Dienstag

1

Henry stoppte vor dem Gipfelkreuz. An diesem Morgen fühlte er sich überaus energiegeladen. Die Lust, nach dem Abstieg noch einmal hochzulaufen, kitzelte seinen Ehrgeiz. Die Zeit hatte er. Es war fünf Uhr dreißig, und seine Kollegin würde ihn erst in einer Stunde einsacken. Mit der Entscheidung zaudernd stand er da und kühlte aus.

In seiner Schulzeit hatte er jegliche Disziplin vom Laufen übers Turnen bis zum Volleyball begrüßt. Gleichwohl waren ihm die Sportstunden ein Gräuel gewesen. Denn zu seinem Leidwesen entpuppte er sich nur als mittelmäßiger Sportler. Füllstoff zwischen den Besten und Besseren. Sobald eine Mannschaft gebildet wurde, musste er mit den Letzten auf der Bank ausharren. Saß dort neben Dicken und Verweigerern und warf den Spielführern sehnsüchtige Blicke zu.

Äußerlich tat er diese Erfahrung mit einem Schulterzucken ab. Insgeheim jedoch wollte er seinen Mitschülern noch heute beweisen, dass er kein Versager war. Diesen Mädchen und Jungen, die ihre Sportabzeichen längst im Müll entsorgt hatten. Mädchen und Jungen, die längst erwachsen waren und seinen Komplex gewiss nicht teilten.

Für nächstes Jahr war ein Klassentreffen geplant, aber er zögerte mit einer verbindlichen Zusage. Obwohl er im Wettkampf jeden seiner ehemaligen Mitschüler schlagen würde, säße er noch immer auf der Bank. Denn das Spiel hatte sich verändert, das ahnte er. Heute wurde man wegen anderer Qualitäten ins Team gewählt. Frau und Kinder und ein guter Job. Davon konnte er lediglich ein Drittel vorweisen.

Vor dem Kreuz versuchte er, das aufkeimende Unbehagen runterzuwürgen. Ausgerechnet hier und jetzt befielen ihn solche Gedanken. Warum hatten sie ihn nicht beim Start seiner Runde ereilt? Unten in Lobeda, wo ein harter Anstieg auf ihn gewartet hatte. Er hätte seine Muskeln bis zur Erschöpfung strapazieren können. Jetzt hingegen drohte er vor Energie und dunklen Gedanken zu explodieren. Er schloss die Augen, gab sich einen Ruck und rannte in waghalsigem Tempo hinab nach Sulza.

In der Wohnung angelangt, ließ er das Stretching ausfallen und begann sogleich mit den Kraftübungen. Er stemmte die Gewichte in aller Eile. Wechselte vom Stand auf den Boden und hob abwechselnd die Hanteln. Drehte sich in den Liegestütz, hob und senkte seinen Körper. Fünfundsiebzig Kilo Groll und Frust. Fünfundsiebzig Kilo ohne die Spur einer Träne. Er ging erneut in den Stand und stemmte wieder die Hanteln. Schneller Rhythmus an der Grenze zum Schmerz. Nach vier Abläufen lief ihm der Schweiß über Brust und Rücken. Er boxte ein paarmal in die Luft. Genau wie in Schulzeiten und noch immer gegen unsichtbare Gegner.

Dann atmete er durch.

Und fühlte sich besser.

2

Auf dem Weg in die KPI Jena erzählte Linda von ihrem Kochkurs in Sachen Sushi. Für gewöhnlich nutzte sie fürs Rauchen die Zeit, ehe Henry ins Auto stieg. Jetzt fegte der Fahrtwind durchs offene Fenster, und er wandte das Gesicht ab. Die Dämmerung streute ein diffuses, schleierhaftes Licht. Der Berufsverkehr wälzte sich über Jenas Pflaster. Linda schoss von einer Lücke in die nächste. Einhändig und rauchend und trotz des hohen Tempos die Ruhe selbst. »Tut mir leid. Aber wir sind spät dran.«

»Kein Problem.«

»Haste schlechte Laune?«

»Nee, alles bestens.«

»Ich hoffe, jemand hat Kaffee gekocht.«

»Wer ist denn dran?«

Jeden Dienstag um sieben Uhr war Dienstbesprechung in Anwesenheit aller Kommissare. Vier Ermittlerteams hatte die Polizeiinspektion Jena, Abteilung Kriminalwesen. Im wöchentlichen Wechsel war jeweils ein Team dafür verantwortlich, frischen Kaffee zu machen. Mitunter erbarmte sich jemand und spendierte eine Runde Gebäck oder Kuchen.

