Das Erste, an das ich mich erinnere, war ein sehr großer, grell-oranger Entenschnabel, gefolgt von einem sehr lauten Quaken. Ich hoffe, dass es nicht auch das Letzte ist, was ich dereinst zu hören bekommen werde.
Ich habe keine Ahnung, ob ich irgendwann ein Foto von mir im Kinderwagen sah, dann später eine Ente quaken hörte und diese beiden Dinge später miteinander vermengte, oder ob ich tatsächlich am Rande eines Teichs Brotkrumen auswarf, als eine Ente auf mich zustürmte und dabei ein begeistertes Gequake ausstieß. Doch der geneigte Leser kann nachvollziehen, dass inzwischen schon viel Zeit vergangen ist, obwohl ich Fotos habe, die beweisen, dass ich tatsächlich damals dort war.
Ich wurde geboren und lebte in der Barnard Street in Sunderland, im industriellen Nordosten von England gelegen. Als ich alt genug dafür war, ging ich an fünf Tagen in der Woche zu Fuß zur Barnes Infant School. Es schien ein sehr weiter Weg zu sein, obwohl ich fairerweise gestehen muss, dass sie sich bloß drei Straßen weiter befand. Jedoch musste ich eine Hauptverkehrsader, die Cleveland Road, überqueren – und ich war ja erst fünf Jahre alt! Ich erinnere mich an die vielen roten Ziegelsteine, auf denen man mit weißer Kreide malen konnte, sowie den Geruch von heißem Teer, in den man Löcher stochern konnte, was so ein durchdringendes und befriedigendes Gefühl mit sich brachte, dass ich das sogar heute noch vermisse.
Wenn ich zurückdenke, dann kommen mir nie Kälte oder Regen in den Sinn, was eigentlich irre ist, da es in Sunderland zumeist saukalt ist. Tatsächlich kommt einem der Regen aufgrund des heulenden Windes, der von der Nordsee kommt, meistens horizontal entgegen. Ich erinnere mich auch noch daran, dass sich meine kurzen Beinchen, als ich in der Schule eintraf, anfühlten, als ob sie von tausenden Blasrohren unter Beschuss genommen worden waren.
In erster Linie ist die Erinnerung an meine Kindheit aber von Sonnenschein geprägt und der langsame Spaziergang zur Schule war ein magisches Erlebnis voller Abenteuer, Vergnügen sowie großer Gefahr. Nun, 1957 fuhr vermutlich nur ein Auto alle zehn Minuten die Cleveland Road entlang, aber mir kam sie dennoch sehr stark befahren vor – und um den richtigen Zeitpunkt zum Überqueren zu finden, mussten diverse Faktoren miteinbezogen werden: den eingeschlagenen Kurs eines sich bergauf bewegenden Automobils durch den Raum als einer Funktion der Zeit, die Schrägentfernung und den Neigungswinkel sowie ich selbst. Ein Auge ruhte auf dem Süßigkeitenladen und das andere war auf den Wagen gerichtet, während ich mit wässrigem Mund und dem Kopf voller „fliegender Untertassen“ und „spanischem Gold“ – britische Süßigkeiten aus jenen Tagen – auf die andere Straßenseite zuhielt. Das war auch damals schon eine schwere Entscheidung: Wie kann ich der Versuchung im Angesicht herannahender Gefahr entsagen? So wurde ich, ohne dass es meine Eltern mitbekamen, etliche Male beinahe platt gemacht und schaffte es nur um Haaresbreite zum Süßwarengeschäft.
Ich wusste es zwar damals noch nicht, aber die Teenager des Landes befanden sich gerade in Hysterie, da Bill Haley and His Comets aus Amerika ankamen. Zu jener Zeit war Skiffle der letzte Schrei, eine Art bluesige Folk-Musik, die in erster Linie auf selbst angefertigten Instrumenten gespielt wurde. Das war der erste Boom des „Do-It-Yourself“, wie wir Engländer das Heimwerken nennen. Tommy Steele war unser erster Teenager-Rockstar. Joan Collins war ein Starlet. Elvis stand kurz davor, sich der Armee anzuschließen, und der britische Premierminister musste wegen der Suez-Krise seinen Hut nehmen.
