Als wir uns kennenlernten, war Annie erst 21, studierte Flöte und Cembalo an der Royal Academy, lebte allein und jobbte als Kellnerin. Dann war sie auf einmal, zack, in einer Beziehung mit mir, lebte mit mir zusammen und spielte mit mir in einer Band, nahm Platten auf und tourte in der ganzen Welt. Nun war sie 25 und es war die intensivste Zeit ihres Lebens (was auch auf mich zutraf), weil wir langsam erfolgreich wurden, aber nicht so, wie wir es uns wünschten. Es war nicht die Band, in der wir spielen wollten. Es war auch nicht die Art von Musik, die wir gerne gemacht hätten. Und so war die Band zerbrochen und unsere Beziehung zerbröckelte ebenfalls.
Es schien, als würde alles zu Staub zerfallen. Annie fuhr nach Schottland, um Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Und ich blieb allein in unserer Wohnung zurück. Aber in Zeiten, wenn alles leer und hoffnungslos erscheint, fühle ich mich aus irgendeinem Grund recht gelassen. Dasselbe gilt übrigens, wenn totales Chaos herrscht – dann fühle ich mich ebenso.
Ich bin entweder irre oder habe irgendwann begriffen, dass hinter jedem Nein ein großes Ja zu warten scheint. Und so fing ich an, alleine mit einem kleinen Synthesizer und einem Drumcomputer herumzuexperimentieren. Ich nahm auf einem kleinen Vierspurgerät auf und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich vor lauter Freude daran richtiggehend überwältigt. Ich staunte wie ein Kind und erkannte unendliche Möglichkeiten, die sich auftaten. Es war ungemein inspirierend, sich jeden Tag auf diese Weise zu beschäftigen. Ich fing an, mir eine Band zu erträumen, die nur aus Annie und mir bestünde. Nur wir zwei, elektronisch.
So fing ich an, ihr meine neuen Ideen übers Telefon vorzuspielen und sie hörte sie sich im Haus ihrer Eltern in Aberdeen an – und sie liebte sie. Wir hörten gar nicht mehr auf, uns über Musik und Kreativität zu unterhalten, und sie flüsterte Sachen ins Telefon wie: „Oh, das hört sich echt gut an.“
Ich konnte in ihrer Stimme hören, dass sich ein Funken bildete, der wiederum eine Flamme entzündete. Als sie wieder nach London zurückkehrte, experimentierten wir ohne Unterbrechung miteinander. Es war nicht leicht, unsere romantische Beziehung zu beenden, aber in Bezug auf die Musik hatten wir nie aufgehört, Partner zu sein. Wir hatten uns zwar getrennt, andererseits aber auch nicht. Es war verwirrend, weil wir so daran gewöhnt waren, die Zeit miteinander zu verbringen – manchmal 24 Stunden am Stück. Wir lebten zusammen und spielten zusammen. Wir waren unzertrennlich. Außerdem waren wir die besten Freunde und stritten uns nie. Während unserer ganzen Beziehung hatten wir keinen einzigen Streit. Allerdings gelangten wir an einen Punkt, an dem es sich anfühlte, als würden wir einander ersticken. Es entwickelte sich eine Situation, die die Franzosen als „folie à deux“ bezeichnen. Das bedeutet, dass zwei Leute zu viel Zeit miteinander verbringen, wodurch sie sich isolieren und ein wenig verrückt werden. Irgendwann will man gar keine anderen Menschen mehr sehen und bleibt die ganze Zeit zu Hause.
Annie und ich standen uns so nahe, dass es niederschmetternd war, als wir schließlich akzeptierten, dass wir uns tatsächlich getrennt hatten. Es war, als hätte man mir den rechten Arm abgeschnitten oder eine Gehirnhälfte entfernt.
Solch ein Übergang von einer Liebesbeziehung zu etwas Anderem ist nicht leicht. Wie trennt man sich, wenn man immer noch zusammen ist? Wir waren beide der Ansicht, dass wir das auf die Reihe bekämen, aber wir wussten nicht um das wahre Ausmaß an Stress, auf das wir uns damit einließen. Für die Leute war es schwer, zu akzeptieren, dass wir uns getrennt hatten. Alle waren verwirrt, weil sie uns eben als „Dave und Annie“ kannten. Wir waren ein Paar. Unsere Freunde, die Öffentlichkeit – alle dachten, dass wir unzertrennlich seien. Mit der Zeit gewöhnten wir uns allerdings daran.