»Wenn der Kaffee wieder lauwarm ist, feuer ich ihnen die Plörre um die Ohren«, sagte Linda. »Das kannste wissen.«

3

Frank Wenzel, der Leiter der Kripo Jena, präsentierte der Gruppe ein schiefes Grinsen. Nach vierzig Jahren Bullerei schienen Wenzels Mundwinkel zu jeder anderen Regung unfähig. Spöttische Kommentare garnierte er ebenso mit einem Grinsen wie schlechte Nachrichten. Entweder war dieser Mann die Ironie in Person, oder er litt an einer Störung des Nervus facialis. Niemand konnte das beantworten.

Im Gestus äußerster Langeweile strich er sich die Krawatte glatt. Dann umfasste er mit beiden Händen die Tischkante und sagte: »Liebe Genossen und Genossinnen, der Kaffee ist kalt, das Wetter scheiße und die Welt schlecht. Was gibt’s Neues?«

Henry prostete Linda mit seiner Tasse zu, worauf Linda angewidert das Gesicht verzog. Er erinnerte sich gern an die Zeit, als er zum ersten Mal ein vollwertiges Mitglied dieser Runde gewesen war. Er hatte dazugehört. Ebenso wie das schiefe Grinsen von Frank Wenzel und die Vorfreude auf den schlechten Kaffee.

Nacheinander begannen die Teams, ihre aktuellen Vorgänge darzulegen. Team eins ermittelte in einem Fall von Vergewaltigung und einem von mehrfachem Vandalismus. In beiden Fällen waren die Verdächtigen Jugendliche. Team zwei folgte seit zwei Monaten einem Ring findiger Betrüger, die sich auf betuchte Rentner spezialisiert hatten. Der ungeklärte Fall einer Brandstiftung war schon über die Schreibtische aller Teams gewandert. Kaum dass Linda die Sache Philipp Stamm erläuterte, funkte ihr Wenzel dazwischen.

»Bevor Sie unsere Zeit vergeuden, Frau Liedke. Das kam eben rein.«

Er ließ einen Hefter über die Tischmitte schlittern.

Linda blätterte auf die erste Seite. »Hätten Sie mich nicht anrufen können? Dann hätten wir uns den Weg gespart.«

»Ich war genauso pünktlich wie Sie«, sagte Wenzel und zeigte sein bekanntes Grinsen.

Henry faltete den Durchsuchungsbeschluss zusammen und schob ihn in sein Jackett. Team vier ließ die vollen Tassen stehen und verabschiedete sich vom Kollegium. Unterwegs in den Spitzweidenweg forderte Linda einen Schlüsseldienst an.

4

Linda klopfte.

Keine Reaktion.

Henry wählte die Nummer, die ihnen Vanessa Fiebig übermittelt hatte. Wie am gestrigen Tag meldete sich lediglich Stamms Mailbox. Linda huschte ins Treppenhaus und rauchte eine Zigarette. Henry blieb an der Wohnungstür stehen, um den Schlüsseldienst zu empfangen.

Fünf Minuten später trat ein etwa sechzigjähriger Mann aus dem Fahrstuhl. Er trug einen Alukoffer und stellte sich als lizenziertes Einbruchskommando vor. Henry reichte ihm mit einem Lächeln die Hand. Linda hatte Jan Sattler schon des Öfteren anrufen müssen. In aller Seelenruhe tauschten sie Neuigkeiten aus, wobei Henry sofort ihre Vertrautheit bemerkte. Sie fragten einander, wie es Mann, Frau oder Kindern gehe. Wo sie den letzten Urlaub verbracht hätten. Schließlich fragte Sattler, wer ihr neuer Kollege sei. Nach Henrys Antwort bedachte er ihn mit einem amüsierten Blick. »Also aus der Hauptstadt?«

Henry nickte.

