Montagnachmittag
1
Laut Meldeamt wohnte Philipp Stamm im Spitzweidenweg 20. Linda parkte den Wagen eine Querstraße weiter. Dann zündete sie sich eine Kippe an und wartete auf den Rückruf der KPI. Falls es über Philipp Stamm einen Akteneintrag gab, würden sie unverzüglich informiert werden. Es galt als fahrlässig, einen der Körperverletzung Verdächtigen ohne vorige Abfrage aufzusuchen. Linda fragte Henry, wann er sein letztes Schießtraining absolviert hatte.
»Da waren wir zusammen.«
»Wirklich?«
»Meine Schussfrequenz wurde auf zweihundertfünfzig erhöht.«
»So schlecht? Muss ich verdrängt haben.«
»Danke für die Blumen.«
Linda strich ihm mütterlich über die Schulter. »Nicht traurig sein. Aus dem Jungen wird irgendwann ein echter Cowboy.«
»Ich wollte Indianer werden. Die Cowboys waren die Bösen.«
»Ach du Scheiße, der imperialistische Feind!«
»Mich beeindruckte der Freiheitskampf des roten Mannes.«
»Und jetzt liest du amerikanischen Schund.«
»Jetzt bin ich Bulle.«
Sobald Linda die Daten vom Erkennungsdienst erhalten hatte, instruierte sie Henry. Unauffällig checkte er seine Pistole. Magazin, Sicherung, Abzug. Dann schob er die P10 zurück ins Holster, zog sein Jackett darüber und zwinkerte Linda zu.
2
Das zehnstöckige Hochhaus war im Umkreis das höchste seiner Art, ein orangefarbener Bauklotz aus den Spielkisten der Emiter. Stamm wohnte im achten Stockwerk auf der linken Seite. Henry drückte die Klingel eines anderen Mieters. Um sich unnötige Erklärungen zu sparen, meldete er ein Paket an.
»Klingle nächstes Mal woanders, du Arschloch?«
»Sorry.«
»Geschenkt!«
Der Summer ertönte.
Linda und Henry trennten sich hinter der Tür. Sie nahm den Lift, er das Treppenhaus. Bislang hatte er keinen Schuss auf eine Person oder ein Tier abfeuern müssen, nicht einmal einen Warnschuss in die Luft. Lediglich zur Eigensicherung hatte er einige Male den Druckknopf des Holsters gelöst.
Vorbildliche Polizisten äußerten in der Öffentlichkeit, dass sie dankbar seien, noch nie geschossen zu haben. Im Fernsehen pflegte man das Image des sympathischen Freund und Helfers. Polizisten, die unter ihrer Arbeit zu zerbrechen drohen und sich dennoch keinen anderen Broterwerb vorstellen können. Gleichwohl kannte Henry das Gerede in der Umkleide. Das Posieren mit gezückter Pistole vor dem Spiegel, die Actionmotive auf Fotos. Die Besessenheit, mit der manche Polizisten ihre Waffen reinigen. Irgendwann will man wissen, ob das eigene Kind Papa sagen kann. Hatten die Gesetzeshüter genug intus, polterten die leichthin gesagten Sätze: Am liebsten hätte ich dem Wichser den Schädel weggeblasen. Ein einziger Schuss erspart Unsummen an Gerichtskosten. Sobald der draußen ist, spielt er wieder verrückt. Von wegen Resozialisierung. Also kurzer Prozess und peng!
Bei den meisten Menschen blieb es bei Geschwätz unter Freunden oder heimlich gepflegten Phantasien. Doch er und seine Kollegen trugen den Abzug direkt am Körper. Eine greifbare Phantasie ist wie eine angelehnte Tür, hatte Henry irgendwo gelesen. Nur wenigen Kollegen war es vergönnt, ein angefahrenes Reh vor den Lauf zu bekommen.
Dank seiner Kondition traf Henry vor Linda im achten Stock ein. Der Lift öffnete sich, und sie stand da, die rechte Hand unter ihrer Lederjacke am Holster.