Annie zog in die Wohnung über mir, was ein wenig verrückt war, da wir einander herumgehen hören konnten. Wir bekamen es mit, wenn wir Musik hörten oder jemand zu Besuch war. Das war mitunter sehr heikel, aber egal, wir sahen uns ja immer noch alle zehn Minuten auf ein Schwätzchen oder eine Tasse Tee.
Zu jener Zeit hatte ich mich immer noch nicht hundertprozentig von meiner Operation erholt und war noch ein wenig geschwächt. Annie war wirklich lieb, kam zu mir runter und kochte für mich Spaghetti Bolognese, Shepherd’s Pie oder eine kräftige Suppe, während ich weiterhin an Knöpfen herumschraubte und eigenartige Beats und Geräusche erzeugte, die durch den Korridor hallten.
Rückblickend trennten wir uns nicht wie ein gewöhnliches Paar – oder zumindest so, wie das bei den meisten Paaren abläuft. Wir machten praktisch gleich weiter, ohne einander zu fragen, mit wem wir uns trafen oder wo wir uns herumgetrieben hätten. All die übliche Eifersucht schien sich verzogen zu haben – zumindest während dieses ersten Jahres nach unserer Trennung.
Sie zog schließlich in eine Wohnung am Ende der Straße und ich blieb in jenem Apartment, in dem wir zusammen gelebt hatten. Nun befand sie sich einen ganzen Straßenzug entfernt von mir – es fühlte sich aber an, als wäre sie in eine andere Stadt übergesiedelt. Um dieses Arrangement herum begannen wir unser neues Leben aufzubauen. Ich kam langsam wieder auf die Beine. Ich ging aus und traf Freunde auf ein Lager, um die Situation besser begreifen zu können: „Okay, wir leben nicht mehr zusammen, aber wir machen gemeinsam Musik. Als Duo.“
Es war nie einfach, uns gegenseitig mit anderen Frauen oder Männern zu sehen, aber ich lernte, mich daran zu gewöhnen. Ich war immer freundlich und versuchte, ihnen entgegenzukommen. Wenn sie Tennis spielten, spielte ich Tennis mit ihnen. Wenn sie Musik machten, jammten wir eine Runde und lernten einander besser kennen.
Aber egal, mit wem wir zusammen waren, Annie und ich wurden stets als Paar wahrgenommen, wenn wir zusammen gesehen wurden. Die Türen öffneten sich also stets für „uns“ und nicht für unsere jeweiligen Partner. Wer auch immer gerade mit einem von uns zusammen war, musste sich ein wenig übergangen fühlen. Es war eine seltsame Situation und nicht ganz unähnlich jener, in der sich meine Mutter und mein Vater befanden. Noch lange, nachdem sie sich hatten scheiden lassen und wieder geheiratet hatten, wurden sie immer noch als ein Paar, Jack und Sadie, angesehen – sogar von mir.
* * *
Die Musik, die wir gemeinsam erschufen, war alles andere als Pop, sondern eine ganz andere Welt. Wir setzten unsere Musikpolizeihelme auf und entsorgten rigoros alles, was zu sehr nach Pop klang. In meinem Schlafzimmer nahm ich auf einem einfachen Vierspurgerät auf, mit dem sich echt gute Demos fabrizieren ließen. Annie und ich genossen es, zu wissen, dass wir experimentieren und alles ausprobieren konnten. Wir rackerten uns ab und entwickelten langsam einen Plan. Wir würden uns als Duo inszenieren und uns Eurythmics nennen, was die Leute bei RCA Records vor den Kopf zu stoßen schien. Sie konnten den Namen ja nicht einmal aussprechen. Ich weiß noch, dass einer der Manager bei einem Treffen fragte: „Ist das nicht eine Geschlechtskrankheit?“
Der Ursprung des Namens hatte mit Annies Beschäftigung mit rhythmischer Erziehung – auf Englisch: „Dalcroze-Method“ oder „Dalcroze Eurhythmics“ – zu tun. Diese Methode, die der Schweizer Musiker und Pädagoge Émile Jaques-Dalcroze zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte, versucht die Konzepte von Rhythmus, Struktur und musikalischem Ausdruck durch Bewegung zu vermitteln. Dalcroze entdeckte, dass es zu einem besseren Verständnis von musikalischen Konzepten, Improvisation und allgemeinem musikalischen Können kommt, wenn man den Körper im Rahmen spezifischer Übungen rhythmisch zur Musik bewegt. Uns gefiel der Name, weil die Silbe „Eur“ auch für „Europa“ stehen konnte und „rhythm“ darin vorkam. Wir strichen noch das erste „h“ und so ergab sich der Name „Eurythmics“.
