Annie lebte wieder allein in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung. Sie fühlte sich sehr einsam und war emotional am Boden. Eines Tages lag sie in einer fötalen Position auf dem Boden des Studios und sagte: „Ach, nichts will gelingen. Aus dem, was wir hier tun, wird nie etwas. Es ist einfach nicht gut. Ich weiß nicht, warum wir hier sind.“
Obwohl es mir leid tat, dass Annie sich deprimiert fühlte, war ich in einer aufgeregten Stimmung, weil ich einen Rhythmus auf dem Drumcomputer bastelte, den ich in Bridgwater erstanden hatte. Er war ein eigenwilliger Prototyp, von dem Adam Williams und ich gehört hatten. Ich war daraufhin 300 Kilometer gefahren und hatte bei jemand auf dem Fußboden gepennt, um ihn in die Finger zu bekommen. Dieses Ding war anders als die Drumcomputer heutzutage und ich war ganz besessen davon, damit aufzunehmen und zu experimentieren.
Er bot analoge und künstliche Drum-Sounds und hatte einen kleinen Monitor. Da dieser Drumcomputer ziemlich kompliziert zu bedienen war beziehungsweise uns nur ein Achtspurgerät zur Verfügung stand, musste eine Spur als Sync-Spur herhalten. Beim ersten Beat stimmte ich eine der Tomtoms runter, damit sie so klang wie eine afrikanische Trommel. Und die ließ ich nun mit einem von mir programmierten, geradlinigen Bassdrum-Beat kollidieren. Jedoch konnte ich diesen verfluchten Rhythmus nicht mehr anhalten. Er hämmerte und dröhnte ohrenbetäubend am Anfang eines jeden Takts: „Bumm, dum dum dum. Bumm dum dum dum.“ Es klang, als würde man eine außer Kontrolle geratene Dampfmaschine steuern.
Dieser Trommel-Sound holte Annie aus ihrer Depression. Sie hob ihren Kopf, fragte, was das sei, und setzte sich ohne Umschweife ans Keyboard. Sie spielte kurzerhand ein großartiges Riff mit einem Streicher-Sound dazu und es passte gut zu meinem eigentümlichen Drum-Arrangement. Ich klemmte mich hinter unseren Synthesizer, einen Roland SH-101, und spielte „Um-dit-um-dit-um-dit-um“ zu ihrem „Du-um, dum dum dum dum dum dum dum“. Diese drei Sounds – Keyboard, Drumcomputer und Synthie – waren die einzigen Spuren und dennoch entfalteten sie eine monströse Wirkung. Wir waren nun wirklich sehr aufgeregt.
Annie hatte sofort ein paar Ideen für den Text und begab sich in ein kleines, leeres Zimmer, das sich unter dem Studio befand. Kurze Zeit später kam sie wieder: „Sweet Dreams are made of this!“ Unglaublich. Hätte es einen passenderen Titel geben können?
Der Song nahm daraufhin rasch Gestalt an. Dann fiel uns auf, dass er sich immer wiederholte. Ich schlug vor, ihn durch einen positiveren Teil zu ergänzen. Also fügten wir in der Mitte des Songs noch einen Akkordwechsel ein sowie die Textzeilen „Hold your head up, moving on. Keep your head up, moving on“.
Wenn Annie von einer Sache richtig angetan war, leuchtete über ihrem Kopf eine kleine Glühbirne auf. Sie sang: „Some of them want to abuse you. Some of them want to get used by you. Some of them want to abuse you.“ All diese großartigen Textzeilen fielen Annie ganz spontan ein. Eben noch hatte sie niedergeschlagen auf dem Boden gelegen – und nun, gerade einmal 20 Minuten später, sprang sie durch den Raum! Ein Mega-Hit war geboren.
Für uns stellte der Song einen enormen Durchbruch dar. Allerdings kann ich mich an ein paar recht prominente Musikverleger erinnern, die den Song überhaupt nicht kapierten. Sie sagten immer wieder: „Ich verstehe diesen Song nicht. Er hat gar keinen Refrain.“ Aber in Wirklichkeit zog sich der Refrain durch den ganzen Song, von Anfang bis Ende. Es gab keine Note, die nicht eingängig war.
Ich war von dem Song so begeistert, dass ich ein Storyboard für ein Video dazu zeichnete und damit zur Plattenfirma lief, um mein Konzept zu präsentieren. Vieles darin war von Surrealismus in der Art von Luis Buñuel und Salvador Dalí. Ein paar Leute fragten mich: „Dave, warum die Kuh? Annie sieht doch so gut aus.“
Diesen Leuten würde ich heute das Buch Purple Cow von Seth Godin ans Herz legen. Es handelt davon, wie man seiner Firma Wiedererkennungswert verleiht, und erschien 20 Jahre, nachdem ich Kühe in unserem Video auftreten ließ – es funktionierte jedenfalls und verlieh meinem ganzen Leben einen gehörigen Wiedererkennungswert. Man kann mich im Video dabei beobachten, wie ich den Drumcomputer, den wir für die Aufnahme des Songs verwendeten, bediene. Während der Szene im Sitzungszimmer dreht die Kuh ihren Kopf zu mir und unsere Augen treffen sich – ein sehr surrealer Moment.
Wenn wir den Song live brachten, beendeten wir ihn, anders als auf der Platte, wo er auf dem Riff ausblendete, immer mit der Passage, in der Annie „Keep your head up“ sang. Wir wollten unsere Konzerte mit einem Gefühl der Hoffnung abschließen. Und dank „Sweet Dreams“ hieß die letzte Textzeile des Konzerts: „Keep your head up.“
Heute, bald 40 Jahre später, ist „Sweet Dreams“ immer noch allgegenwärtig. Die Nummer wurde von Hunderten Sängern, Rappern und Deejays live und im Studio interpretiert, darunter Beyoncé, Marilyn Manson, Pink, Nas, David Guetty, Avicii – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Praktisch jeder Radiosender auf der Welt spielt den Song noch immer. Er läuft auf Konzerten, in Clubs, egal wo – und zwar jede Sekunde jeder Minute jedes einzelnen Tags. Auf Electronic-Dance-Music-Festivals auf der ganzen Welt geben Deejays oft Varianten von „Sweet Dreams“ auf dem Höhepunkt ihrer Auftritte zum Besten. Genau in diesem Augenblick, während ihr das hier lest, werden irgendwo betrunkene Karaoke-Versionen auf Japanisch, Russisch und Italienisch gegrölt. Der Song begleitet mich jeden Tag, ganz gleich, wohin ich gehe: Beim Anprobieren von Klamotten in einer Boutique, auf einem Markt für organisches Gemüse, im Aufzug, oder beim Überholen eines Autos, in dessen Radio er läuft.
