besonders wichtig, Vertrauen und Intimität aktiv als Entscheidung und bewusste Zuwendung im Alltag lebendig zu halten. Blumen, die nicht gegossen werden, verwelken. Ein Garten ohne Kompost und Humus verliert im Laufe der Jahre seine Fruchtbarkeit. Wie die Blumen und die Erde brauchen Beziehungen immer wieder unsere Aufmerksamkeit und achtsamen Handlungen. Sie wollen gegossen und gedüngt werden, um nicht einzugehen. Dadurch können sie sich erneuern. Auch das Ja-Wort, welches sich Paare zu Beginn ihrer Beziehung gegeben haben, muss immer wieder bekräftigt und erneuert werden. Dieses zyklische Verständnis heißt: Bindung und Vertrauen ist nichts selbstverständlich Gegebenes, sondern wird über bewusste Handlungen immer wieder neu kreiert.

Eine dauerhafte, reife Beziehung entwickelt gemeinsame kleine Rituale, die die Beziehung zueinander stärken und die Intimität fördern. Paarzeiten und Paarräume sollten verbindlich geplant und bewusst gestaltet werden, um nicht im Alltag unterzugehen. Diese Zeit mit etwas zu verbringen, was beide erfüllt und was beide gerne haben, schafft Intimität.

Vertrauen

Vertrauen in Paarbeziehungen bedeutet, sich aus einer tiefen Haltung heraus darauf zu verlassen, dass der Partner integer, wohlwollend und aufrichtig ist. Vertrauen ist mit vielen Werten verbunden: Offenheit, Loyalität, Ehrlichkeit, Fairness, Diskretion, Glaubwürdigkeit, Zuwendung, Respekt, Aufrichtigkeit und Zugänglichkeit. Vertrauen ist so lange selbstverständlich und existiert fast unmerklich, bis es in Frage gestellt wird.

Eine der wichtigsten Quellen, aus denen sich tiefes Vertrauen in Partnerschaften speist, ist das Versprechen, gemeinsam durch das Leben bzw. durch Lebensabschnitte zu gehen. Dieses Versprechen kann bewusst oder unbewusst, formal oder informell gegeben sein. Fehlt dieses klare Ja zum Partner, kann das die Beziehung auf Dauer zermürben.

Die Fähigkeit, der Partnerin zu vertrauen, hängt vom eigenen Vertrauen ins Leben und von der persönlichen Haltung ab. Diese wiederum sind geprägt vom Urvertrauen, das uns in der eigenen Herkunftsfamilie vermittelt wurde, und davon, wie wir gelernt haben, Vertrauen als Kompetenz in uns selbst zu entwickeln. Vertrauen ist eine Entscheidung.

Zu vertrauen heißt, verletzlich und damit auch berührbar zu bleiben und sich einzugestehen, in gewisser Weise vom Wohlwollen des anderen abhängig zu sein. Aktives Vertrauen bedeutet, die eigene Verwundbarkeit als Teil unserer tiefen Gefühle für den anderen zu akzeptieren. Denn durch das tief gewachsene Vertrauen sind wir besonders darin erschütterbar.

Das eigene Vertrauen in den anderen bindet. Je größer die eigene Vorleistung an Vertrauensvorschuss ist, desto größer die bindende Wirkung. Das einmal in uns gesetzte Vertrauen möchten wir nicht enttäuschen.12 Macht ein Paar die Erfahrung, dass es immer wieder in den Raum von gegenseitigem Vertrauen und Intimität einkehren kann, fördert und unterstützt dies langfristig die Bindung.

Tiefes Vertrauen geht damit einher, auf die Kontrolle der anderen Person zu verzichten aus der Erwartung heraus, dass sie integer ist. Die gelebte Realität von Paaren pendelt zwischen dem geflügelten Wort, dass die Liebe ein Kind der Freiheit ist, und dem persischen Sprichwort: »Vertraue auf Allah und binde dein Kamel fest«, hin und her.