Unser erstes Album nahmen wir mit dem berühmten deutschen Produzenten Conny Plank in seinem Studio auf, das sich in Wolperath befand, einem winzigen Dorf in der Nähe von Köln. Es klang düster und stimmungsvoll. Wir dachten dabei nicht im geringsten an einen kommerziellen Erfolg. Vielmehr verkrochen wir uns in der deutschen Einöde und brüteten vor uns hin. Wir wussten, dass da etwas Neues zur Welt gebracht würde, waren uns aber nicht sicher, was es war.
Bei unserer Arbeit wurden wir von äußerst interessanten Avantgarde-Musikern unterstützt: von Holger Czukay und Jaki Liebezeit von der Band Can sowie Gabi Delgado-López und Robert Görl von D.A.F. Außerdem waren noch der Blondie-Schlagzeuger Clem Burke und Roger Pomphrey, ein Freund aus Crouch End, mit von der Partie. Roger hatte sogar geholfen, einige der Songs zu schreiben: „English Summer“, auf dem speziell für diesen Anlass aufgenommene Regen-Sounds zu hören waren, und „Caveman Head“.
Das Album wurde schließlich In The Garden genannt. Wir näherten uns der Musik stets auch auf visuelle Weise und erklärten später in Interviews, dass wir eine Verbindung von Schönheit und Traurigkeit erschaffen wollten, so wie in einem Garten, wenn die Rosen gerade aufgeblüht sind und sich blutrot färben – eine Art von süßem Verfall eben. Wir gingen sogar so weit, zu versuchen, dieses Gefühl auf dem Album-Cover einzufangen: etwa durch die wunderschönen Fotos von Peter Ashforth, die Annie und mich in einem überwucherten Garten als emotional Gestrandete zeigten. Und auf den Fotos auf der Innenhülle trugen Annie und ich Tiermasken und man konnte uns ansehen, dass wir eine Verwandlung durchmachten.
Das Album verzögerte sich zunächst, da das Label nicht wusste, was es davon halten sollte, aber ein paar Leuten fiel auf, dass wir beide etwas völlig Neues produziert hatten.
1981 stellten wir unsere Debütsingle „Never Gonna Cry Again“ bei The Old Grey Whistle Test vor. Wir wurden von Annie Nightingale angekündigt. Es war unser erster öffentlicher Auftritt überhaupt – eine sonderbare Performance, bei der ich Bass und Roger Gitarre spielte und Clem hinterm Schlagzeug saß. Gegen Ende des Songs schlenderte Holger Czukay über die Bühne und blies dabei ins Waldhorn, was das TV-Publikum ziemlich verstört haben dürfte.
Mein Lieblingssong von unserem ersten Album ist „Take Me To Your Heart“, weil er so simpel ist, aber unter die Haut geht und die Richtung erahnen ließ, in welche Annie und ich uns in puncto Songwriting bewegen wollten.
Als nächstes sollte das musikalische Äquivalent zu einer Lawine losbrechen, doch zunächst erlernten wir noch, wie wir alles selbstständig bewerkstelligen konnten, ohne Geld investieren zu müssen – nur jede Menge Inspiration, Entschlossenheit und natürlich Liebe. Wir begriffen, dass wir auf uns selbst gestellt und ohne einen Produzenten ein Album aufnehmen konnten, auch wenn uns nur beschränkte Geldmittel zur Verfügung standen – aber eben ausreichend Geld, um das richtige Equipment zu kaufen.
Adam Williams half uns bei diesem Prozess. Er war ein echt lieber Typ und verstand, dass Annie und ich schrullige Leute waren, die Ideen hatten und sie aufnehmen wollten. Er spielte Bass in einer Band namens The Selecter, die der britischen Two-Tone-Ska- und Reggae-Szene um Bands wie Madness und den Specials zuzurechnen war. Adam war besessen von der Art, wie im Reggae der Bass gespielt wurde. Außerdem wusste er, wie man ein Achtspurgerät bediente und welches Minimum an Equipment wir benötigen würden. Er meinte, es würde uns 5.000 Pfund kosten, was für uns ein kleines Vermögen war.