Manchmal ist das eben einfach so. Etwas, das in sehr kurzer Zeit entstand, wird zum Blitz, der den Rest deines Lebens verändert.
* * *
Da uns das Studio tagtäglich zur Verfügung stand, wurden Annie und ich zu unglaublich kreativen Songwriting-Partnern. Wir begannen, alle unsere Songs zusammen zu schreiben – wie Rodgers und Hammerstein, Jagger und Richards, Lennon und McCartney oder auch Marr und Morrissey. Ich bin mir nicht sicher, wie die Zusammenarbeit zwischen diesen Songwritern aussah, doch weiß ich, dass die Funken flogen, sobald sie erkannten, zu was sie im Stande waren.
Annie und ich füllten unterschiedliche Rollen aus und stiegen einander nicht auf die Zehen. Ich war derjenige, der am Kontrollpult oder auf einem Instrument herumexperimentierte, während Annie mit einem Notizblock bewaffnet hinter mir saß, nachdachte oder wie wild drauflos schrieb. Es erinnerte ein wenig Alchemie – ein magischer Prozess, bei dem etwas aus dem Nichts erschaffen wurde. Zuerst existierte ein Song noch nicht. 20 Minuten später tat er das aber. Uns wurde stets innerhalb von 10 oder 20 Minuten klar, ob es eine Idee wert war, verfolgt zu werden. Wir waren diesbezüglich selten unterschiedlicher Meinung. Ein oder zwei Mal setzte ich mich vehement für etwas ein, aber in der Regel lagen wir auf derselben Wellenlänge.
Unser Aufnahmeprozess wurde massiv vereinfacht, da ich aus der Not heraus zu unserem Produzenten avanciert war – und das brachte es mit sich, dass wir alles tun konnten. Wir konnten alle Instrumente selbst einspielen, uns selbstständig aufnehmen, dabei Fehler machen und einfach darüber lachen. Endlich frei!
Manchmal programmierte ich die Drums, spielte den Bass auf einem Synthie-Gerät oder einem echten Bass, spielte zusätzlich noch Gitarre und ein paar Parts auf dem Keyboard und kümmerte mich außerdem als Tontechniker um die Aufnahme der Sounds und von Annies Stimme. Anschließend mischte ich alles innerhalb von ein paar Stunden ab. Ein magisches Gefühl, da wir nun alles selbst unter Kontrolle hatten.
Üblicherweise befand sich außer uns niemand im Raum, wenn wir gerade Songs schrieben, da jeder taktvoll hinausging, wenn es so aussah, als würden wir etwas ausbrüten. Später, wenn wir aufnahmen, stieß noch ein Studiotechniker hinzu – jemand, den wir kannten und bei dem wir uns sicher waren, dass er den Zauber nicht neutralisieren würde. Wir wandten uns bezüglich eines Studiotechnikers nicht an unsere Plattenfirma oder irgendein Studio. Auch verließen wir uns nicht auf teure Studios oder teures Equipment. Vielmehr lag uns daran, im bescheidenen Rahmen zu arbeiten und alles selbst zu machen.
Anfangs, also während der ersten beiden Alben In The Garden und Sweet Dreams, managte ich die Band. Das hieß, dass ich mich mit der Plattenfirma befassen musste, unsere Auftrittspläne erstellte und bewerkstelligen musste, dass wir diese eigentümliche Musik auf die Bühne bekamen.
Es bereitete uns großes Vergnügen, unsere Auftritte zu planen. Das reichte von der Auswahl großartiger Musiker bis hin zum Bühnenbild und der Festlegung eines Bühnen-Intros. Wir waren buchstäblich von A bis Z involviert. Eine wahrhaftige Partnerschaft. Viele unserer ersten Konzerte waren sehr experimentell. Ich ließ mir etwas einfallen, damit wir nur drei Leute auf der Bühne brauchten. Sogar die Beleuchtung kontrollierten wir, während wir performten. Adam Williams und ich waren davon überzeugt, dass wir das Mischpult hinter uns auf der Bühne aufstellen konnten, damit uns derselbe Mix wie dem Publikum zur Verfügung stünde. Adam konnte das Pult wie ein Instrument einsetzen und so Dub-Remixe unserer Nummern bereitstellen. Das klang mitunter großartig und manchmal auch ganz abscheulich. Das Publikum verwirrte dies jedenfalls oft genug.
Annie sang zum Beispiel und begleitete dann den Hall mit Harmonien. Das alles fand in Echtzeit statt, aber ich weiß noch, dass wir während einer Tour durch ein paar Colleges von ein paar Studenten gefragt wurden, ob wir tatsächlich spielten oder unsere Auftritte zu einem Playback absolvieren würden. Das lag unter anderem auch daran, dass alles so perfekt klang und somit nicht mehr real rüberkam.
Heute verwenden Musiker wie Björk oder Lorde einen vorab aufgenommenen Sound, um ihre Live-Auftritte zu bereichern. Sogar Bands wie die Foo Fighters oder U2 setzen auf Loops oder vorab aufgezeichnete Tracks, die sie in Kombination mit ihrem Live-Sound zum Einsatz bringen. Aber damals war das noch höchst unüblich. Manchmal funktionierte es und manchmal bewegte sich die Show am Rande einer Katastrophe.
Nur Annies Geschick in puncto Performance war es zu verdanken, dass wir nicht permanent von einem Desaster ins nächste schlitterten. Um nur zu dritt auftreten zu können, bediente ich gleichzeitig das Beleuchtungsstativ und balancierte meine kombinierte, zweihalsige Gitarre und Bassgitarre mithilfe von Gewichten. Ich verwendete eine durchsichtige Angelschnur, wodurch die Illusion entstand, die Gitarre würde in der Luft schweben. Zu sehen ist dieser Wahnsinn auf Fotos von unserem ersten Gig als Eurythmics im Barracuda Club am 11. Januar 1982.
Unser Sound war bei diesen frühen Auftritten ziemlich schräg, was sich auch von den Songs behaupten lässt. Sie trugen Titel wie „4/4 In Leather“. Es ging ausschließlich darum, so frei und verrückt wie möglich vorgehen zu können, nachdem wir die Fesseln unserer alten Band abgestreift hatten. Wir wollten uns nicht einordnen lassen, weshalb wir ein wenig überschnappten. Das war aber ein sehr sinnvoller kreativer Prozess und wir bewiesen uns auf diese Weise eine ganze Menge. Wir fürchteten uns vor nichts und niemandem. Nach einer Experimentierphase in unserem gemieteten Studio über der Bilderrahmenwerkstatt in Chalk Farm, die sich ziemlich lange angefühlt hatte, fingen wir an, Songs zu schreiben und aufzunehmen – einen nach dem anderen. Es waren keine Demos, sondern fertige Aufnahmen. Wir hielten uns nie mit Pre-Production oder so auf. Wir nahmen auf, während wir schrieben. Das Songwriting, das Aufnehmen, die Performance – alles war ein einziger Prozess.
