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Ich wollte ein richtiges Soloalbum ohne Band aufnehmen, um alles, was in meinem Leben vor sich ging, egal, ob gut oder schlecht, zum Ausdruck zu bringen. Auch der Titel des Albums gab Aufschluss über mein damaliges Befinden: Greetings From The Gutter, „Grüße aus der Gosse“.

Im Frühling 1994 quartierte ich mich in den legendären Electric Lady Studios in der New Yorker West Eighth Street ein. Es handelte sich dabei um das Studio, das Jimi Hendrix bauen ließ. Ich hatte immer schon einmal in New York aufnehmen und das Greenwich Village, von dem ich schon so viel gehört hatte, erkunden wollen.

Ich hatte eine Reihe schräger Songs geschrieben und mir einen noch schrägeren Haufen Musiker zur Arbeit am Album ins Studio geholt: Bootsy Collins, Bernie Worell und Jerome „Bigfoot“ Brailey – drei der absoluten Großmeister des Funk. Außerdem stand mir der großartige Studiotechniker und Mischer Bob Rosa zur Seite. Diese Sessions sollten jedenfalls eine ganz besondere Erfahrung werden.

Bevor ich England hinter mir ließ, besuchte mich David Bowie in meinem Apartment und hörte sich ein paar meiner Demos an, darunter auch den Song „Greetings From The Gutter“. Das war eine Lektion in Demut sowie ein Omen für den Sound des Albums. Auch dem Rolling Stone fiel dies in seiner Album-Kritik auf:

In „Chelsea Lovers“, einer stattlichen Ballade auf seinem gelungenen neuen Album Greetings From The Gutter, singt Dave Stewart von „stardust lovers in a Ziggy cartoon“ – ein neckisches Wortspiel, das außerdem sehr vielsagend ist. Als Sänger scheint dieser Musiker, den andere Musiker bewundern, tatsächlich sehr vom Schöpfer von Ziggy Stardust beeinflusst zu sein. Stewarts kreidiger Bariton und seine mitunter bedrohliche und durchtrieben wirkende Darbietung erinnern phasenweise so stark an Bowie, dass die Ähnlichkeit schon frappierend ist. Die verträumten und oft ziemlich abgefahrenen Texte auf Greetings verraten eine Nostalgie in Bezug auf die Ära, in der Bowie seinem vom Unglück verfolgten „leprösen Messias“ erstmals Leben einhauchte.

Lou Reed wohnte in der Nähe des Electric Lady Studios, weshalb wir dauernd zusammen abhingen. Er zeigte mir mit Begeisterung das Village und wir aßen Frühstück in verschiedenen interessanten Läden und verabredeten uns zum Abendessen in seinen Lieblingsrestaurants. Lou, seine Partnerin Laurie Anderson und ich gingen oft zusammen aus, speisten, tranken Rotwein und unterhielten uns stundenlang. Er spielte schließlich zum Song „You Talk A Lot“ ein tolles Solo und Laurie steuerte ein gesprochenes Duett mit mir zu „Kinky Sweetheart“ bei.

Siobhan stattete mir einen Besuch ab und ich nahm sie mit zum Brunch ins Village, wo sie Lou Reed kennenlernte. Kurz vor dem Brunch hatten wir eine kleine Meinungsverschiedenheit. Sie war ein großer Fan von Lou und extrem schüchtern, weshalb sie zuerst gar nicht mitkommen wollte. Später lachte sie und erzählte mir, dass Lou, als ich auf die Toilette ging, zu ihr gesagt habe: „Ist es nicht unglaublich einfach, mit Dave auszukommen?“ Wir beide lachten über die Ironie, die darin steckte.

Ich hatte überhaupt viele großartige Gäste auf diesem Album. Lady Miss Kier von Deee-lite fungierte etwa auf allen Tracks als Back­ground-Sängerin. Auf dem Titel-Track, „Greetings From The Gutter“, steuerte sie im Mittelteil, der vor eigenwilligen Akkordwechseln nur so strotzte, eine großartige Improvisation bei. Teese Gohl komponierte unglaubliche Orchesterarrangements für das Album und im Speziellen für diesen Song, der das Album eröffnete. Die ersten Textzeilen lauten:

Greetings from the gutter

I’ve been here since yesterday

Sweet Dreams in the gutter

All the skeletons come out to play

Und das taten sie wirklich. Jeder Song war ein reinigender Prozess und erlöste mich von der Anspannung, die sich aufgestaut hatte.

Die Studiosessions wurden zu einer Art Happening. Dauernd kamen irgendwelche Leute vorbei. David Sanborn, der schon 1975 auf Bowies Album Young Americans gespielt hatte, schaute rein und spielte Saxofon auf „Oh No, Not You Again“. Und Mick Jagger sang im Hintergrund auf dem Track „Jealousy“.