Ich schlug vor, dass wir unserer lokalen Bank einen Besuch abstatten sollten. Annie war nicht unbedingt der Ansicht, dass sich das auszahlen würde. Erstens sahen wir nicht wie Leute aus, denen eine Bank gerne Geld lieh. Und zweitens: Wie sollten wir erklären, für was wir die Kohle benötigten? So schnitt ich Bilder aus Zeitschriften aus, die genau abbildeten, was wir uns zulegen wollten, und sammelte Informationen darüber, wie viel alles kosten würde. Diese Unterlagen nahm ich dann mit, als wir zu unserem Termin im winzigen Büro des Bankdirektors erschienen. Wir waren beide nervös, weshalb ich gleich ein paar Gänge zulegte und aufgeregt darüber schwadronierte, wie wir auf diesem Equipment Meisterwerke erschaffen, im Erfolgsfall Studiokosten sparen und viel mehr Geld einnehmen würden, da wir dem Label dann nicht mehr so viel schuldeten. Annie saß währenddessen still da und blickte sehr ernst drein. Zu unserem Erstaunen stand der Bankdirektor schließlich auf und sagte: „Das hört sich nach einem sehr guten Plan an.“ Der Kredit wurde genehmigt.
Annie und ich standen anschließend mit dem Direktor vor der Bank und schüttelten uns die Hände, als ich aus dem Augenwinkel heraus meinen Freund Ashley sah, der sich uns in seinem Auto näherte und wild in unsere Richtung winkte. In seinem Wagen transportierte er neun Katzen. Er betrieb damals seine eigene Form von „situationistischer Kunst“. Er hielt an, sprang aus der Karre und trug dabei gleich drei seiner pelzigen Freunde auf dem Arm. Ashley ließ sie uns halten, während er begann, Polaroid-Fotos von uns zu schießen. Da standen wir nun mit dem Bankdirektor, dem nun eine Katze auf dem Kopf saß. Annie und ich flankierten ihn und blickten todernst in die Linse, während wir beide eine Katze festhielten.
Ich hatte Ashley noch zugefaucht, dass dies nicht gerade der richtige Zeitpunkt sei. Aber wenn ich darüber nachdenke, war es eine perfekte Synergie, eine Art von Voodoo. Ich wünschte, ich hätte diese Polaroids noch, doch Ashley verschwand mit ihnen und seinen Katzen in seinem Wagen und brauste davon.
Der Direktor zog sich daraufhin zurück in seine Bank und blickte dabei nervös nach links und rechts und wunderte sich vermutlich, was als nächstes passieren würde. Wahrscheinlich machte er sich ernsthafte Sorgen bezüglich der Entscheidung, die er gerade getroffen hatte. Immerhin würde er diese beiden seltsamen Leute finanzieren, deren Freund ihn gerade mit einer Katze auf dem Kopf abgelichtet hatte.
Wir kauften uns die Ausrüstung, die wir uns notiert hatten, und Adam und ich machten uns daran, ein Studio in einem kleinem Loft einzurichten, das wir über einer Bilderrahmenwerkstatt in Chalk Farm anmieteten. Conny Plank hatte mir gezeigt, wie man viele der Geräte in seinem Studio bediente, aber sein Studio war auch viel aufwändiger, immerhin nahm er auf 24 Spuren auf und hatte sich auch ein höchst kompliziertes Mischpult gebaut.
Was wir uns von unserem Kredit leisteten, war ein benutzerfreundliches Achtspurgerät von TEAC sowie ein gebrauchtes Zweispurgerät von Revox, um darauf Mixe anzufertigen. Unsere restliche Ausstattung war minimal: ein Hallgerät von Klark Teknik, ein Rauschunterdrückungssystem von Bel, ein Roland Space Echo sowie unser ganzer Stolz, ein gebrauchtes Pult von Soundcraft mit 16 Eingängen. Dies bedeutete, wir konnten nun zum ersten Mal unsere eigenen Platten aufnehmen und abmischen. Hallelujah!
Das Loft war ein beengter, überfüllter Raum. Man musste sich dauernd ducken wegen der riesigen Balken. Es gab nur ein winziges Fenster, durch das man Camden Town überblicken konnte.