Unsere Arbeitsauffassung wurde beinahe zu einer Mission, die nur wir beide verstanden. Einen Außenstehenden einzuweihen, erschien irgendwie sinnlos. Aufgrund des Endes unserer Liebesbeziehung waren wir so verstört, dass wir uns auf gewisse Weise selbst beweisen mussten, dies alles hätte einen Sinn. Wenn zwischen zwei Menschen so viel Liebe geherrscht hat, kann sie sich nicht mit einem Schlag in Luft auflösen. Deshalb konnte man sie in unserer Musik spüren. Live-Auftritte waren sowohl für uns als auch das Publikum eine sehr emotionale Erfahrung.
Annie hat eine sehr markante Stimme, sehr gefühlvoll und kräftig – einfach einzigartig. Im Klang mancher Stimmen, sei es nun die von Bob Dylan, Joss Stone, Bryan Ferry, Sinéad O’Connor oder die von Mick Jagger, liegt etwas Besonderes. Man erkennt sie sofort. Sobald Mick Jagger singt, weiß man, dass es kein anderer sein kann. Und Annie ist eben unverwechselbar Annie Lennox. Man erkennt das sofort, da sie nicht wirklich mit ihrer Stimme, sondern mit ihrer Seele singt. Wenn man mit solchen Leuten zusammenarbeitet, wäre es einfach, sich zurückzulehnen und irgendeinen alten Song zu verwenden, weil ohnehin alles gut klingen wird. Annie und ich waren allerdings besessen davon, keine alten Nummern zu bearbeiten. Wir wollten großartige Songs schreiben. Wenn man eine herausragende Stimme nicht mit einem außergewöhnlich guten Song paart, wird man nie die ganze Welt damit erreichen – und das war unser Ziel. Wir strebten nicht die „Weltherrschaft“ an, sondern wollten die Leute berühren, ganz gleich, wer sie waren oder wo sie lebten.
Egal, ob der Sound aus aus einem Radio, einem Ghettoblaster oder einer schicken Musikanlage dröhnte, er musste stets gut klingen. Aus diesem Grunde hatte ich beim Mischen neben ein paar guten Lautsprechern und ein paar Riesenboxen auch stets einen kleinen, tragbaren Ghettoblaster und ein beschissenes Radio am Start, um fortlaufend zwischen diesen Systemen hin- und herwechseln zu können. Ich ging dabei sogar so weit, dass ich mit dem Auto durch die Gegend fuhr und mir die Musik anhörte, als würde sie im Radio übertragen.
In Bezug auf die Eurythmics und alle anderen meiner Produktionen bin ich einer dieser altmodischen Produzenten, die die Musik um die Stimme herum entstehen lassen. Wenn man sich eine Platte von Patsy Cline aus den Fünfzigerjahren anhört, stellt man fest, dass alles um die Stimme herum konzipiert wurde. Die Musiker sind toll, die Arrangements superb, aber dennoch folgt alles dem Gesang. Zu jener Zeit, und auch schon davor, war es in Wahrheit der Dirigent des Orchesters oder auch der Bandleader, der eine Platte produzierte. Die Musik musste auf ein oder zwei Spuren Platz finden und in einem Take aufgenommen werden, weshalb die Balance zwischen Gesang und Instrumenten perfekt sein musste, damit man sowohl jedes einzelne Wort als auch die großartigen Parts, die die Musiker beisteuerten, hören konnte.
Diesen Ansatz verfolge ich noch immer. Die Leute wollen die Emotion in der menschlichen Stimme hören und spüren. Darin besteht für mich die oberste Priorität.
Irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem man mit 48 Tonspuren aufnehmen konnte, und dann sogar mit 72 oder mehr. Dies ermöglichte es einem, eine gigantische Musikmauer zu erschaffen. Aber nicht etwa eine handwerklich einwandfreie „Wall of Sound“ wie bei Phil Spector, die bei ihm rund um den Gesang entstand, sondern einfach eine undynamische Barriere, die sich der Stimme in den Weg stellte. Meine Philosophie war es, dem Gesang auf seiner Reise zu folgen – und das ist auch heute noch mein Ding.
Als Eurythmics verfügten wir stets über eine stilistische Freiheit, die den meisten Bands vorenthalten blieb. Wir waren in Bezug auf den Sound der Band nicht eingeschränkt. Während die Heartbreakers so klingen wie die Heartbreakers und die Stones eben so wie die Stones, konnten wir klingen, wie wir wollten. Und so nahmen wir einen Song mit einem Orchester und einem Akkordeon auf, wohingegen der nächste völlig elektronisch war. Der darauf folgende Song orientierte sich wiederum am Stax-Soul und bediente sich einer Bläsersektion. Wir hatten jedenfalls alles fest unter Kontrolle.
Die Plattenfirma stellte das nie in Frage. Dort hörte man unsere Sachen und sagte nur: „Du heilige Scheiße, das klingt ja hammermäßig!“ Insofern hatten wir mehr Freiheiten in Bezug auf unseren Sound und die Produktion als die meisten anderen Bands. Und diese Freiheit, dieses Bedürfnis, jedes Mal etwas Anderes zu machen, spiegelte sich in jedem unserer Alben, jedem einzelnen Song wieder.
Bei vielen Songwriting-Partnerschaften ist eine Person ausschließlich für die Texte und die andere für die Musik zuständig – zum Beispiel bei Elton John und Bernie Taupin. Annie und ich nahmen hingegen schon während des Schreibens auf. Es war, als ob wir eine Sound-Collage bastelten. Manchmal begann ich die Arbeit an einem Song, indem ich einen rein musikalischen Abschnitt beisteuerte. Als nächstes kam Annie mit einer Passage, die sie am Keyboard komponiert hatte. Sodann arbeiteten wir zusammen weiter. Aber in der Regel versuchten wir nicht, irgendetwas auszuarbeiten, solange wir nicht gemeinsam in einem Zimmer saßen.
Annie ist auch allein eine geniale Songschreiberin. Ich war auf gewisse Weise ein Katalysator, ein Auslöser, der es ermöglichte, eine Vielzahl von Songs und Stilrichtungen zu erkunden. Annie kann so wie viele andere Songwriter mitunter an einer Schreibblockade leiden. Wenn man sich zu sehr darauf einlässt, kann dies regelrecht zur Qual werden. Wenn wir zusammen schrieben, ging ich davon aus, diese Blockade durchbrechen zu können, indem ich sie mit auf einen Spaziergang nahm, indem wir uns auf den Kopf stellten oder ähnliches unternahmen. Es ist ganz egal, was man unternimmt, solange es einen auf andere Gedanken bringt. Brian Eno entwarf beispielsweise einen Satz Karten, den er „Oblique Strategies“ nannte und der ihm dabei behilflich war, Schreibblockaden zu überwinden.