Henry nickte nach links. Linda nickte zurück.
Aus der Wohnung drang kein Mucks, und auf Lindas Klopfen meldete sich niemand. Sie klopfte ein zweites Mal, und noch immer blieb alles still. »Vielleicht ist er bei seiner Freundin.«
Henry und Linda zogen ab.
3
Im Wagen steckte sich Linda eine Zigarette an. »Gleich Mittagspause. Bock auf Pommes?«
»Hätten wir nicht die Nachbarn befragen sollen?«
»Finde ich zu früh. Wir haben keine Ahnung, in welchem Verhältnis sie zum Gesuchten stehen. Ich hab da schon die unglaublichsten Zufälle erlebt. Sie könnten ihn vorwarnen oder so.« Lindas Tonfall ließ vermuten, dass die unglaublichsten Zufälle gleichzeitig die bösartigsten gewesen waren. »Lass uns erst mal seiner Freundin einen Besuch abstatten.«
»Laut Herrn Zabel sind sie kein Paar mehr.«
»Okay, dann eben seine Ex.«
Als Linda den Zündschlüssel drückte, bekamen sie die Nachricht, in Lobeda-West habe es einen Suizid gegeben. Der Notarzt sei sich unsicher, ob man ein Fremdverschulden ausschließen kann. Die Kripo musste in solchen Fällen den Suizid zweifelsfrei bestätigen. Das hieß: Tigerbalsam unter die Nase, Protokolle abzeichnen. Für Finder und Angehörige gegebenenfalls den Krisendienst anfordern. Der Besuch bei der Zeugin verschob sich auf den Nachmittag.
4
Fünfzehn Uhr dreißig. Markt 23, ein Rotzfaden vom Rathaus entfernt. Vanessa Fiebig hatte die Polizei bereits erwartet. Thomas Zabel hatte völlig hysterisch angerufen und ihr mitgeteilt, dass die Bullenschweine bei ihm aufgetaucht wären. Das gab sie freimütig zu und führte die Beamten ins Wohnzimmer.
Sie bot ihnen jeweils einen Sessel an, während sie selbst auf die Couch rutschte. Ohne Umschweife fragte sie Henry, ob man heutzutage als Polizist lange Haare tragen dürfe. Verstoße das nicht gegen irgendeinen Paragraphen? Henry meinte, das Gegenteil sei der Fall. Ein Verbot langer Haare würde den Grundsatz der Gleichheit missachten. Außerdem sei ein Zopf bei der Arbeit nicht hinderlich, also keinerlei Gefahrenquelle.
Die fünfundzwanzigjährige Frau arbeitete in einer Boutique als Verkäuferin. Sie trug eine eng anliegende Jeans und ein ärmelloses Shirt. Durch den Stoff hindurch erkannte Henry das Piercing an ihrer rechten Brustwarze. Die blonden Haare waren mit Hilfe eines Knotens hochgesteckt, der Hals lag frei. Ihre gesamte Erscheinung beurteilte Henry als äußerst attraktiv. Sicherlich hatte sie keine Schwierigkeiten, Männer aufzureißen.
»Aber an diesem Abend war nichts los gewesen«, sagte Vanessa Fiebig. »Fast nur Studenten. Kinder, verstehen Sie?«
»Waren Sie denn auf der Suche?«, fragte Henry.
»Wer ist das nicht?«
»Und was sagt Philipp Stamm dazu?«
»Wir sind getrennt. Ich kann machen, was ich will.«
Ihren Worten zufolge waren sie und der Gesuchte seit Ewigkeiten kein Paar mehr. Das sollte aber keineswegs bedeuten, dass er nicht hin und wieder vor Eifersucht raste. Anscheinend hatte er sie mitnichten abgeschrieben. Zumindest schloss das Vanessa Fiebig aus seinen täglichen SMS-Nachrichten. Henry fragte, ob Philipp Stamm an diesem Abend sehr betrunken gewesen sei.
»Hielt sich für seine Verhältnisse in Grenzen.«
»Das heißt genau?«, hakte Linda nach.