Wenn unter uns die Bilderrahmen hergestellt wurden, konnte man das an einem Geräusch erkennen. Denn wenn dort Holz zugeschnitten wurde, klang dies wie eine Guillotine und war bis in unser Studio zu hören. Wenn wir also etwas mit einem Mikro aufnahmen, mussten wir auf eine Pause zwischen den Hinrichtungen warten.
Adam wusste alles über die Ausrüstung, die wir gekauft hatten, und wies mich rasch ein. Ich war sehr aufgeregt, da ich noch glaubte, dass damit alles möglich würde, was wir uns wünschten. Wir könnten nun unsere eigene Musik machen. Wir waren autark und Adam fungierte bei den Aufnahmen als Toningenieur. Da er aber nicht immer vor Ort sein konnte, lernte ich, alles selbst zu machen. Indem ich mit Adam und auch alleine experimentierte, erlernte ich alle Tricks in Bezug auf Hall, Echo und Kompressor. So benutzten wir beispielsweise die Rauschunterdrückung, aktiviert und deaktiviert, als Kompressor.
Ich fand heraus, dass alles möglich war, wenn man die Regeln ignorierte. Wenn ich den Drumcomputer verzerren wollte, konnte mich niemand daran hindern. Wenn ich Straßengeräusche mit der Gitarre vermischen wollte, war das auch okay.
Sobald ich über diese Möglichkeiten verfügte, verbrachte ich viele Stunden im Studio und arbeitete schon mal 20 Stunden am Stück, während Annie in ihrer kleinen Wohnung blieb. Wenn sie dann vorbeikam, spielte ich ihr dieses abgedrehte, völlig verquere und total experimentelle Zeug vor.
Da sangen zum Beispiel Mönche gegen Drum-Loops an und ich spielte auf abgefahrenen Instrumenten aus Thailand und Marokko, die ich auf dem Camden Market erstanden hatte. Aber sie zeigte stets Interesse, weil sie ja selbst gerne experimentierte. Ich holte Kids mit allen möglichen ethnischen Backgrounds von der Straße ins Studio, um sie lärmen zu lassen und dabei aufzunehmen. Es war sehr wichtig für mich, bis zur Raserei Sachen auszuprobieren, um dann anschließend alles in das Album Sweet Dreams einfließen lassen zu können.
Ich war so besessen vom Aufnehmen, dass ich meine ganze Zeit im Studio verbrachte, alles aufdrehte und Leute zu mir einlud. Ich glaube nicht, dass Annie überhaupt wusste, wie viele Leute ich zu mir bat, um mit ihnen etwas aufzunehmen. Es ging nur ums Experimentieren und darum, zu lernen, wie man Musik aufnahm. Ich traf ein Duo auf dem Camden Market und lud sie einfach ein. Ich richtete ihnen dann alles ein, nahm sie auf, programmierte einen Beat für sie und half ihnen mit den Instrumenten. Für mich war das alles eine gewaltige Lernerfahrung.
Annie und ich schrieben ein Manifest, das wir an die Wand unseres kleinen Loft nagelten. Wir unterteilten darin in „like“ und „don’t like“ sowie „do“ und „don’t“. Unter diesen Kategorien listeten wir alles Mögliche auf – von Musik bis hin zu visuellen Dingen – um festzulegen, wie wir der Welt unser Ding präsentieren würden. Unter der Sparte „like“ stand zum Beispiel:
Motown
Electronic
Soul
Andy Warhol
Dub Music
Gilbert & George
Und so weiter. Aus dieser Liste erschließt sich einem der Ursprung unseres Albums Sweet Dreams. So erarbeiteten wir uns eine Linie, der wir folgen konnten. Die Liste enthielt unsere Einflüsse, etwa Soul und elektronische Musik – zwei gegensätzliche musikalische Stilrichtungen. Wenn man die beiden aber kombinierte, erhielt man unseren typischen Sound: elektronische Texturen und eine soulige Stimme.
Wir bekannten außerdem unsere Loyalität gegenüber dem britischen Künstlerpaar Gilbert & George, die zu den einflussreichsten Künstlern Großbritanniens zählen. So lehnten wir auch unseren Look an ihren an, denkt nur an die identischen Anzüge. So wie auch wir, taten die beiden alles gemeinsam. Sie gingen zusammen aufs College, lebten und arbeiteten zusammen. Die beiden posierten auch als lebende Statuen. Sie waren einfach die bedeutendsten britischen Konzeptkünstler ihrer Zeit und hatten einen nachhaltigen Einfluss auf uns, in jeglicher Hinsicht, etwa darauf, dass wir Kunst als Arbeit und Arbeit als Kunst interpretierten.