»Hoffentlich langweilen Sie sich hier nicht.«

»Berlin ist auch nicht spannender.«

»Kann ich mir kaum vorstellen.«

»Das Image wird gepflegt, mehr nicht.«

»Also alles vergoldete Hundescheiße?«

»So ungefähr.«

Jan Sattler setzte die Türklemme an, ging leicht in die Knie und stöhnte auf. Ein hohles Knacken folgte. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und Sattlers unbekümmerte Miene verschwand. Es hatte den Anschein, als wollte er unter allen Umständen einen Blick in die Wohnung vermeiden. Als könnten ihn im Innern böse Geister erwarten. Er trat einen Schritt zurück und überließ den Polizisten das Feld.

Linda kündigte lautstark den Zugriff an. Ihre Rechte umschloss zur Eigensicherung die Waffe. Sie wiederholte ihre Ansage, trat über die Schwelle, und Henry folgte dichtauf. Sein Herz raste vor Aufregung. Am liebsten hätte er fünfzig Liegestütze gemacht, um sich zu beruhigen, um sein Adrenalin abzubauen.

In Windeseile konnten sie die Wohnung als gesichert betrachten. Ein Philipp Stamm war nirgends auffindbar. Sattler erhielt eine Unterschrift, einen Gruß an seine Frau und schlurfte mit seinem Koffer in den Fahrstuhl.

5

Nachdem Henry die Tür von innen geschlossen hatte, erzählte er Linda von seiner Beobachtung.

»Jan hat schon ’ne Menge Scheiß gesehen.«

»War er mal Bulle?«

»Nee, aber das macht’s nicht besser. Sonst öffnet er die Wohnung von Leuten, die sich freuen, dass sie reinkönnen. Leute, die sich ungewollt ausgesperrt haben. Aber wenn wir ihn rufen, begrüßen ihn schlimmstenfalls Verwesungsgase oder halb verhungerte Gören.« Lindas Augen wanderten den Flur hinunter. »Ich kann mich an eine Situation erinnern, in der sich eine Frau in der Diele erhängt hat. Zwei Wochen baumelte sie dort. Als er die Tür aufbrach, schlug ihm die Leiche direkt ins Gesicht.«

»Bietet sich kein anderer Schlüsseldienst an?«

»Ich mag Jan. Und die Stadt zahlt gut.«

Henry zeigte ein vages Nicken.

Direkt neben der Tür hing Stamms Ersatzschlüssel, den Linda an sich nahm. In aller Routine begannen sie, die Wohnung zu inspizieren. Henry nahm sich die linke Seite vor, Linda die rechte. Nicht anders, als säßen sie hinter ihren Schreibtischen, warfen sie einander Informationen zu. Damit der Partner entsprechend reagieren konnte, kommentierten sie jede Auffälligkeit laut.

Aus ästhetischer Sicht hätte Henry die Einrichtung als minimalistisch bezeichnet. Eine weiße Ledercouch stand vor einem eckigen schwarzen Tisch, der Tisch vor einem eckigen schwarzen Fernseher. Kein Sessel, keine Pflanze. Den Boden bedeckte eine piekfeine Auslegware, auf der man unweigerlich Fußspuren hinterließ.

»Mist«, fluchte Linda.

Sie schauten beide in Richtung Wohnungstür, und ihnen offenbarten sich die Umrisse ihrer eigenen Sohlen. Henry deutete auf die flache Schuhschale im Flur.

»Wir sind scheiß Amateure«, sagte Linda.

»Der Teppich ist aus Polyester. Das geht raus.«

»Unser Freund ist also ein Sauberkeitsfanatiker.«

»Und wir sein persönlicher Alptraum.«

»Selbst schuld«, sagte Linda und zuckte mit den Schultern. »Kein vernünftiger Mensch kauft sich weiße Auslegware. Ist genauso blöd wie schwarze Fliesen.«

Henry streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über und öffnete die Konsole unter dem Fernseher. Einige Pornos, eine abgelaufene TV-Zeitschrift, zwei Tafeln Schokolade. Linda fand neben der Couch einen Stapel Fitnessmagazine. Dann gingen sie gemeinsam in die Küche.