Annies Fähigkeiten, ihr Talent und ihre Instinkte ermöglichten es ihr, ein paar der besten Songs überhaupt zu schreiben. Allerdings fühlt sie sich nicht unbedingt die ganze Zeit danach, wofür ich Verständnis habe, da es auch noch andere Dinge im Leben gibt, die uns in Anspruch nehmen können, vor allem wenn man gleichzeitig Mutter und eine Person des öffentlichen Interesses ist.
Annie ist eine brillante Texterin, Sängerin und Komponistin. Mir fiel das innerhalb der ersten paar Sekunden auf, als sie für mich in ihrer winzigen Bude in Camden Town auf ihrem alten Harmonium vorspielte und dazu sang. Die Nummern, die sie mir vorspielte, waren erstaunlich. Ich wusste, dass ich Zeuge von etwas Großartigem war – daran hegte ich keinerlei Zweifel.
Es ist ein cleverer Trick großer Gesangskünstler wie Frank Sinatra, sich die richtigen Songs auszusuchen. In unserem Fall hatten wir das große Glück, dass wir für Annie die richtigen Songs selbst schreiben konnten. Wir nahmen uns die Zeit, um herauszufinden, was die richtige Tonhöhe für sie war, damit der Song durch ihren ganzen Körper schwingen konnte. Zum Beispiel gingen wir einen Halbtonschritt nach unten, damit sie nicht ganz so kräftig singen musste, der Sound aber dennoch gleichzeitig Melancholie und Dringlichkeit versprühte.
Ein Aspekt unseres Lebens, den die meisten Menschen nicht verstehen, besteht darin, dass die Konversation zwischen Annie und mir – wie bei allen Songwritern, Künstlern und Musikern – nie aufhört. Die Leute denken, dass wir ein Album aufnehmen oder auf Tour gehen und wieder damit aufhören, eine Pause einlegen und die Musik auch mal gut sein lassen. Genau das ist aber nie der Fall. Ob das nun Mick Jagger oder David Byrne oder wen auch immer betrifft – die Konversation reißt nie ab. Ein Künstler zu sein, heißt nicht, fünf Tage in der Woche zu arbeiten, um dann am sechsten Tag zu ruhen. Ein Künstler ist man an jedem Tag der Woche, rund um die Uhr.
Die Leute glauben außerdem, dass berühmte Musiker wie Bono, Leonard Cohen, Lorde oder Annie der Meinung sind oder sogar wissen, dass sie großartig sind und dies auch nie in Frage stellen. Das stimmt aber nicht! Ich habe noch nie erlebt, dass jemand von der Bühne kommt und sagt: „Ich war umwerfend!“ Alle sind extrem selbstkritisch und sich darüber im Klaren, was nicht gepasst hat. Dasselbe trifft auch auf große Sportler zu. Sie kommen nicht ins Ziel und sagen: „Das war gerade das beste Rennen meines Lebens.“ Sie analysieren vielmehr ihre Fehler, um es beim nächsten Mal noch besser hinzubekommen.
Die enge Zusammenarbeit mit Annie erleichterte es mir, auch mit anderen Interpreten Songs zu schreiben. Eines der Geheimnisse in Bezug auf meine Fähigkeit, mit anderen Leuten zu kollaborieren, besteht darin, dass ich keine Angst davor habe. Ich mache es, weil es mir Freude bereitet. Stevie Nicks war etwa sehr froh darüber, als ihr das auffiel. Sie fragte: „Augenblick mal, heißt das, wir können einfach Spaß haben und müssen uns keine Sorgen machen?“ Und ich entgegnete ihr: „Yeah! Und weißt du warum? Weil es niemand zu hören bekommen wird, wenn es uns selbst nicht gefällt.“
Viele meiner Kollegen haben sich daran gewöhnt, dass sie ein neues Album zusammenzimmern müssen, während sie eigentlich auf Tour sind. Die Plattenfirma sitzt ihnen im Genick, weshalb der Druck deutlich spürbar ist. Dann stehen ihnen plötzlich ein paar Wochen zur Verfügung, um zwölf Songs zu schreiben und aufzunehmen. Der Druck ist groß und guten Songs nicht unbedingt zuträglich. Deshalb sage ich immer: „Ihr wisst schon, dass es nicht wirklich zählt, ob ihr etwas mögt oder nicht? Niemand muss es jemals hören. Wir können alles in die Tonne kicken und vergessen. Das macht wirklich keinen Unterschied.“ Und mit einem Schlag verändert sich die ganze Welt. Der Druck ist weg und man darf auch Fehler begehen. Alles wird gut. Man muss sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie wertvoll doch alles ist. Wenn man erst einmal entspannt ist, passieren tolle Sachen und man fängt am Ende etwas echt Sagenhaftes ein. Dadurch entwickelt sich wiederum eine spezielle Schwungkraft, weil man diese Dynamik aufgreift und sie einen zu weiteren Ideen inspiriert. Die Leute geraten dann in Hochstimmung und es fängt an, Spaß zu machen. Und wenn man Spaß dabei empfindet, Musik zu machen, ist das ansteckend – für einen selbst wie für jeden, mit dem man zusammenarbeitet.
Auch die eigene Familie profitiert davon, wenn man schließlich nachhause kommt. Wenn ich sage, dass nichts wirklich zählt, ist das eine Art umgekehrte Psychologie. Oft sagt der Kollaborateur dann: „Aber mir gefällt das!“ oder „Lass uns das beibehalten!“
Was Annie und mich betraf, so trafen wir mit unserer dynamischen Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung bei jedem Eurythmics-Track den Nagel auf den Kopf. Zuerst war alles etwas düster und dann – zack – verwandelte sich musikalisch und textlich alles auf jegliche denkbare Weise: Die Kombination dieser beiden Dinge ergab einen magischen Vibe.