Einst war Sunderland eine der weltweit wichtigsten Städte der Schiffsbauindustrie. Der Leitspruch der Stadt lautete: „Nil desperandum auspice deo“. Das bedeutet so viel wie: „Verzweifelt nie, vertraut auf Gott.“ Und mein Vater, John James Stewart, oder Jack, wie ihn jeder nannte, verkörperte genau diese Mentalität. Er war zwar kein sehr religiöser Mann, doch ein sehr moralischer Mensch und hasste jegliche Art von Ungerechtigkeit. Er entstammt einer Arbeiterfamilie und sein Bruder Dick und er liebten Fußball. So wie ich auch. Als sie Kinder waren, tollten sie barfuß auf den Pflastersteinstraßen herum und spielten den ganzen Tag. Jedoch waren Fußbälle viel zu teuer, weshalb sie sich einen aus einer Schweineblase, die sie vom Metzger bekamen, bastelten. Sie bliesen das Ding wie einen Ballon auf und versiegelten es. Wenn die Blase dann getrocknet war, hatten sie einen unförmigen Fußball.
Mein Dad war ein Laufbursche für eine kleine Buchhaltungsfirma namens Alan J. Gray and Sons. Damals war es schwer, irgendeine Anstellung zu finden, vor allem, wenn man nur wenig Geld hatte, da man die richtige Kleidung und anständige Schuhe brauchte. Sein Vater sparte ungefähr drei Jahre lang, um meinem Dad ein Fahrrad kaufen zu können, damit er zur Arbeit und zurück fahren konnte. Allerdings wurde es ihm gleich in seiner ersten Arbeitswoche gestohlen. Er ging den ganzen Weg zu Fuß nachhause und weinte, weil er wusste, wie viel sein Vater hatte arbeiten müssen, um ihm das Fahrrad besorgen zu können.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verpflichtete sich Dad als Funker bei der Royal Air Force. Sein Job bestand darin, aus dem Heck eines Flugzeugs oder vom Boden aus Funksprüche zu morsen oder zu entschlüsseln. Morse-Codes waren im Zweiten Weltkrieg unverzichtbar. Sie wurden hauptsächlich von Kampfflugzeugen verwendet, vor allem von Langstreckenfliegern auf Patrouille, die ausgeschickt wurden, um nach feindlichen Kriegsschiffen, Frachtern und Truppentransportern Ausschau zu halten. Jahre später baute er ein Morse-Gerät in unserer Garage. Ich erinnere mich daran, wie er meinem Bruder John und mir zeigte, wie man es benutzte und Nachrichten dechiffrierte.
Meine Mom, Sadie, entstammte einer Familie tüchtiger, willensstarker Frauen, zu denen auch ihre Zwillingsschwester Louise sowie ihre ältere Schwester Emily und ihre jüngere Schwester Eleanor zählten. Der Vater meiner Mom starb, als sie erst neun Jahre alt war, und meine Großmutter musste sich ganz alleine um die vier Mädchen kümmern, während sie gleichzeitig ein Pub namens Travelers Rest in Sunderland betrieb.
Mom fand schließlich Arbeit in derselben Firma, in der auch mein Dad angestellt war. Ihr Chef ermutigte die Büromädchen, den Jungs in den Streitkräften zu schreiben, um sie während ihrer langen Einsätze fern der Heimat aufzumuntern. So begannen meine Eltern, sich Briefe zu schreiben, während mein Dad gerade für vier Jahre in Indien stationiert war.
Wenn ein Junge heranwächst, blickt er zu seinem Vater auf. Jack war die perfekte Vaterfigur, ein ganzer Mann mit einer sanften Art. Ich lernte über die Jahre hinweg viele großartige Menschen kennen, aber nur sehr wenige kamen an meinen Dad heran.
Seaburn war Jacks liebster Ort auf Erden. Dabei handelt es sich um einen atemberaubenden Strand in Sunderland und auch ich verbinde mit ihm etliche Erinnerungen. Eine spezielle Stelle dort heißt Cat and Dog Steps. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie sie zu dem Namen kam, aber eine Theorie besagt, dass es „Hunde und Katzen“ auf einen herabregnet, wenn der Seegang richtig heftig ist und die Wassermassen gegen den Uferdamm prallen.