Dort war alles blitzblank. Der Kühlschrank sei zwar nicht voll, meinte Linda, aber für einen Singlehaushalt ausreichend gefüllt. »Der muss Hals über Kopf verduftet sein.«

»Sofern er noch eins und eins zusammenbekam.«

»Oder er war gar nicht besoffen.«

In der Badewanne entdeckte Henry einige Kleidungsstücke. Eine weiße Stoffhose, ein schwarzes Muskelshirt, Unterwäsche und Socken. Laut seinen Notizen musste es sich um jene Kleidung handeln, die Stamm zur Tatzeit getragen hatte. Er wies auf ein Paar Sneakers, das ordentlich vor der Wanne stand. Linda fragte sich laut, weshalb die Klamotten in der Wanne lagen.

»Seltsam, nicht wahr?«, sagte Henry.

»Vielleicht wollte er die Spuren vernichten?«

»Du meinst das Blut von Sebastian Rode?«

»Gut möglich, dass er’s auswaschen wollte.«

»Aber weswegen ist er dann abgehauen?«

»Weil ihn die Panik übermannt hat«, sagte Linda und prüfte die Hosentaschen nach Gegenständen. »Vielleicht ahnte er, dass sein Kumpel nicht dichthalten würde? Ich meine, der Typ ist vorbestraft.«

»Vielleicht hat er auch nur seine Dreckwäsche in die Wanne geschmissen. Ohne Hintergedanken. Dass Stamm einen Sauberkeitsfimmel hat, steht ja außer Frage.«

Linda legte die Hose zurück, worauf Henry ins Schlafzimmer ging. Beim Anblick des gemachten Betts kam ihm der Gedanke, dass Philipp Stamm und Vanessa Fiebig darin Sex gehabt hatten. Sportlersex, wie er nicht frei von Neid dachte. Der muskulöse Stamm und die schlanke Fiebig. Sicherlich hatte sie es in ihren jungen Jahren schon unzähligen Typen besorgt. Und sicherlich waren diese Typen stolz auf die eigenen Eroberungskünste gewesen. Vanessa Fiebig als schwer zu erlegendes Wild. Henry ermahnte sich, nicht abzuschweifen und am Fall zu bleiben.

Entweder hatte Stamm auf der Couch geschlafen oder das Bettzeug vor seiner Flucht gerichtet. Oder er hatte sich nicht lang in der Wohnung aufgehalten, und das Bett war noch im Zustand vom Vortag. Das spräche dafür, dass er sich über seine Tat im Klaren gewesen war. Die Nachbarn hatten ihn am Sonntag nicht gehört, was den Verdacht einer sehr frühen Flucht untermauerte.

Doch Henry bremste sich in seinen Spekulationen. Die Aufgabe lautete: Indizien sammeln, Indizien sammeln, Indizien sammeln. Mit seinem Handy begann er, die gesamte Wohnung abzufotografieren.

»Henry?«

»Ja.«

»Komm mal, bitte.«

Linda hatte im Flur das Deckenlicht angeknipst und kniete nahe der Wohnungstür am Boden. Sie deutete auf eine Stelle in der weißen Auslegware. »Siehst du das?«

»Ich seh nichts.«

»Das weiße Zeug da.«

Henry beugte sich hinunter und wischte mit dem Finger über eine weiße pulverartige Substanz. »Könnte Koks sein.«

»Quatsch«, sagte Linda.

»Vielleicht ’ne neue Sorte.«

»Doppelter Quatsch.«

»Hast recht.« Henry hielt ihr einen durchsichtigen Beweisbeutel hin. »Stamm lehnt ja Drogen ab.«

»Außer Alkohol«, präzisierte Linda.

»Versteht sich von selbst.«

»Und von wem wissen wir das?«

»Von Vanessa Fiebig.«

»Was sagt uns das also?«

»Dass nichts eindeutig belegt ist.«

»Prima, Kilmer.«

6

Jasmin Sander rollte den kleinen Bücherwagen in die Abteilung für Belletristik. Die Räder hatte sie erst gestern vom Hausmeister schmieren lassen. Knarrende Achsen wurden hier nicht geduldet, nicht in den historischen Räumen der Ernst-Abbe-Bibliothek. Jetzt bewegte sich der Wagen wie auf Samt über das Parkett.