Not macht erfinderisch und in den Anfangstagen der Eurythmics war dies das A und O. Wir hatten kaum Instrumente oder Ausrüstung und wussten nur sehr eingeschränkt darüber Bescheid, wie wir das, was wir hatten, einsetzen konnten. Zum Beispiel den Drumcomputer, den wir für „Sweet Dreams“ verwendeten. Ich tüftelte ständig daran herum. Wir hatten auch noch ein paar monophone Synthesizer und eine Vox-Continental-Orgel. Manchmal borgten wir uns Reynard Falconers polyphonischen Oberheim-Synthesizer aus. Als wir schließlich als Touristen – nicht als The Tourists wohlgemerkt – Japan besuchten, erstand ich ein abgefahrenes neues elektronisches Instrument, Omichord, das von Suzuki hergestellt wurde. Es war gerade erst auf den Markt gekommen und eine Mischung aus Spielzeug und Musikinstrument. Man konnte Akkorde anschlagen, indem man mit der einen Hand auf Knöpfe druckte, während man mit der anderen einen anderen Teil, der wie ein flacher Kamm aussah, griff oder anstupste. Daraufhin erklang der Sound einer elektronischen Harfe. Annie und mir bereitete dieses Ding stundenlang Freude, während es fast jeden anderen um uns herum in den Wahnsinn zu treiben schien. Ich traf sonst nur noch eine andere Person, die ebenso auf dieses Gerät abfuhr – Brian Eno, der das Ding überallhin mitnahm.
Also ist es wahrscheinlich überflüssig, zu betonen, dass der instrumentale Track zu „Love Is A Stranger“ eine obskure Mischung aus verschiedenen Sounds umfasst. Was ich dabei zusammenwürfelte, hatte einen fieberhaften Disco-Drumbeat, bei dem die High-Hat Sechzehntel schlug und sich wie ein außer Kontrolle geratener Zug anhörte. Der Roland-SH-01-Synthie spielte einen geradlinigen Beat mit acht Schlägen pro Takt. Der eigentümliche, klingelnde Harfen-Sound des Omnichords orientierte sich auf eine verführerisch-feminine Art und Weise an diesem aggressiven Beat. Und obwohl nur drei Tonspuren belegt waren, klang alles bereits beängstigend perfekt. Zu jener Zeit klang es sehr akut und aufregend, weil wir es jahrelang mit Gitarrenwänden zu tun gehabt hatten und dies nun etwas völlig Neues und Radikales darstellte.
Annies temperamentvolle Stimme vor dieser seltsamen Liaison von schweren Drumbeats und Spielzeug-Harfe verlieh dem Song eine weitere Dimension – es war wie eine Einladung an einen gefährlichen Ort. Annie klang sowohl verletzlich als auch dominant. Textzeilen wie „Love is a stranger in an open car to tempt you in and drive you far away“ klangen gleichzeitig bedrohlich und verführerisch.
Wenn man eine Gesangsspur einsingt, ist das ein besonderer Moment, weil sich etwas zwischen dem Mund und dem Mikrofon abspielt. Es erinnert in der Tat an eine Schauspielerin, die die Kamera einfach zu lieben scheint. In Annies Fall ist es eben das Mikro, das ihr verfällt – und wenn es sich um das richtige handelt und es sich in einer ausgewogenen Balance zu den Kopfhörern befindet, kann sie in der einen Minute mit dem Sound spielen und ganz sie selbst sein und in der nächsten in eine andere Rolle schlüpfen – sogar wenn es sich dabei nur um ein einziges Wort wie zum Beispiel „obsession“ handelt. Der Gesang zu „Love Is A Stranger“ wurde, wie bei so vielen anderen Songs, die wir zusammen produziert haben, in nur einem Take aufgenommen. Und wie immer war er absolut bemerkenswert.
Wir waren damals sehr experimentell unterwegs, das Album Sweet Dreams war jedoch eher eine Sammlung relativ normaler Songs. Viele unserer anderen Songs waren äußerst skurril und eigentlich mehr für uns selbst gedacht. Die Plattenfirma bekam sie erst zu hören, als wir sie als Bonustracks für unsere Compilation Ultimate Collection zur Verfügung stellten. „Love Is A Stranger“ stach diesbezüglich auf Sweet Dreams heraus, da sich der Song durch einige schräge Dinge auszeichnete. So erfolgten die Akkordwechsel nie dann, wenn man es erwartete. Die Struktur ist mit ihren zwei Teilen, die weder Strophe noch Refrain sind, auch recht eigenwillig, was den Song mit „Sweet Dreams“ verbindet, wo ebenso keine klare Grenze zwischen Strophe und Refrain gezogen wird. Das sind einfach nur verschiedene Teile, die irgendwie zusammenzupassen. Ich ergänzte noch eine kleine Melodie auf der Gitarre, die mit ihrem wackligen Sound nichts mit dem, was sonst so auf diesem Track abging, zu tun zu haben schien. Man hört auch, wie ich durchgehend diese Grunz- und Stöhngeräusche beisteuere, keine Ahnung wieso. Damals kam mir das wie eine gute Idee vor. Wir hatten unser eigenes kleines Studio und waren in unserer eigenen kleinen Welt, wo wir tun konnten, was wir wollten.
Das Video zu „Love Is A Stranger“ war ein weiterer Vorstoß in die Welt des surrealistischen Films, wobei Annie drei unterschiedliche, extreme Charaktere darstellt. Die erste von ihr verkörperte Figur ist ein glamouröses Call-Girl, das einem Klienten einen Besuch in seinem offenbar recht teuren Haus abstattet (ratet mal, wer den Chauffeur spielt). In Wirklichkeit verwendeten wir das Apartment meiner Mutter. Dann reißt sich Annie ihre Perücke herunter und schlüpft in die Rolle einer androgynen, höhnisch dreinschauenden Figur, die ein wenig an Mick Jagger als Gangster im Film Performance erinnert, während sie den Text ausspeit: „It’s gilt-edged, glamorous and sleek by design.“ Anschließend verwandelt sie sich in eine gefährlich aussehende, in PVC-Klamotten gehüllte Frau mit schwarzer Perücke, die eine Schere schwenkt.
Zu jener Zeit waren Musikvideos noch relativ neu. Wir waren mit Feuereifer bei der Sache und sehr detailbesessen.
In der Szene mit der Schere liegen beispielsweise zerschnittene Fotos von toten Sängerinnen und Sängern auf dem Boden und schwimmen in der Badewanne. Auch wenn der ursprüngliche Impuls instinktiv erfolgt sein mochte, gingen wir stets diszipliniert, durchdacht und vernünftig vor – bis hin zur letzten Einstellung eines Videos und der finalen Note eines Songs.
Meine Erinnerung an das Jahr 1983 ist verschwommen, weil wir damals so viele Dinge unternommen haben. Ich weiß aber noch, dass Annie und ich gerade in San Francisco waren, am Vorabend im Kabuki Theatre einen Gig absolviert hatten und uns gemeinsam in meinem Zimmer in einem japanischen Hotel namens Mikado aufhielten, als wir einen Anruf entgegennahmen und uns mitgeteilt wurde, dass „Sweet Dreams“ auf die Spitzenposition der Billboard-Charts geklettert war. Wir wussten ganz ehrlich nicht, wie wir darauf reagieren sollten. Wir waren außer Rand und Band, sprangen auf und ab und blickten durch das Fenster hinaus auf San Francisco. Wir befanden uns ja so weit weg von zu Hause.