Manchmal gingen wir zu Notarianni’s Ice Cream Parlour, wo ich eine Waffel mit zwei Kugeln echtem hausgemachten italienischen Eis und einen Schokoriegel, der darin steckte, bekam. Die reinste Magie! Während ich an diesem gefrorenen Meisterstück leckte – meine Arme und mein Gesicht waren mit Kratzern und Abschürfungen vom Fußball bedeckt, meine Knie dreckig und meine Shorts nass – spazierte ich an der Hand meines Vaters und dribbelte immer noch einen Fußball vor mir her. Ich fühlte mich so gut, wie man sich als Kind nur fühlen konnte.
Ich liebte es, meinen Vater lachen zu hören, und er lachte über die albernsten Dinge, zum Beispiel wenn ein Regenschirm sich umstülpte. Er lachte sogar noch lauter, als unser schwarzer Labrador Solo beschloss, unter meiner Mom aufzustehen, während sie auf dem Beifahrersitz unseres Wagens saß und wir gerade an einer Ampel hielten. Fußgänger blieben mit offenen Mündern stehen, verschränkten die Arme und starrten auf unseren winzigen Morris Minor, während die Füße meiner Mom nun auf dem Armaturenbrett lagen, ihr Kleid ihr über die Taille rutschte und ihre Unterhosen für alle sichtbar wurden. Als Draufgabe ragte Solos Kopf zwischen ihren Beinen hervor.
Das Hobby meines Vaters war das Tischlern und er hatte sich in einer Hütte im Hinterhof eine Werkstatt eingerichtet. Dort zimmerte er den Großteil unserer Möbel zusammen. Alles, worauf wir schliefen, saßen oder aßen, war in dieser kleinen Hütte gebastelt worden. Ich wurde jedoch nicht nur einmal, sondern gleich zwei Mal von dort verbannt. Einmal, weil ich die Holzspäne in Brand gesteckt und beinahe alles niedergebrannt hatte. Und ein zweites Mal, als sich das Fell unserer Katze in Dads Elektrobohrer verfing, was sie fast das Leben gekostet hätte.
Einmal verbrachte Dad viele Monate mit der Arbeit an etwas Besonderem, behielt aber für sich, worum es sich dabei handelte. Ich sah ihn schließlich auf einer Leiter im Wohnzimmer und in der Küche. Er hielt kleine hölzerne Kisten und Drähte in den Händen. Allerdings war ich mir nicht wirklich sicher, was er vorhatte. Es handelte sich um ein gut gehütetes Geheimnis und es verstrichen viele Monate, bevor wir herausfanden, woran er arbeitete.
Am Tag, als sein Werk vollendet war, explodierte unser Haus förmlich vor lauter MUSIK: „Oh, What A Beautiful Mornin’“, „I Whistle A Happy Tune“ und Songs aus dem Musical South Pacific wie „There Is Nothing Like A Dame“ oder „Bloody Mary“. Er hatte das Haus eigenhändig mit einer Soundanlage ausgestattet und musste Geld gespart und jedes Musical-Album von Rogers und Hammerstein nur für diesen Moment gekauft haben.
Von diesem Augenblick an hörten wir jeden Morgen Nummern aus Musicals wie South Pacific, The King And I, Oklahoma! oder Mandelaugen und Lotosblüten. Seite für Seite kannte ich diese umwerfenden Vinyl-Platten und alle darauf enthaltenen Songs bald auswendig. Unsere Nachbarn konnten einen sechs Jahre alten Dave nun dabei beobachten, wie er auf der Straße spazierte und dabei lauthals „There Is Nothing Like A Dame“ schmetterte. Viele Jahre später, auf dem Höhepunkt meines Ruhms, erwischte ich mich gelegentlich selbst dabei, wie ich unter der Dusche oder in einem Flughafen „Getting To Know You“ aus The King And I oder „I Enjoy Being A Girl“ aus Mandelaugen und Lotosblüten anstimmte.