Unversöhntes entsteht oft dort, wo der intime Raum preisgegeben oder das Vertrauen verraten wird. Vertrauensbrüche ereignen sich dann, wenn die Aufrichtigkeit fehlt oder der Partner als unzuverlässig, ungerecht, unberechenbar erlebt wird, sodass der intime Raum verletzt wird. Auch persönliche Angriffe, das permanente Hinweisen auf Unzulänglichkeiten sowie eine urteilende und entwertende Haltung führen zu Vertrauensverlust. Die bei einem Vertrauensbruch entstehenden Gefühle reichen von Ohnmacht, Verzweiflung über Wut, Enttäuschung bis hin zu Trauer. Sie können zu Rückzug, Misstrauen, Angriff oder Versuchen der Wiedergutmachung führen.

Wenn wir unser Vertrauen verloren haben, fragen wir uns: Wie kann ich wieder neu vertrauen? Ein Schlüssel liegt darin, zu verstehen, was dahinterliegen könnte. Ein erlebter Verrat durch den anderen könnte z. B. darauf hinweisen, dass der andere sich in der Beziehung zu lange selbst verraten hat, sich aufgrund von Anpassung an die Wünsche und Erwartungen des anderen selbst verleugnet und sein eigenes Leben nicht mehr gelebt hat. Es gibt Situationen, in denen wir bereit sein müssen, andere zu verraten, um uns selbst treu zu sein. So kann es in Partnerschaften dazu kommen, dass der eine Partner etwas möchte, was die Partnerin nicht mit ihm teilen kann oder will. Ein Verrat in der Partnerschaft entsteht oft dort, wo sich ein Partner selbst untreu geworden ist.

Bei Situationen von Vertrauensbruch steht oft ein Prozess der Versöhnung an, um wieder zueinanderzufinden. Versöhnung ringt uns die bewusste Entscheidung und Bereitschaft ab, in die Haltung des Vertrauens zurückzufinden. Im Versöhnungsprozess zeigen sich die Partner in ihrem Schmerz und mit ihren Schattenseiten. Auch das ist sehr intim. Der Prozess einer aktiven Versöhnung kann daher zu großer Nähe und Intimität führen.

Übung: Wie steht es bei uns mit dem Vertrauen?

Reflektieren Sie als Paar oder für sich alleine:

Auch wenn es bei jedem Paar anders aussieht, seien hier ein paar allgemeine Möglichkeiten erwähnt, die Vertrauen fördern:

1. Räume und Zeiten für Verbundenheit schaffen, z. B. über feste Zeiten, um sich über das eigene innere Erleben von Alltagsdingen und anderen Ereignissen auszutauschen, die Pflege gemeinsamer Hobbys, das gemeinsame Gestalten.

2. Sich selbst dazu verpflichten, Fehler einzugestehen, Verspre­chen zu halten, aufrichtig zu sein, sich selbst treu zu bleiben, sich mit der eigenen Wahrheit, den eigenen Hoffnungen, Wünschen und Nöten authentisch zu öffnen und mitzuteilen.

3. Hoffnungen, Wünsche, Sorgen des Partners ernst nehmen, statt fundamentale Veränderungen des anderen zu erwarten oder bewirken zu wollen.

4. Der Partnerin ihre einzigartige Bedeutsamkeit für das eigene Leben vermitteln.

5. Selbstverantwortung leben: wenn der Partner Verantwortung für etwas übernimmt und Entscheidungen fällt, ihm entweder vertrauen oder mitgestalten.

6. Ohne Forderung um Beistand bitten, die Hilfe der Partnerin annehmen, sich gegenseitig unterstützen in alltäglichen Aufgaben und in emotional belastenden Situationen.

7. Kritisches nur mit realistischen Ideen für Veränderungen äußern und sich so vom Dialog über Schwächen zum Gespräch über Stärken hinbewegen.

8. Eigene Erwartungen reflektieren und anpassen.

9. In Übereinstimmung mit dem handeln, was man gesagt hat.