Amerika ist für einen Engländer ein komplizierter Ort. Zum Beispiel wegen des Gesundheitswesens. In England ist das für alle da, egal, wer du bist. Wenn es nötig ist, kannst du dich einer großen Operation unterziehen und musst nichts dafür berappen. Wenn dein Kind krank ist, fährst du mit ihm ins Krankenhaus. Als wir nach Amerika gingen, ließen wir uns versichern, nur um dann herauszufinden, dass wir etliche Zusatzzahlungen leisten mussten. In seiner Unübersichtlichkeit konnte das schon beängstigend sein.
Dann wurde einem im Fernsehen permanent Angst gemacht. Dort hieß es: „Ach, hast du schon genug für die Rente beiseite geschafft? Vielleicht wirst du ja 90 Jahre alt!“ Und dann kam schon die nächste Werbung: „Haben Sie Probleme mit dem Einschlafen? Versuchen Sie doch dieses neue Medikament!“ So etwas hatten wir noch nie gesehen. In Großbritannien war es der BBC nicht erlaubt, Werbung auszustrahlen. Und im Pay-TV waren die Werbeeinschaltungen auch recht harmlos: „Trinkt mal Ovaltine. Das Zeug hat einen leicht schokoladigen Geschmack und hilft euch eventuell dabei, gut zu schlafen.“ Das war schon die offensivste Werbestrategie, mit der man es zu tun bekam. Deshalb weigerten wir uns in den ersten Jahren, den Fernseher auch nur einzuschalten.
Als Annie und ich zum ersten Mal in Amerika waren, stiegen wir in einem echt billigen Hotel ab und der Typ am Empfang meinte: „Ihr müsst die Zimmertür verriegeln. Nicht nur mit dem Schlüssel, sondern auch mit dem Vorschiebeschloss.“
Wir erkundigten uns: „Okay, aber warum?“
„Weil die Leute das nicht aufhalten wird.“
Wir meinten daraufhin nur: „Oh, das ist ja großartig.“
In den frühen Tagen, als „Sweet Dreams“ gerade ein Hit geworden war, waren wir auf Tour so beschäftigt mit Interviews für Radiosender, Live-Konzerten oder TV-Auftritten, dass wir fast nicht zum Nachdenken kamen. Beinahe alle unsere Alben haben wir innerhalb von nur drei oder vier Wochen fertiggestellt. Das schloss auch das Schreiben der Songs mit ein, was bedeutete, dass der Aufnahmeprozess zwischen einer Reihe anderer Dinge vonstatten gehen musste. Ich nahm ein tragbares Studioaufnahmegerät mit auf Tour und wir hielten unsere Ideen oft in Hotelzimmern fest. Tatsächlich nahmen wir ganze Alben in Hotelzimmern auf.
Ebenso wie andere Dinge im Universum, finden einen auch Songs, wenn man offen für sie ist. Ist man das nicht, finden sie einen auch nicht. Und so blieben wir beide offen – offen für Experimente und alles, was uns zufliegen sollte. Ich spielte dann entweder mit meiner Gitarre in einer Ecke oder bastelte am Synthesizer herum. Üblicherweise, so glaube ich, bin ich derjenige, der die Dinge vorantreibt und den Fortschritt überwacht. Bei der Zusammenarbeit mit Annie übernahm ich oft die Rolle des Machers – ich ermöglichte die Entstehung der Songs.
1983 nahmen wir mit Sweet Dreams und Touch gleich zwei Alben auf. Der Schreibprozess von „Here Comes The Rain Again“, das auf Touch erschien, begann im berüchtigten Mayflower Hotel in New York, in einer Ecksuite, von der aus wir den Central Park überblicken konnten. Wir stiegen gerne dort ab, wegen der Aussicht über den Park und weil dort auch andere Bands verkehrten und man sich so nicht wie ein Außerirdischer inmitten eines Haufens von Anzugträgern vorkam.
An einem bewölkten Tag war ich auf er der 46th Street unterwegs gewesen und hatte ein klitzekleines Keyboard gekauft. Es war eins der frühen Casio-Keyboards, ungefähr einen halben Meter lang mit echt winzigen schwarzen Tasten. Annie hing bei mir im Zimmer ab und ich spielte ein unspektakuläres Riff auf dem Keyboard, das auf der Fensterbank ruhte. Sie bat mich: „Lass mich auch mal probieren.“ Aber da ich es eben erst gekauft hatte, verhielt ich mich ein wenig wie ein Kind: „Jetzt spiele ich damit.“ Und so stritten wir uns wie zwei Siebenjährige wegen eines Spielzeugs. Ich behielt aber die Oberhand und somit auch mein Keyboard.
Ich spielte ein paar melancholische Akkorde, die in Richtung A-Moll mit ein wenig H gingen, und ein Riff so vor mich hin, während Annie vom Fenster aus den grauen Himmel und die New Yorker Skyline beobachtete. Sie sang ganz spontan: „Here comes the rain again.“ Das war alles, was wir benötigten.
So wie bei vielen unserer Songs brauchten wir nur eine Textzeile, eine spezielle Atmosphäre, einen besonderen Ton oder eine kleine Intro-Melodie, um loslegen zu können. Der Rest glich dann einem Puzzle, bei dem wir die fehlenden Stücke einfügten. Das traf auf viele, eigentlich auf die meisten, Songs zu, die Annie und ich schrieben. Das Feeling oder die Atmosphäre stand für uns über allem Anderen. Wenn das, was wir gemeinsam kreierten, nicht über das gewisse Etwas verfügte, wandten wir uns rasch etwas Anderem zu.
Die Entstehung unseres Albums Touch war interessant gewesen, weil wir erst einmal ein Studio erworben hatten – auch wenn es eigentlich kein Studio war, sondern eine alte Kirche. Ich ließ mich stets auf solche irren Vorhaben ein, aus denen sich die seltsamsten Geschichten ergaben. Wieder einmal spazierte ich in Crouch End die Straße hinauf – wie an jenem ominösen Tag, an dem ich Paul Jacobs getroffen hatte –, als ich an einer Kirche vorbeikam. Ein älterer Typ mit weißen Haaren und Bart lehnte sich aus der Kirchentür, pfiff mir hinterher und bedeutete mir, die Straße zu überqueren. Ich war neugierig, weshalb ich mich ihm näherte, um herauszufinden, was er von mir wollte.
„Hey, mein Junge, suchst du irgendetwas?“ Je genauer ich ihn mir ansah, desto mehr sah er aus wie ein Zauberer.