Mein Vater hatte eine großartige Stimme und sang überall im Haus zu Aufnahmen von Sängern wie Perry Como, Nat King Cole und Frank Sinatra. Als er ungefähr 70 war, gab er mir gegenüber zum ersten Mal zu, dass er eigentlich immer ein Sänger hatte sein wollen. Das war ein sehr rührender Moment. Seine Liebe zur Musik muss auf mich abgefärbt haben, obwohl ich mir dessen damals noch nicht bewusst war. Ich war überrascht herauszufinden, dass mein Dad diesen geheimen Wunsch hegte, allerdings war er auch ein sehr facettenreicher Typ. Der ganzen Health-Food-Welle war er beispielsweise überraschend weit voraus. Als er im Zweiten Weltkrieg in Indien stationiert war, erlernte er nicht nur Yoga, sondern fing auch an, sich intensiv mit Ernährung auseinanderzusetzen. Als er also nach dem Krieg zurückkehrte und der übliche Speiseplan in Nordengland Nahrungsmittel wie Pies and Peas, Fish and Chips, Dosengemüse, Biskuitrouladen und Weichkekse umfasste, die mit Brausegetränken oder Bier runtergespült wurden, aß er braunen Reis, Joghurt, Körner und Nüsse. In Sunderland! Jedenfalls war er enorm stolz darauf, dass er 60 Jahre lang sein Gewicht und seine Taille halten konnte.
Meine Eltern waren wenige Kilometer voneinander entfernt zur Welt gekommen. Jedoch freundeten sie sich wie erwähnt im Verlauf des Krieges per Briefverkehr an. Auch die Zwillingsschwester meiner Mom, Louise, hatte einen Brieffreund, der bei den Streitkräften diente. Als die beiden Männer schließlich zurückkehrten, wurde beschlossen, dass es eine Doppelhochzeit – für Zwillinge maßgeschneidert – geben würde. Die vier heirateten also am selben Tag und in derselben Kirche – und lebten anschließend im selben Haus. Dies war selbstverständlich ein gefundenes Fressen für die lokale Tageszeitung, das Sunderland Echo.
1962 blätterte mein Vater etwa 4.000 Pfund für ein größeres Haus in der Ettrick Grove hin – für damalige Verhältnisse ein Vermögen. Für mich klang „Grove“ viel vornehmer als „Street“. Die Schule, die ich bald schon besuchen würde, befand sich hinter unserem Haus. An die Vorderseite schlossen eine Reihe von Läden an, darunter ein vorzüglicher Fish-and-Chips-Kiosk, eine Bäckerei, eine Apotheke und ein Zeitungsgeschäft, das meiner Großmutter gehörte.
Verglichen mit dem, was ich gewohnt war, herrschte hier richtiges Großstadtflair. Ich war immer schon hyperaktiv, doch nun, angesichts all dieser neuen Impulse, schaltete ich noch ein paar Gänge höher. Am liebsten hätte ich alles gleichzeitig unternommen: Ich kletterte auf Bäume, da in unserem Garten schöne Apfelbäume wuchsen, und begab mich auf die Suche nach Vogelnestern im Barnes Park. Einmal fand ich ein kleines Nest mit winzigen Küken darin und ging davon aus, dass sie von ihrer Mutter in Stich gelassen worden waren. Ich klopfte gegen die Scheibe des Küchenfensters, meine Mom öffnete, woraufhin ich die hilflosen Jungvögel meiner Mom übergab, die eigentlich gerade den Abwasch erledigte. Ich rief: „Drei Mal am Tag Würmer!“ Dann lief ich davon.
Meine Mom musste mit all meinen exzentrischen Anwandlungen und Macken zurechtkommen, etwa der akribischen Pflege alter Pennys oder dem Stabhochsprung, den ich während meiner Schulzeit ausübte. Ich war letztlich so besessen davon, dass ich eine zweieinhalb Meter lange Bambus-Stange für das Training zu Hause benutzte. Außerdem focht ich mit einem selbstgebastelten Florett gegen unsichtbare Widersacher oder versuchte, mittels eines Kreidestücks, das sich an der Spitze meiner Stichwaffe befand, „Zorro“ an die Wand zu schreiben. Dann wiederum orchestrierte ich weitläufige Schlachten zwischen Piraten- und Ritterfiguren aus Plastik, die den Frühstücksflocken beilagen.