Die Anzüge kauften wir uns gleich am Anfang. Unsere Philosophie zogen wir in all unseren gemeinsamen Jahren und bei allem, was wir taten, durch. Fast 20 Jahre später, als unsere Fotos im Rahmen einer Ausstellung gezeigt wurden, trugen Annie und ich auf einander abgestimmte Outfits, setzten uns hin, bewegten uns nicht – wie Statuen – und blieben stumm. All dies ließ sich auf den Einfluss von Gilbert & George zurückführen.
Diese ursprünglichen Inspirationsquellen blieben stets ein Bestandteil unserer Arbeit und unserer Kunst. Irgendwann fanden wir schließlich ganz organisch zu unserem eigenen Stil, der sich aus einer Mischung von elektronischen und handgemachten Sounds ergab. Wir verwendeten zum Beispiel den Groove eines Drumcomputers, ergänzten ihn aber durch eine ganz reale Rassel. Oder es kamen Straßengeräusche in Kombination mit einer E-Gitarre zum Einsatz. So wurde jeder Song zu einer klanglichen Collage. Sogar bei „Sweet Dreams“ war das so. Jeder glaubt, dass das ein rein elektronischer Track ist, aber er enthält auch etliche organische Sounds. Zum Beispiel schlagen Annie und ich darauf mit Drumsticks gegen Milchflaschen.
Das war schon eine schräge Zeit in unserem Leben. Annie und ich hatten uns getrennt, aber wir verbrachten jeden Tag unzählige Stunden gemeinsam im Studio. Wir begriffen sehr früh, dass unsere Zusammenarbeit zu besonderen Resultaten führen konnte – anders, als wenn jeder für sich arbeitete. Einmal sagte sie: „Ich denke, dass die Kombination aus uns beiden besser ist, als wir das als Individuen wären.“ Einer der Gründe, warum Annie und ich so ein explosives Aufnahme- und Songwriting-Duo wurden, bestand darin, dass sie klassische Musik studiert hatte, wohingegen ich alles von Robert Johnson, vom Delta-Blues bis hin zu Stax, Motown oder kalifornischer Musik in der Art von Crosby, Stills, Nash & Young aufgesogen hatte. Zum einen hatte Annie sich eingehend mit klassischen Komponisten befasst, war aber andererseits auch sehr vom ganzen Spektrum britischer und amerikanischer Popmusik, Rock und Folk beeinflusst. Außerdem war sie als Teenager in Aberdeen ebenfalls mit Motown aufgewachsen. Ich hatte Blues, Soul und Pop studiert und auch gelernt, wie man die meisten Stilrichtungen spielte. So kannte ich die Akkorde von Songs der Beatles, The Clash, den Staple Singers, den Rolling Stones, von Marvin Gaye, Sam Cooke und dem legendären Robert Johnson.
Als wir uns zusammentaten, entstand ein verrückter musikalischer Hybrid und wir hatten das Gefühl, alles tun zu können – und das taten wir dann auch. Manchmal arbeiteten wir bis ein Uhr nachts und fuhren dann zusammen nachhause, um uns dann in unsere jeweiligen Wohnungen zurückzuziehen. Am nächsten Morgen standen wir auf und begaben uns wieder für viele, viele Stunden zurück ins Studio. Das ging Monate so und fühlte sich an wie Jahre. Aber tatsächlich waren es unterm Strich nur acht Monate des Experimentierens.
Gelegentlich entstand dadurch etwas Großartiges: etwa „Love Is A Stranger“, „Sweet Dreams“, „This Is The House“ oder „The Walk“. Keiner davon ist ein konventioneller Pop-Song, aber es ließ sich nicht leugnen, dass sie sehr eingängig waren. Das war uns sogar schon bewusst, bevor wir sie veröffentlichten, weil die Leute, die uns im Studio besuchten und zuhörten, sie im Anschluss daran den ganzen Tag vor sich hin sangen. Das feierten wir schließlich mit ein paar Krügen Margaritas aus dem Restaurant unten auf der Straße. Wir betranken uns hemmungslos und tanzten in unserem vollgestopften Studio herum, total begeistert von der Musik, die wir gerade erschaffen hatten.