Sie betrat die Reihe der Autoren O bis R, schob ein paar Bücher ins Regal und überflog das Sortiment. Manchmal stellten Kunden einen Titel falsch zurück. Ein einziger Buchstabe weiter links oder rechts genügte, um beim nächsten Nutzer Verwirrung zu stiften. Hatte der dann per Computer sichergestellt, dass der Titel vorrätig war, ging er abermals auf die Pirsch. Doch nach entnervter Suche fand sich anstelle des Buches nur der Weg zur Information. Genau dorthin, wo Jasmin hinter einem schmucklosen Schreibtisch saß und für jedes Anliegen ein offenes Ohr hatte.

Sie stoppte beim Buchstaben P und ging vor der Silbe PO in die Knie. Prüfte, ob eines von Edgar Allen Poes Werken ausgeliehen war. Sie hätte sich auch per Computer vergewissern können, aber damit wäre das Einsortieren noch langweiliger geworden. Da die Neuerwerbungen im Eingangsbereich auslagen, hatte Jasmin den Großteil des Sortiments bereits unzählige Male gesehen, berührt, vermittelt. Schutzumschläge und Einbände waren ihren Fingern kaum weniger vertraut als der eigene Körper.

Sie selbst schwärmte für Weltraumopern und die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. An fremden Ufern eines fremden Planeten in einer fremden Zeit fühlte sie sich genauso heimisch wie zwischen den Büchern. Was ihr die Fremde an Distanz gab, fand sie auch in der Reserviertheit des neunzehnten Jahrhunderts.

Hatte jemand ein Buch ihrer Lieblingsautoren ausgeliehen, malte sie sich aus, wie der Leser in dem Buch blätterte. Früher hatte sie dessen Personalien per Computer recherchiert. Erst als sie gemerkt hatte, dass der Großteil aller Poe-Leser über fünfzig war, hatte sie das Stalken aufgegeben. Edgar Allen Poes »Eleonora« sollte ein Mann um die dreißig mit wildem Haar und zerrütteter Miene lesen. In ihrer Phantasie stets bei Kerzenschein. Schließlich lebte sie in einer Metropole der Romantik. Jasmins Jena war nicht die Heimat von Technikern oder BWL-Studenten. Wenn schon Wissenschaft, dann Alchemie anstelle von Biotech, Mesmerismus statt Pharmazie.

Jasmin seufzte ernüchtert. Poes Werken hatte niemand Interesse geschenkt. Sie schlurfte weiter zum Buchstaben K wie Keats. Beide Bände, die von John Keats zum Bestand gehörten, schienen ausgeliehen zu sein. Das »Endymion« und die »Gesammelten Briefe«. Verwundert strich sie sich den Pony aus der Stirn. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass die Bücher letzte Woche ins Archiv geschafft worden waren. Dank fehlender Nachfrage abgeschoben in den Keller des Vergessens. Sie rollte den Wagen eine Reihe weiter. Dachte an den »Fluss des Schweigens« und das »Tal des vielfarbigen Grases«.

Ab sechzehn Uhr übernahm sie den Platz hinter der Abgabe. Die Leute schoben ihre Bücher über den Tisch, sie strich mit dem Scanner über den Barcode. Sie sagte entweder, alles sei in Ordnung, oder wies auf eine überschrittene Ausleihfrist hin. Auch die Welt der Bücher war ein Ort der Fristen und Gebühren.

7

Gegen neunzehn Uhr schloss die Bibliothek. Ihre Kollegin und Freundin Sabrina Menzenbach fragte, ob sie noch auf einen Schlummertrunk in die Wagnergasse mitkommen mochte. Dass Jasmin zurzeit keine Beziehung führte, war kein Geheimnis. Umso unangenehmer war es ihr, eine Einladung auszuschlagen. Sabrina ließ sich mit der schlichten Antwort, sie habe keine Zeit, allerdings nicht abspeisen. Jasmin hatte das Gefühl, ihre Freundin ahne, dass es sich um eine Ausrede handelte. Dennoch begann sie, sich mit neuen Ausreden zu rechtfertigen. Ihre Mutter wolle heute Abend vorbeikommen, sie hätten so selten Zeit füreinander. Die Familie eben.