Ich nahm alles todernst – als ob nichts anderes zählen würde. Und doch bewältigte ich vielleicht 20 solcher selbstauferlegten Aufgaben pro Tag.
* * *
Es gibt ein uraltes, dem Heiligen Petrus geweihtes Kloster in Monkwearmouth, einer Gegend von Sunderland, die sich unmittelbar nördlich der Mündung des Flusses Wear befindet und in der Beda der Ehrwürdige lebte und arbeitete. Dort schloss dieser legendäre Heilige auch im Jahr 731 die berühmte historische Schrift Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum ab, die Kirchengeschichte des englischen Volkes. Aufgrund seiner epischen Leistung wurde er zum „Vater der englischen Geschichtsschreibung“ und unsere örtliche Oberschule trug seinen Namen: Bede Grammar School for Boys.
Als ich dort eingeschult wurde, war die Bede Grammar School eine sehr altmodische Schule. Mörtelbretter und Umhänge gehörten dort noch zur Grundausstattung der Lehrer – wie bei Harry Potter. Aber 1964, während meines zweiten Schuljahrs, wurde auf ein neues System umgestellt, was mit sich brachte, dass nun Kinder unabhängig von schulischer Leistung oder sozialem Hintergrund angenommen wurden. Das war bezüglich mancher Bereiche eine gute Sache und in mancherlei Hinsicht eine schlechte. Zwar erhielten nun mehr Kinder eine gute Schulbildung, aber unsere Klassenzimmer waren mit einem Schlag überfüllt – 40 bis 50 Schüler wurden in einen Raum gepfercht. Auch verursachte es Probleme, Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten plötzlich zusammenzustecken – nicht nur für die, sondern auch für die Lehrer.
Als ich acht war, erhielt ich von meiner Großmutter ein wunderbares Weihnachtsgeschenk, einen winzigen tragbaren, batteriebetriebenen Spielzeug-Cassettenrecorder. Bevor ich jemals auch nur in Erwägung zog, Musik aufzunehmen, nahm ich Leute auf der Straße auf und erfreute mich daran, mir die Bänder anschließend anzuhören. Das war echt aufregend für mich, denn innerhalb weniger Sekunden konnte ich mit diesem Gerät die Realität einfangen und noch einmal erleben. Ich weiß noch, wie es mich verblüffte: „Wow, vor gerade mal fünf Minuten habe ich das auf der Straße gehört und jetzt sprechen diese Leute in meinem Zimmer.“ Natürlich stellen solche tragbaren Aufnahmegeräte heute eine Selbstverständlichkeit für uns dar. Aber für mich war das damals ein kleines Wunder.
Schon mein Dad hatte Fußball gespielt und auch ich wuchs damit auf. Obwohl mein Dad nur durchschnittlich groß war, war er für mich ein großer Mann. Er wusste alles über Fußball und besuchte fast jedes Spiel des Sunderland A.F.C. Der Bruder meines Dads, Dick, arbeitete für den Verein am Drehkreuz, weshalb mein Vater stets Einlass erhielt. Das war seine Saisonkarte. Als ich noch sehr jung war, nahm er mich oft mit und ich fuhr total darauf ab. Nichts kam an die Begeisterung heran, die auf diesem Fußballplatz herrschte – bis die Eurythmics zum ersten Mal in einem Stadion auftraten und wir denselben Zuspruch erfahren durften.
Ich wollte meinen Dad beeindrucken, indem auch ich gut Fußball spielte. Er ermutigte mich zu spielen, und schon bald war er bei meinen Spielen mit derselben Leidenschaft am Start wie bei denen der Profis. Er war ganz aufgeregt und aufgekratzt, wenn wir ein Tor erzielten oder gewannen – oder er zeigte sich frustriert, wenn wir verloren oder eine Chance ausließen. Er brüllte dann von der Seitenlinie: „Das Tor steht weit offen!“
Ich hatte so viel Energie und wusste nicht, wie ich sie bändigen sollte – genauso wenig wie meine Eltern oder sonst jemand. Fußball war das Einzige, was mich beruhigte. Ich war so manisch, dass ich acht Stunden lang durchspielte. Fußball half mir, mich zu fokussieren, und bald schon war es das Wichtigste für mich. Alles andere rückte in den Hintergrund. So als würde man langsam die Makrolinse einer Kamera einstellen – und plötzlich stand da Jiminy Cricket, kristallklar, und klopfte mit dem Handgriff seines Schirms gegen die Linse, um zu sagen: „Du, mein Sohn, bist ein Fußballer!“ Von diesem Moment an war das alles, wofür ich mich interessierte. Ich war ganz versessen darauf und wusste, dass ich eines Tages für Sunderland auflaufen würde. Es war alles nur eine Frage der Zeit.