„Eigentlich schon!“
Uns war soeben mitgeteilt worden, dass wir das Loft über der Bilderrahmenwerkstatt räumen müssten, weil wir mit der Miete im Rückstand waren. Wir befanden uns gerade mitten in den Aufnahmen zu Sweet Dreams. „Dann komm herein und sieh dir das hier an.“
Es wurde nun ein bisschen unheimlich – aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich folgte ihm und er sagte, dass ihm und seinem Kumpel die ganze Kirche gehörte. Wenn wir wollten, könnten wir die Sakristei kostenfrei zu Arbeitszwecken verwenden.
Ich war verwirrt, aber auch erfreut. Er hatte gerade mit nur einem Wort unser Problem gelöst: kostenfrei. Dann dachte ich mir, dass die Sache doch einen Haken haben müsste. Dem war aber nicht so. Aus irgendeinem seltsamen Grund waren diese Typen so glücklich darüber, dass wir in ihrer Kirche Musik machen wollten, dass sie bereit waren, alles für uns zu tun. So bauten sie die Kirche teilweise um – mit ihren bloßen Händen, mitten in der Nacht im Licht von Scheinwerfern, damit wir uns darin ein kleines Studio einrichten konnten.
Bei den Männern handelte es sich um Bob Bura und John Hardwick, zwei berühmte britische Trickfilmzeichner von beliebten Serien im Kinderfernsehen wie Camberwick Green und Captain Pugwash. Und hier standen wir nun in der Sakristei einer alten Kirche und fabrizierten sonderbare elektronische Geräusche, während Bura und Hardwick uns kostenlos ein Studio bauten. Wir konnten unser Glück kaum fassen und hielten uns für gesegnet – und ich nehme an, dass wir das in mancherlei Hinsicht tatsächlich waren.
Eines Tages, als gerade das Studio gebaut wurde, beschloss ich, meiner Ex, Pam, einen Besuch in ihrer Wohnung abzustatten. Es war noch ziemlich früh am Tag und sie öffnete mir die Tür im Bademantel: „Ach, komm rein. Oh, vielleicht magst du ja den Typen, mit dem ich im Bett liege. Er macht auch Musik und heißt Michael.“
Ich folgte ihr also ins Schlafzimmer, wo sie mich vorstellte: „Das ist mein Ex-Mann, Dave.“ Michael begrüßte mich: „Nett, dich kennenzulernen.“
Ich setzte mich auf die Bettkante und fragte: „Was für Musik machst du denn?“
„Nun, ich spiele bei einigen experimentellen Bands, aber ich mache auch Arrangements für Streichinstrumente und Orchester.“
„Scheiße, yeah, das ist ja ein Hammer! Annie und ich haben gerade einen Song geschrieben, der ‚Here Comes The Rain Again‘ heißt und für den ich mir ein großes Streicher-Arrangement vorstellen kann.“
„Wie hört er sich denn an?“
So saß ich also mit einer Tasse Tee auf dem Bett, neben mir meine Exfrau, und fragte Pam: „Hast du vielleicht eine Gitarre herumliegen?“ Dann schlug ich die Akkorde unseres neuen Songs an. Michael meinte: „Okay, damit könnte ich wahrscheinlich schon was machen. Was genau hörst du denn darin?“ Mit Orchestrierung kannte ich mich nicht aus, weshalb ich sagte: „Ich höre einfach richtig viele Streicher, in der Art der alten Motown-Sachen, Unmengen von Geigen.“ Da ich wirklich nicht genau Bescheid wusste, sagte ich: „Wie wäre es mit zwölf Cellos und sechzehn Geigen?“
„Nun“, entgegnete Michael, „so funktioniert das nicht. Du brauchst vermutlich noch ein paar Bratschen.“
Er war echt nett zu mir, wahrscheinlich weil er sich dachte, dass ich verrückt sei. Aber da ich ein durchgeknallter Typ aus dem Pop- und Rock-Business war, schien er von meiner Idee angetan zu sein: „Ich verstehe schon, was du meinst. Ich werde was schreiben und die Musiker buchen.“
„Okay, toll. Wir haben eine Kirche, in der wir aufnehmen können.“
Als das Orchester schließlich eintraf, stellte sich heraus, dass wir nicht über ausreichend Platz verfügten. Das Studio, das uns Bura und Hardwick gebaut hatten, verfügte über einen kleinen schlauchartigen Regieraum, den man über eine Wendeltreppe erreichte, sowie eine winzige Kabine, in der Annie singen konnte. Aber Michael meinte nur: „Drauf geschissen, wir bekommen das schon irgendwie hin.“ Wir reihten die Cellisten in einem Korridor auf, der zur Kirchentür führte. Außerdem gab es noch einen Waschraum für die Bratschisten und eine Küche für die Geiger.
Jon Bavin stand uns als Studiotechniker zur Seite und es war schon verwunderlich, dass er keinen Nervenzusammenbruch erlitt. Überall verliefen Mikro-Kabel, die Wendeltreppe hinunter und ins Kirchenschiff hinein. In der Küche und im Waschraum standen Umgebungsmikrofone, die mit unserem kleinen Soundcraft-Pult verbunden waren. Aber trotz allem war der Sound der Streicher unfassbar gut. Die Mischung der unterschiedlichen Räume sowie unsere limitierten Möglichkeiten ließen sie klingen wie Arrangements auf alten Motown-Scheiben aus den Sixties – genau das, was ich mir vorgestellt hatte, als ich noch überhaupt nicht wusste, wie es zu bewerkstelligen wäre.
Die Entstehungsgeschichte dieser Platte gleicht einem Wunder. Ich spielte auf einer großen Gretsch Country Club mit einem Bigsby-Tremolo zu programmierten Drum-Sounds und Sequenzern. Über die ganze Kirche war ein Orchester verteilt und der arme Michael musste zwischen den abgetrennten Bereichen hin- und herlaufen, um seine Leute zu dirigieren. Und doch klappte es und der Sound war phantastisch.
Viele Leute meinten angesichts der Gitarren-Sequenzen, dass es sich um einen programmierten Synthie-Sequencer handelte, aber tatsächlich spielte ich das alles so. Da war kein Sequenzer im Spiel. Ich legte meine rechte Hand auf die Bridge der Gitarre und spielte schablonenhafte Parts. Ich musste lernen, fehlerfrei zu spielen, da ich zu vorprogrammierten Beats spielte. Dasselbe traf auch auf die Bassgitarre zu. Alles ergab sich praktisch an Ort und Stelle.