Ich amüsierte mich großartig und liebte jede einzelne Minute. Es war schon seltsam, dass ich eine so tolle Zeit hatte und gleichzeitig diese düsteren Songs über Tod und Depressionen sang. Dass es mir viel besser ging, hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass ich über diese Themen sang.

Es fühlte sich an, als wäre ich in eine andere Dimension gerutscht, die von Bowie bewohnt wurde – dort wo sich britischer Rock und New Yorks Seele überlappen. Meine Musik ähnelte nicht unbedingt seiner, aber ich verneigte mich im Titelsong vor ihm. Als wir aufnahmen, realisierte ich, dass der Sound an Young Americans erinnerte. Am Ende des Songs „Oh No, Not You Again“ ließ ich Sanborn ein langes Solo spielen. Dann nahm ich ihn noch dabei auf, wie er und Carly Simon einen großen Streit inszenierten, wie ein Paar, das sich trennte. Das legte ich dann über ein sehr komplexes Jazz-Arrangement. Es war ein Soundtrack meines eigenen Lebens zu jener Zeit.

Ich erinnere mich noch, dass damals viele Leute sagten: „Wow, das klingt ja wie eine David-Bowie-Scheibe.“ Es stimmt, dass ich verblüffend nach Bowie klinge, wenn ich auf eine spezielle Weise singe. Er ist zwar ein unglaublicher Sänger, ich hingegen nicht – was an der tieferen Tonlage liegt. Mein Sohn Sam hat mit 15 einen ganzen Track im Stil von Bowies „Heroes“ aufgenommen. Er hat jedes Instrument – Schlagzeug, Gitarren, Keyboards – selbst eingespielt. Ich übernahm den Gesang und, ja, es klang genau wie Bowie.

Greetings From The Gutter war das erste Album, das ich ohne Band aufnahm, ohne die Spiritual Cowboys, die Eurythmics oder die Tourists. Also war es tatsächlich mein erstes Soloalbum. Ich tat einfach, was ich tun wollte, und experimentierte. Auf dem Album finden sich Tracks wie „Kinky Sweetheart“, auf dem eine Konversation zwischen Laurie Anderson und mir vor einem merkwürdig winkeligen Sound zu hören ist.

Staying at home

Plugging it in

Kissing the screen

Being a god

I thought about it in the Galleria

Liquid crystal like a Man Ray tear

A shiny surface, velveteen queer

Bailey contrast, a Lucas idea

I’ve seen your setup and it’s perfect in form

Let’s call somebody to connect both our arms

You bring the orange I’ll bring the clock

We’ll pay the dream police to circle the block

Die Textzeile „You bring the orange I’ll bring the clock“ bezieht sich auf Stanley Kubricks Film Uhrwerk Orange, der auf dem Roman von Anthony Burgess basiert. „Kinky Sweetheart“ ist ziemlich abgefahren und die Musiker waren angehalten, zu improvisieren. Bernie Worrell setzt die Hammond-Orgel förmlich in Brand. Es ist ein schräger und auf coole Weise experimenteller Song.

Als wir „St. Valentine’s Day“ aufnahmen, ließ ich die Band bezüglich der Akkorde im Unklaren und sie einfach mir folgen. Sie machten ein paar Fehler, doch statt sie zu beheben, ließ ich sie von einem ganzen Orchester unter der Leitung des Komponisten und Arrangeurs Teese Gohl nachspielen. Ich hatte noch nie davon gehört, dass irgendjemand sonst so etwas probiert hätte. Das Ergebnis war erstaunlich – eine Dissonanz, die im Kontext normaler Popmusik falsch klingt, aber auch wunderschön.

Ich spielte diese absonderlichen Song eines Nachts in meinem Apartment Damon Albarn und Alex James von Blur vor, nachdem wir die Straßen von Soho unsicher gemacht hatten. Sie waren bereits sehr bekannt in Großbritannien und ihr Album Parklife belegte den ersten Platz in den Charts. Beide hörten konzentriert bis zum Ende zu. Dann drehte sich Damon langsam zu mir und sagte: „Es ist gut, aber nicht so gut wie Blur.“ Dann begaben wir uns – nun in Begleitung von Terry Hall – in den nächsten Privatclub, um weiterzubechern. Ich konnte nicht wirklich mit Damon und Alex mithalten. Sie waren berauscht vor Glück und obenauf, wohingegen meine Stimmung immer noch im Keller festhing.