Ich war natürlich nicht das einzige fußballverrückte Kind. Wir befanden uns schließlich im Nordosten Englands. Wir liebten es, Fußball anzusehen, ihn zu spielen, darüber zu quatschen und darüber nachzudenken. Er war meine erste und einzig wahre Leidenschaft, bevor die Musik an seine Stelle rückte. Aber das sollte noch zwei oder drei Jahre dauern. Jeder spielte Fußball auf der Straße. Man trat einfach vor die Haustür und achtete darauf, dass gerade kein Auto heranbrauste und einen niederfuhr. Dann wurden Bälle gegen Wände gedroschen und um Laternenmasten herum gedribbelt. Begleitet wurde dies vom imaginären Getöse 60.000 tollwütiger Fans. Das war ein großer Spaß. Es fühlte sich gut an. Die Luft war frisch und sauber und wir kickten, bis wir absolut fix und fertig waren. Es fiel mir jedenfalls nie schwer, einzuschlafen, denn ich war oft so erschöpft, dass ich noch halb angezogen einnickte. Wenn ich mich zu Bett begab, stellte ich meine Fußballschuhe am Bettende auf, damit ich sie noch ansehen konnte, während ich wegschlummerte.
Wenn wir ein richtiges Match auf einem richtigen Spielfeld bestritten hatten, trug ich meine Fußballschuhe an ihren langen Schnürsenkeln um den Hals nachhause, wo ich den Morast abkratzte und sie mit schwarzer Schuhpolitur zum Glänzen brachte. Ich saß dann in der Küche und polierte sie wie besessen. Rückblickend waren das vielleicht die ersten Male, dass ich high war.
Fußball geht in England immer Hand in Hand mit Musik. Anders als etwa in Amerika singt das Publikum während des gesamten Spiels. Die Gesänge und Anfeuerungsrufe sind dabei ebenso witzig wie höchst anstößig. Manchmal singen die Zuschauer Rocksongs wie „We Are The Champions“ oder „Start Me Up“. Während des WM-Finales von 1966, als England die Bundesrepublik Deutschland bezwingen konnte, sangen die englischen Anhänger den Song „Sunny Afternoon“ von den Kinks, der sich damals gerade an der Spitze der Charts befand. Und heute ist es ein großes Vergnügen zuzuhören, wie heisere Stimmen „Sweet Dreams (Are Made Of This)“ singen.
Mein erster Held war nicht etwa Superman oder 007 oder Steve McQueen, sondern der gertenschlanke nordirische Fußballer George Best, der ebenso berühmt war wie die Pop-Ikonen der Sixties und auch genauso oft fotografiert wurde wie McCartney, Jagger oder Twiggy. George zechte, legte wunderschöne Frauen flach und besaß einen Nachtclub namens Slack Alice – doch wenn er auf dem Spielfeld stand, agierte er brillant und unerschrocken.
Bevor ich in die Pubertät kam, fing ich auch an, mich für andere Dinge als Fußball zu interessieren. Doch schien Sunderland und Umgebung nicht gerade viel in Bezug auf Kultur bieten zu können. Damals musste man sich schon auf die Suche danach begeben. Es gab kaum Theateraufführungen, Kunstausstellungen oder musikalische Angebote. Das Sunderland Empire, eigentlich eine Bastion des Varietés, von Theaterinszenierungen und pantomimischen Aufführungen, wo auch Jongleure, Sängerinnen, Bauchredner und altbackene Komiker auftraten, bot schon seit geraumer Zeit auch Rock’n’Roll-Shows mit Sängern wie Dickie Pride und Vince Eager – oder den besten von allen: Marty Wilde und Billy Fury – eine Bühne.