Jasmin wusste, dass Sabrina es ihr nicht nachtragen würde. Gleichwohl schämte sie sich für ihre lethargische Art. Eine Verabredung absagen, um stattdessen daheim auf der Couch zu lesen. Ein Glas Wein in geselliger Runde ablehnen, um daheim eine eigene Flasche zu öffnen. Um anstelle von Geselligkeit melancholischen Popsongs zu lauschen. Das war keine Abendgestaltung, mit der man hausieren ging. Und noch weniger waren das Gründe, derentwegen man die Einladung einer Freundin ausschlug. Noch vor wenigen Wochen wäre sie jeder Einladung gefolgt. Damals hätte sie ihr jetziges Verhalten ebenso fragwürdig gefunden, wie es ihre Freunde heute tun. Irgendwas hatte sich hinter ihren Augen aufgestaut, aber sie konnte es nicht fassen, geschweige denn benennen. Ein Druck, der sich gleich zu entladen schien und letztlich doch nur weiter anschwoll.

Sie traten unter dem Rundbogen hinaus auf die Straße. Jasmin bedachte das Volkshaus mit einem letzten Blick. Alle Lichter waren erloschen. Sabrina schaltete die Alarmanlage an, dann wünschten sie einander einen schönen Abend. Jasmin hatte die Enttäuschung in Sabrinas Augen nicht übersehen können. Indem sie jeden Anflug eines Selbstvorwurfs unterdrückte, blieb sie standhaft.

Über kleine, verwinkelte Straßen gelangte sie in die Quergasse. Hier im historischen Stadtkern leerten sich die Straßen nicht bei Einbruch der Dunkelheit. Studenten und Touristen säumten die Wege. Ein paar Abgehärtete saßen in Windjacken draußen vor den Bars und schlürften bunte Cocktails. Jasmin sehnte sich schon jetzt zurück in die stillen Räume der Bibliothek. Sie legte einen Gang zu.

Ihre Wohnung lag in der obersten Etage eines dreistöckigen Backsteinbaus. Das schlichte Haus war um die Jahrhundertwende erbaut worden. Im Treppenhaus roch es stets nach feuchtem Kalk und frischem Leder. Jasmin verband diese Gerüche mit längst vergangenen Epochen, was ihr das Haus zum zweitliebsten Ort machte. Sie nahm die Post aus dem Briefkasten und stieg die ächzende Treppe hinauf.

Von der Straße her drang das dumpfe Laternenlicht des gegenüberliegenden Hauses in die Küche. Mit viel Phantasie schimmerte dort eine Karbidlampe auf dem Kutschbock einer Droschke. Sie stellte sich ans Fenster und sah ohne jede Erwartung ihre Post durch. Ein Brief mit Kontoauszügen, weil sie versäumt hatte, welche zu ziehen. Eine Einladung der Städtischen Kunstsammlung. Seit die Bücherei so eng mit der Galerie kooperierte, wurden die Bibliothekare zu Veranstaltungen persönlich angeschrieben. Am 5. Oktober wolle man den Empfang einer neuen Leihgabe feiern. Das Foto eines Gemäldes war in die Karte kopiert worden. »Erzengel Michael von Matthäus Günther« stand unter dem Bild. Jasmin klemmte das Schreiben mit einem Magneten an den Kühlschrank. Dann nahm sie in der kleinen Essnische Platz und schloss die Augen.

8

Henry kopierte die Fotos, die er von Stamms Wohnung gemacht hatte, auf seinen Laptop. Während des Transfers brühte er sich eine Kanne Tee. Dann setzte er sich auf die Couch vor dem großen Fenster.

Er fragte sich, ob Linda eine Handyortung beantragt hatte. Das würde den Rahmen für Spekulationen deutlich einengen. Befände sich Stamms Handy in Betrieb, wäre es ein Leichtes, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Ein abgeschaltetes Telefon würde immerhin den Verdacht der Flucht erhärten. Henry ließ der Gedanke nicht los. Er stemmte sich hoch und schlich wie ein streunender Hund durch die Wohnung. Er zog wahllos Bücher aus dem Regal und musterte die Titelbilder. Schund, Schund, ein Bestimmungsbuch der heimischen Flora. Billige Mörderbücher. Alles Schund. Nach einer Viertelstunde wusste er, welche Romane er abermals lesen mochte. Eine halbe Stunde später war die Kanne leer und seine Geduld am Ende.