»Das heißt, er war gut zu Fuß unterwegs. Wissen Sie, diese Kinder kippen doch nach zwei Schnäpsen aus den Latschen. In der Uni schwingen sie kluge Reden, im Club reihern sie die Klos voll.«
»Sie schätzen Studenten nicht besonders?«
»Wenn die zu viel saufen, sind die schlimmer als die Prolls. Versuchen einen mit ihrem Gelaber zu beeindrucken. Immer hintenrum. Aber die meisten kassieren von mir eine Abfuhr. Ich sage einfach: Ich steh nicht auf Schwachmaten, und schon verduften sie. Haben halt keine Eier in der Hose.«
»Gehörte Herr Rode auch zu den meisten?«, fragte Henry und streifte mit einem flüchtigen Blick ihre Brüste.
»Das ist der Kerl, der jetzt im Krankenhaus liegt?«
»Ja.«
»Der war besonders penetrant.«
»Inwieweit?«
»Er hat nicht aufgehört zu glotzen.«
»Er hat Sie belästigt?«
»Ach was! Angestarrt hat er mich, völlig irre.«
Henry hatte plötzlich das Gefühl, Vanessa Fiebig meine ihn und nicht das Opfer Thomas Zabel. Um seine Verlegenheit zu überspielen, fischte er wie beiläufig seinen Notizblock aus dem Jackett. »Und wie haben Sie reagiert, als er keine Ruhe gab?«
»Ich bin hin und hab gesagt, er soll sich verpissen.«
»Waren Sie bei der Ansage nüchtern?«
»Meinen Sie, ich weiß nicht, was ich sage?«
»Das behauptet niemand. Ist nur fürs Protokoll.«
»Klar, Sie wollen mir einen Strick draus drehen.«
Ein unbehagliches Schweigen entstand. Das war keinesfalls ungewöhnlich, sobald die Wahrnehmung von Zeugen angezweifelt wurde. Henry blätterte in seinem Notizblock eine leere Seite auf. Als er mit der Befragung nicht fortfuhr, räusperte sich Linda und übernahm. Sie fragte, wie der Rest des Abends verlaufen sei.
Sebastian Rode habe sie trotz der unzweideutigen Abfuhr weiterhin beobachtet, erzählte Vanessa Fiebig. Er sei um sie herumgeschwirrt wie eine lästige Fliege. Um seine Visage zu ertragen, habe sie viel zu viel getrunken. Ihr sei beinahe der Kragen geplatzt. »Gegen vier sind wir dann abgehauen.«
»Sie, Herr Zabel und Herr Stamm?«
»Ja. Und jetzt raten Sie mal, wer draußen stand?«
»Direkt vor dem Club?«
»Nein, am Botanischen Garten.«
»Und wie haben Sie reagiert?«
»Na, wie schon? Der Typ hat mich belästigt.«
Die Selbstverständlichkeit, die aus Vanessa Fiebigs Antwort tönte, schien Linda zu missfallen. Seine Kollegin beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich habe Sie gefragt, wie Sie reagiert haben!«
»Ich hab Philipp Bescheid gesagt.«
Mit ungebrochener Selbstverständlichkeit berichtete Vanessa Fiebig von einem kleinen Handgemenge. Mehr sei nicht vorgefallen, schließlich hatten sie ihm nur einen Schrecken einjagen wollen. Bei seinem nächsten Besuch sollte er sich genau überlegen, wem er auf die Titten starrte. Aber getreten habe ihn niemand, sagte sie. Erst recht nicht gegen den Kopf. Und ebenso wenig hätten sie ihn bespuckt und angepisst. Jedenfalls könne sie sich nicht daran erinnern. Der Alkohol habe ihr ziemlich zugesetzt.
»Haben Sie gewusst, dass ihr Ex aktenkundig ist?«
Vanessa Fiebig reagierte mit einem Schulterzucken.
»Zum Beispiel wegen schwerer Körperverletzung.«
Gegen die leere Wand starrend, zuckte Vanessa Fiebig erneut die Schultern. Henry konnte förmlich spüren, wie ihr die Folgen einer Mitschuld durch den Kopf brausten.