Jedes Experiment, das ich jemals ausprobieren wollte, musikalisch wie klanglich, kam nun zur Anwendung. Ich sagte einfach: „Scheiß drauf. Ich werde es einfach tun.“

Ich wollte einen richtigen Disco-Song schreiben. So entstand „Heart Of Stone“, den ich mithilfe von Background-Sängerinnen aus Harlem und Lady Miss Kier ausfeilte. Das ganze Album verbreitete ein Party-Feeling. Es war alles ein großes Vergnügen, weil ich kreativ sein wollte und mit phantastischen Musikern zusammenarbeiten konnte. Und wenn mir etwas nicht gefiel, konnte ich es einfach wieder verwerfen. Ich ließ mich intensiv auf verrückte Experimente ein, und wenn sie mal nicht funktionierten, wandte ich mich eben etwas Anderem zu. Obwohl für mich die Arbeit an einem Album eine Zeit des Genusses darstellt, war ich tatsächlich nur zwei Wochen in New York. Das ganze Album entstand in dieser kurzen Zeitspanne.

Bevor ich London verließ, um Greetings From The Gutter aufzunehmen, hatte ich mich mit dem mittlerweile weltbekannten Künstler Damien Hirst angefreundet und ihn gefragt, ob er sich nicht um das Artwork für das Album kümmern wollte. Er willigte ein und kam immer wieder mal im Studio vorbei, um sich inspirieren zu lassen. Damien gehört zu brillantesten Köpfen überhaupt und es ist kaum zu glauben, dass er tatsächlich die künstlerische Betreuung des Artworks übernahm.

Der Designer Laurence Stevens und ich besuchten Damien in seinem Atelier, wo er eine ganze Kunstinstallation namens Greetings From The Gutter sowie einzelne Kunstwerke für jeden Song schuf. Es war, als würde man einem modernen Alchemisten über die Schulter schauen dürfen. Die Bilder, die er kreierte, waren so simpel und riefen dennoch eine unmittelbare Reaktion hervor. „Jealousy“ wurde etwa durch ein hartgekochtes Ei, in dem Nähnadeln samt schwarzem Garn steckten, symbolisiert. Er hatte es so ultra-scharf fotografiert, dass es aussah, als könnte man es berühren. Die Arbeit, die er investierte, war außergewöhnlich. Alles, was er anpackte, war nicht von dieser Welt. Außerdem ist er ein großer Perfektionist. Ich erinnere mich noch an eine sehr betrunkene und hitzige Diskussion, bei der Lou Reed, Laurie Anderson und ich Damien davon abbringen wollten, sich für eine Performance die Hände chirurgisch abnehmen und wieder annähen zu lassen.

Als ich Greetings aufnahm, stand ich unter dem Einfluss der britischen Kunstszene. Ständig filmte und fotografierte ich im Stil von Andy Warhol. Das ging so weit, dass Lou sich eines Abends, als ich seine und Lauries Silhouetten auf dem Heimweg vom Abendessen von hinten und gegen die Straßenbeleuchtung filmte, zu mir umdrehte und sagte: „Beeil dich, Andy, du hinkst hinterher!“

Das Album-Artwork wurde letztlich so wertvoll, dass es mir Jahre später ebenso viel wert war wie ein Album, das sich fast so oft wie Sweet Dreams verkaufte. Wer hätte das vorhersagen können? Hmm, na ich.

Nach den Aufnahmesession zu Greetings From The Gutter, begab ich mich in David Lettermans Show. Lou Reed an der Gitarre, Bootsie Collins am Bass und Bernie Worrell am Keyboard begleiteten mich als meine verrückte, durchmischte All-Star-Band.

Am Tag vor der Show machte ich mich gerade in meinem New Yorker Hotelzimmer zurecht. Der omnipräsente Tony Quinn, mittlerweile mein persönlicher Assistent, befand sich wie üblich im Nebenraum. Tony war inzwischen unersetzbar, da er einfach in allem gut war – und Menschenskind, was waren das für Aufgaben, die sich ihm stellten.

Erst am Vortag hatte ich noch zu Tony gesagt: „Ich möchte eine Kamera aufstellen und ein Foto von jedem machen, der die West Eighth Street in Greenwich Village runtergeht.“ Tony meinte: „Ähm, okay.“

Ich befestigte ein Blitzlicht mit einem Verzögerungsmechanismus an einem Laternenmasten und verwendete Schwarz-Weiß-Film, den ich selbst in den Electric Lady Studios entwickeln konnte. Es war alles sehr kompliziert, da eine Menge undurchsichtiger Charaktere vorbeiflanierten. Ich weiß noch, das es eines der ersten Male war, dass ich Tony richtig gestresst sah.Letzten Endes gaben wir auf und gingen zurück ins Hotel.