Als ich in New York gewesen war, hatte ich von einer Firma gehört, die ein irres Gerät namens Voytera herstellte. Dabei handelte es sich um eine der ersten Sampling-Applikationen, die man an sein Keyboard koppeln konnte. Ich musste selbstverständlich so ein Ding haben. All dies interessierte Annie nicht wirklich. Allerdings war die Arbeit mit ihr deswegen so toll, weil sie mich stets experimentieren ließ. Sie vertraute mir dabei, da es nicht unbedingt ihre Welt war.
Sie kam vorbei und fragte vielleicht: „Was geht ab?“ Ich hatte inzwischen vier Stunden damit verbracht, dieses Voytera-Ding zum Laufen zu bringen. Ich steckte es an und der allererste Sound, den ich herausbekam, erinnerte an eine Calypso-Steeldrum. Annie meinte: „Das ist ja phantastisch.“ Sie fing sofort an, zu spielen. Genau mit diesem Sound schrieb sie innerhalb von nur zehn Minuten „Right By Your Side“. Der Song wurde zu einem weiteren großen Hit und umfasste diese schönen Zeilen:
Give me two strong arms to protect myself
Give me so much love that I forget myself
I need to swing from limb to limb
To relieve this mess I’m in
’Cause when depression starts to win
I need to be right by your side.
Ich wollte Gitarre dazu spielen und zwar in der Art wie die westafrikanische Legende King Sunny Adé, da ich zu jener Zeit seine Sachen rauf und runter hörte. Deshalb verlangsamte ich das Tape um die Hälfte und spielte ein langsames Solo, das wie er klang, als ich es wieder beschleunigte.
Die Musik war so fröhlich, dass Annie und ich im Studio zu tanzen begannen. Es war ein wirklich peppiges Calypso-Ding, weshalb wir uns dachten: „Wir brauchen dafür ein paar Bläser.“
Und so suchten wir uns in London alle möglichen Bläser zusammen wie den großartigen Trompeter Dick Cuthell oder Rico Rodriguez, den berühmten jamaikanischen Posaunisten, die beide auch für die Specials spielten.
Annie und ich hatten die Erfahrung gemacht, dass Produzenten stets unsere Kreativität einschränken wollten. Ständig sagten sie: „Nein, das geht nicht. Das ist doch verrückt.“ Annie gefiel es ebenso wie mir, herauszufinden, wie weit wir gehen konnten. Ich ließ mir die abgefahrensten, irrsten Experimente einfallen, doch Annie hätte nie gesagt: „Hör auf damit.“ Sie saß immer nur da, lächelte, hörte zu, ließ es einwirken und sagte dann irgendwann: „Oh, das ist aber toll.“
Nun hatte ich vor, mit ihren Texten, ihrem Büchlein, in das sie ihre Gedichte notierte, zu experimentieren. Wenn wir an Songs arbeiteten, wurde sie mitunter sauer und sagte, dass ihr nichts einfiele. Obwohl sie glaubte, dass ich nichts Gutes darin finden würde, bestand ich darauf, einen Blick in ihr Büchlein zu werfen – und stieß immer auf etwas Brillantes. „Wie wäre es denn gleich mit den allerersten Zeilen, die du hier geschrieben hast. Die sind phantastisch.“
„Was? Wieso?“
Ich erklärte ihr dann, warum ich dieser Ansicht war, und spielte ein paar Akkorde dazu. Das heiterte sie auf. Plötzlich öffnete sie ihren Mund und begann zu singen, was unglaublich klang. Sie sagte dann vielleicht: „Das ist ja ziemlich gut. Damit mache ich gleich weiter.“ Dann setzte sie sich ins Auto und schrieb den Text zu Ende. Es war also tatsächlich eine Zusammenarbeit von Anfang bis Ende.
Als die Zeit gekommen war, Tracks, die wir aufgenommen hatten, abzumischen, stand uns keine automatisierte Technik wie heute zur Verfügung. Heutzutage kann man einen digitalen Mix anfertigen und wie ein Word-Dokument abspeichern. Später kann man es immer noch verändern, wenn man will. Damals war das nicht der Fall. Die Regler mussten in Echtzeit bedient werden. Seinerzeit überspielte man einen Mix auf ein Tonband – und wenn einem das Resultat nicht gefiel, musste man alles nochmal machen.
Außerdem war so ein Mix recht komplex, weshalb viele von uns gleichzeitig am Mischpult stehen mussten, um all die Regler im richtigen Moment zu bedienen. Oft standen da gleich vier: Annie, ich, Jon Bavin und ein Assistent. Und oft befanden sich auch gleich drei Dinge auf einer Tonspur: zum Beispiel eine Gitarre, ein Rhythmus-Part und der Bass.
Mit meiner tabellarischen Auflistung vor mir sagte ich also: „Annie, du kontrollierst diese drei Regler, okay? Bei einer Minute und zehn Sekunden muss du den einen ganz runterziehen und dafür den anderen nach oben fahren.“
Wir mussten das oft wiederholen und immer wieder neu anfangen, weil irgendjemand immer patzte. Allerdings waren wir nie sauer auf denjenigen, der den Fehler begangen hatte, sondern lachten bloß.
* * *
Wir befanden uns mitten in der Ära Thatcher. Maggie war als Premierministerin im Amt bestätigt worden und die konservative Partei hatte einen Erdrutschsieg errungen. Wir schrieben das Jahr 1983 und die Charts strotzten nur so vor eklektischen und gleichsam klassischen Songs wie Michael Jacksons „Billie Jean“, David Bowies „China Girl“, „Karma Chameleon“ von Culture Club, „Every Breath You Take“ von The Police, „1999“ und „Little Red Corvette“ von Prince oder „Rock The Casbah“ von The Clash. Wir schrieben das Jahr 1983 und die Konkurrenz war unerbittlich.
Ohne viel über MTV oder die Macht, die der Sender schon bald innehaben sollte, zu wissen, hatten wir bereits etliche Videos zu unseren Singles gedreht. Da waren beispielsweise die Clips zu „Love Is A Stranger“, „Sweet Dreams“, „Who’s That Girl“, „Right By Your Side“ und „Here Comes The Rain Again“. Wir entfesselten damit förmlich eine Lawine, denn jeder dieser Songs wurde zu einem riesigen Hit auf MTV sowie in den weltweiten Hitparaden und Radios. Der Unterschied zur Ära vor MTV bestand darin, dass man mitunter enorm populär sein konnte, ohne auf der Straße wiedererkannt zu werden. Wenn man allerdings in Drei-Stunden-Intervallen über den Bildschirm flimmerte, wurde dein Gesicht bald so bekannt wie das eines Nachrichtensprechers.
Wir hatten zwei Platten unmittelbar hintereinander herausgebracht, ausgiebig getourt und waren weltweit bekannt. Wir hatten bereits Millionen von Alben verkauft und nun begannen die Tantiemen große Geldsummen in unsere Kassen zu spülen.