»Und Sie wissen wirklich nicht, wo sich Herr Stamm aufhält?«, fragte Linda.
»Nein«, sagte sie kleinlaut. »Ich habe ihn das letzte Mal am Sonntagmorgen gesehen.«
»Ist Ihnen ein Ort bekannt, an dem er sich verstecken könnte?«
Vanessa Fiebig schüttelte den Kopf.
»Bei seinen Eltern?«
»Die haben kaum Kontakt.«
»Oder bei Freunden?«
»Länger als eine Nacht hält er’s bei keinem aus.«
»Und was ist mit Arbeitskollegen?«
»Er ist seit einem halben Jahr Hartzie.«
»Haben Sie einen Schlüssel für seine Wohnung?«
»Hatte ich nie.«
»Falls er sich melden sollte, rufen sie umgehend diese Nummer an.« Linda reichte Frau Fiebig ihre Visitenkarte. »Oder wenn Ihnen ein Ort einfällt, an dem er sich aufhalten könnte.«
Die Kommissare erhoben sich. Vanessa Fiebig blieb auf der Couch sitzen und blickte zu ihnen empor. »Und wer bezahlt mir jetzt den beschissenen Anwalt?«
5
Der Abend graute bereits, als sie wieder im Spitzweidenweg eintrafen. Philipp Stamm schien seine Wohnung nicht aufgesucht zu haben. Henry und Linda erkundigten sich bei den Nachbarn, ob sie ihn gesehen oder gehört hätten.
Im linken Flügel wohnte eine alleinerziehende Mutter. Während sie von den Beamten befragt wurde, wiegte sie ihr fünf Monate altes Baby im Arm. Sie behauptete, mit Herrn Stamm nur sporadischen Kontakt zu pflegen. Ein Hallo im Hausflur, ein Guten Morgen im Fahrstuhl. Seit ihre Tochter auf der Welt sei, hätte sie ohnehin keinen Nerv für andere Menschen. Besonders Männer können ihr den Buckel runterrutschen, sagte sie und zwinkerte ihrem Baby zu.
Henry bat darum, die Toilette benutzen zu dürfen. Auf dem Weg dorthin linste er durch den Türspion. Lediglich der Bereich vor dem Fahrstuhl und der direkten Nachbarwohnung war einsehbar. Hinweise auf dauerhafte Männerbekanntschaften fanden sich nirgends im Bad. Die Nachbarin würde ihnen kaum weiterhelfen können.
Stamms direkte Nachbarn waren ein älteres Ehepaar. Marcus und Marina Glimm. Seit Jahren in Rente und nach eigenem Bekunden so glücklich wie am Tag ihrer Hochzeit. Auf dem Wohnzimmertisch türmten sich Stapel und Stoß einer Partie Canasta, daneben ein randvoller Aschenbecher. Marcus Glimm rauchte Kette und unterstrich die Aussagen seiner Frau lediglich mit einem Nicken.
»Häufigen Besuch hat Herr Stamm nicht«, sagte Marina Glimm. »Aber eine Zeit lang kam eine junge Frau.«
»Eine junge Frau?«, wiederholte Linda.
»Ja, mit blonden Haaren. So’n Hungerhaken.«
Herr Glimm nickte, und Henry notierte, was sie ohnehin schon wussten. Die Hoffnung, neue Informationen zu gewinnen, war dennoch berechtigt. Rentner erwiesen sich oft als gute Zeugen. Ihre Paranoia Fremden gegenüber und ein langweiliger Alltag waren das beste Rezept gegen taube Ohren.
»Haben Sie ihn gestern gesehen?«
»Nein, der geht jeden Sonnabend feiern«, erwiderte Frau Glimm. »Und am Sonntag schläft er seinen Rausch aus.«
»Und heute?«
»Nee. Der ist Sonnabend weg und dann …« Marina Glimm brach ab und präsentierte eine Geste der Ahnungslosigkeit. »Hat er was ausgefressen?«