Als ich mich schließlich mit Popmusik zu beschäftigen begonnen hatte, traten die Beatles im Sunderland Empire auf. Das war am 9. Februar 1963. Sie standen ganz unten auf dem Plakat einer gemeinsamen Tour mit Helen Shapiro. Ich wusste von dem Konzert, weil mein Bruder John dort war und mir im Anschluss daran mitteilte, dass er praktisch taub sei, weil die Mädchen John, Paul, George und Ringo so laut angekreischt hatten.
Obwohl sie in meinem späteren Leben eine übergeordnete Rolle einnehmen sollten – sowohl beruflich als auch privat – hatte ich damals noch kein Interesse an Mädchen, auch wenn ich merkwürdig erregt war, als ich zum ersten Mal Emma Peel in ihrem hautengen Lederkostüm in der Fernsehserie Mit Schirm, Charme und Melone sah. Um ehrlich zu sein, habe ich seit damals eine Vorliebe für solche Outfits.
Das Sunderland Empire wurde zunehmend zu einem Ort, der eine magische Ausstrahlung auf mich ausübte. Mein Bruder John hatte es kaum erwarten können, mir von den Beatles zu berichten. Es war vielleicht überhaupt das erste Mal in meinem jungen Leben, dass er mir irgendetwas erzählen wollte. Das war aber verständlich, immerhin waren mein Bruder und seine Kumpels vier Jahre älter als ich. Sie unterhielten sich über Mädchen, rauchten und trugen lange Hosen. John hielt mich für eine Nervensäge und versuchte unablässig, mich loszuwerden, indem er mich am Torpfosten des Rugbyfeldes unserer Schule festband oder auf einen fahrenden Bus aufsprang und mich weinend auf dem Bürgersteig zurückließ. Das Extremste, was er je tat, war, mich für fünf Stunden in einen Hasenkäfig, der in unserem Garten stand, zu sperren – mitsamt dem Hasen. Meine Eltern hatten davon keine Ahnung und wandten sich an die Polizei.
John und ich fingen an, uns mehr und mehr zu streiten. Es wurde ziemlich schlimm und einmal versteckte ich mich hinter der Küchentür mit einem großen Tranchiermesser und wartete darauf, dass er von der Schule nachhause kam. Als er schließlich in die Küche schlenderte, sprang ich hervor, hielt ihm das Messer an die Kehle, drehte ihn herum und drückte ihn gegen die Wand. Ich sagte: „Wenn du noch einmal fies zu mir bist, dann werde ich dich umlegen.“ Danach wurde alles ein wenig besser. Er war eigentlich ein echt netter Junge, aber Brüder, die vier Jahre auseinanderliegen, sind in diesem Alter mitunter einfach eine Katastrophe.
Da John nun anfing, an der Welt der Musik und der Mädchen teilzuhaben, ergab es Sinn, dass ich mir nun auch zum ersten Mal wirklich Gedanken bezüglich Mädchen machte. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, fuhr ich mit der Schule nach London, wo wir eine Woche lang in einem Bed & Breakfast in Paddington übernachteten. Dort teilten sich ungefähr acht Kinder ein Zimmer. Im Laufe dieser Exkursion unternahmen wir einen Bootsausflug auf der Themse. Die Sonne ging hinter der Londoner Kulisse unter und ich weiß noch, dass ich ein Mädchen betrachtete: ihre sanft wehenden Haare und die Sonne auf ihrem Gesicht, wenn sie lächelte. Mir dämmerte es: „Hmmm, yeah. Mädchen sind anders.“
Kurze Zeit später war ich am Strand in Seaburn und sah die blonde Schönheit mit einer Freundin zusammen auf dem Waltzer, einem schrecklichen Karussell, das mich nachvollziehen ließ, wie sich jene Katze, die sich im Elektrobohrer meines Dads verfangen hatte, gefühlt haben mochte. Nachdem ich sie wiedererkannt hatte, begann mein Herz sofort heftig zu schlagen. Mit trockenem Mund und zittrigen Knien sprang ich schnell zu ihr und ihrer Freundin auf die Sitzbank, gerade als der Haltebügel heruntergelassen wurde und sich das Ding zu bewegen begann.