Wenn man sich in einem Hotel befindet und etwas beim Zimmerservice ordert, dauert es meistens 40 Minuten, bis es gebracht wird. Man will schnell noch unter die Dusche hüpfen, aber dann klopft bereits jemand nach 15 Minuten an die Tür.

Ich ließ meinen Blick über die Karte schweifen und aus irgendeinem Grund entschied ich mich für Muschelsuppe, die ich noch nie zuvor bestellt hatte. Ich wollte mich also gerade duschen, als natürlich, ding-dong, der Typ vom Zimmerservice mitsamt seinem Wagen vor der Tür stand. Ich stand da, durchnässt, mit meinem Handtuch um die Hüften, und unterschrieb die Rechnung. Ich war am Verhungern, weshalb ich mich auf die Bettkante setzte und den runden Tisch mit seinen Klappflügeln zu mir heranzog. Das Handtuch spannte ein wenig, weshalb ich es beiseite legte. Es war ja sonst niemand da.

Ich wollte meinen Löffel gerade in die Suppe stecken, als einer der Klappflügel nachgab und die kochend heiße, klebrige Muschelsuppe mir auf die Eier und meinen Penis schwappte. Der ganze Teller. Ein dampfender, heißer Kleister.

Für Tony Quinn war es nun erneut an der Zeit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen. Ich versuchte, mir die Suppe, die so heiß war, dass sie sich schon wieder wie Eis anfühlte, aus der ungünstigsten Stelle überhaupt zu entfernen: „Scheiße, das ist echt gefährlich. Das können Verbrennungen dritten Grades sein.“ Ich fischte also nach dem Telefon und rief panisch in Tonys Zimmer an.

Er hob ab: „Was ist los, Dave? Alles okay?“

Ich schrie: „Aaaah! Scheiße! Komm schnell in mein Zimmer!“

Als er vor der Tür stand, hatte ich mein Handtuch wieder um, er konnte aber sehen, dass mein Gesicht knallrot war und aussah, als würde mein Kopf gleich explodieren.

Ich legte mich aufs Bett und sagte: „Hol meine Polaroid-Kamera!“ Ich legte das Handtuch ab und befahl Tony: „Schnell, mach sofort Bilder von meinem Penis und allem!“ Die Fotos sollten als Beweis dienen, falls wir das Hotel verklagten.

Der arme Tony!

Könnt ihr euch eine solche Job-Beschreibung vorstellen? Fotos von den Genitalien des Bosses zu schießen, nachdem er sich mit Suppe versengt hat? Tony fotografierte den ganzen betroffenen Bereich, der immer noch mit Muschelsuppe bedeckt war. Alles war rot und verbrannt. Ich durchlitt Höllenqualen, weshalb mir alles egal war. Er stand am Bettende und machte Nahaufnahmen, und ich dachte: „Oh, Gott, wie hat es nur so weit kommen können?“

Natürlich sah ich letztlich von einer Klage gegen das Hotel ab. Stattdessen rieb ich mich mit Körperlotion ein, nachdem ich zur Beruhigung ein kaltes Bad genommen hatte. Am nächsten Tag musste ich bei Letterman auftreten und konnte kaum gehen. Als ich Lou einweihte, gab er sich zwar einfühlsam, konnte aber gar nicht anders, als schallend loszulachen.

Im Anschluss daran, auf dem Weg zurück nach England, verwahrte Tony die Polaroid-Beweise in seinem Reisepass. Ich stand in der Schlange vor der Passkontrolle am Flughafen hinter ihm, als Tony seinen Pass vorlegte und alle Fotos von dem mit Muschelsuppe versengten Geschlechtsorgan fielen heraus. Ich habe noch nie einen so verwirrten und besorgten Gesichtsausdruck wie jenen des zuständigen Beamten gesehen. Tony lief knallrot an. Ich bepinkelte mich fast und gab mein Bestes, nicht über Tony zu lachen, der mich finster ins Visier nahm. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich mich wegdrehen musste, während der Beamte meinen Penis und meine Eier – feuerrot und mit Muschelsuppe verklebt – inspizierte. Er muss sich gefragt haben, mit was für einem Perversen er es hier zu tun hatte.

Es war eine der großen Lehren, die das Leben für einen bereithält. Ich fühlte mich prächtig und hatte mit Greetings From The Gutter ein tolles Album aufgenommen. Dann sollte ich bei Letterman auftreten. Lou Reed sollte Rhythmusgitarre und Bootsy Collins Bass spielen – eine abgefahren gute Band. Und dann ließ mich der liebe Gott wissen, so wie schon einst, als er mir eine Pflaume auf den Kopf fallen ließ: „Jetzt halt den Ball mal lieber flach, denn hier kommt die Muschelsuppe.“