Plötzlich sprang ein tätowierter Kerl, der mit seinen gegelten Haaren und seinen engen Jeans wie ein junger Elvis aussah, auf den Waltzer, um Geld für die Fahrt zu kassieren – zumindest tat er das bei mir, die Mädchen fuhren offenbar kostenlos. Er zwinkerte ihnen zu und lächelte sie an. Dann drehte er mit seinem starken Arm unsere Sitzbank in die entgegengesetzte Richtung herum. Zuerst dachte ich, das sei okay, weil so Körper A eine Kraft F auf Körper B ausübt und dann wiederum Körper B eine ebenso starke und entgegengesetzte Kraft F auf Körper A, was theoretisch dazu geführt hätte, dass wir ganz bewegungslos dagesessen hätten. Was wir vielleicht zwei Sekunden lang – eine halbe Ewigkeit – auch taten, während gleichzeitig „I Can’t Stop Loving You“ von Ray Charles aus den Lautsprechern erklang. Ich war zum ersten Mal verliebt.
Dann begann das dritte Newtonsche Gesetz seinen Tribut zu zollen und wir zischten mit beunruhigender Geschwindigkeit davon – und zwar anscheinend in alle Richtungen gleichzeitig. Ich weiß noch, wie ich angesichts dieses schönen Moments lächeln musste und mir vorstellte, sie wäre meine Freundin. Dann biss ich die Zähne zusammen und begriff, dass mein Gehirn mir Streiche spielte und mein Magen meiner Rachenhöhle einen Besuch abzustatten schien. Ohne Vorwarnung schoss mir eine Mischung aus Zuckerwatte, kandiertem Apfel und rosa Schleim aus dem Mund und schwebte wie in der Schwerelosigkeit auf den Oberkörper meiner einzig wahren Liebe zu. Ich klammerte mich am Bügel fest, während sie einen stillen Schrei ausstieß und ihre Freundin mir einen Blick zuwarf, der nahelegte, dass ich ihre Pläne, mit dem tätowierten Elvis-Schausteller zu flirten, komplett über den Haufen geworfen hatte. Als wir irgendwann zum Stillstand kamen, wankte ich von dannen und blickte nicht mehr zurück. Dies war definitiv ein Omen für viele meiner zukünftigen Beziehungen.
Jedoch gab es tatsächlich ein junges Mädchen, das total entzückt von mir war. Sie lebte mit ihren Eltern nebenan. Ich war mir ihrer Gefühle nicht bewusst, bis sie eines Tages ein Straußenei vor unsere Haustür legte. 50 Jahre später habe ich immer noch keine Ahnung, woher sie es hatte oder was es damit auf sich hatte. Ich verstaute das Ei in meinem Bettgestell und versuchte, es auf diese Weise auszubrüten. Als meine Mutter schließlich das Laken wechselte, war sie nicht weniger überrascht, als ich es gewesen war. Dies war nur einer von vielen sonderbaren Annäherungsversuchen, die das Mädchen von nebenan unternahm, um meine Aufmerksamkeit und mein Herz für sich zu gewinnen.
Der bizarrste ereignete sich einen Monat später, als sie mich zu sich nachhause einlud. Sie führte mich durch den Laden ihrer Eltern hindurch in den Garten hinaus, der nicht gerade der romantischste Ort für einen ersten Kuss war. Sie hatte etwas Besonderes, das sie mir zeigen wollte. Mein junges Herz schlug höher, da ich dachte, es handelte sich dabei um ihre Brüste. Doch es war vielmehr das Auge einer Kuh, in dem ein Knallfrosch steckte. Sie lächelte, legte das Auge ins Gras, zündete den Knallfrosch an, ging einen Schritt rückwärts und ergriff meine Hand. Es gab eine Explosion und Sekundenbruchteile später war mein Gesicht vom Schleim des Kuhauges bedeckt. Das schreckte sie aber nicht davon ab, mich zu küssen und mir ins Ohr zu flüstern: „Nun, liebst du mich?“