Er wählte Lindas Nummer.

Ihr Mann nahm ab.

»Guten Abend, Stefan. Hier ist Henry.«

»Henry?«

»Henry Kilmer. Lindas Kollege.«

»Ja, ja, ich weiß. Ist was Schlimmes passiert?«

»Nein, nur Routine. Ist Linda zu sprechen?«

»Ist ziemlich spät für nur Routine.«

Henry schaute auf die Uhr. Erschrocken stellte er fest, dass es zehn war. Lindas Sohn lag sicherlich schon im Bett, während ihr Mann bis eben vor der Glotze gelümmelt hatte. Nach einer kurzen Pause sagte Stefan, Linda sei in der Badewanne. Aber wenn es dringlich sei, würde er ihr das Telefon bringen.

Henry zögerte mit einer Antwort. Er betrachtete auf seinem Laptop das Foto von Philipp Stamms Badezimmer. Die Wanne mitsamt seiner Kleidung. Davor seine Schuhe. Als Henry schließlich verneinen wollte, hörte er Stefan bereits im Flüsterton reden. »Schatz, dein Kollege.«

»Danke«, hauchte Linda zurück.

Henry hatte sofort das Bild seiner im Schaumbad liegenden Kollegin vor Augen. Entspannung nach der Arbeit: Dampf und Kerzen und ein fürsorglicher Gatte, der Canapés und Rotwein kredenzt.

»Hi, Henry.«

»Guten Abend.«

»Was gibt’s?«

Trotz ihres vorwurfsfreien Tons schämte er sich plötzlich seines Überfalls. Mit einem Mal erschien ihm sein Anliegen irrelevant. Sie ermittelten nicht in einem Mordfall, bei dem ein neues Opfer drohte. Gefahr für Leib und Leben sah de facto anders aus. Notgedrungen entschied sich Henry für die Defensive. »Ich habe vergessen, eine Handyortung zu beantragen.«

»Kein Problem.« Lindas Stimme blieb entspannt. »Hab ich aufm Heimweg erledigt.«

»Tausend Dank.«

»Und die Antwort kam schon rein.«

»Wow!«

»Vossler sagt, das Handy ist außer Betrieb.«

»Passt ja.«

»Ja, bestätigt deinen Verdacht.«

»Eventuell liegt sein Handy in der Wohnung«, sagte Henry und klickte sich nebenbei durch die Fotos, die er am Nachmittag geschossen hatte. »Stamm könnte sich eine Prepaidkarte besorgt haben.«

»Morgen, Henry, morgen.«

»Oder er ist doch bei einem Freund.«

»Henry.«

»Oder bei dieser Vanessa.«

»Henry!«

»Tut mir leid.«

Sie wünschte ihm einen schönen Abend und legte auf. Ungeachtet der unterbrochenen Leitung glaubte Henry, das Plätschern des Wassers zu hören. Vielleicht sollte er selbst ein Bad nehmen, schoss es ihm durch den Kopf. Linda sagte immer, der Job dürfe einen nicht auffressen. Entspannung nach der Arbeit sei das A und O. Ansonsten könne man sich wegen Burn-out einen Platz im Stuhlkreis reservieren.

Wie von selbst sank Henrys Blick zurück auf die Fotografien. Er studierte das Bild, das den Bereich direkt vor der Badewanne zeigte. Irgendetwas stimmte damit nicht. Irgendetwas widersprach dem ersten Eindruck, den er heute von Stamms Wohnung gewonnen hatte.

Noch immer grübelnd notierte er sich, dass sie die Kontodaten und -bewegungen prüfen mussten. Auch wenn Stamm sein Handy klugerweise abgeschaltet hatte, schloss das keineswegs einen Besuch beim Geldautomaten aus. Obendrein schien ihm die erneute Überprüfung von Vanessa Fiebig, Stamms Exfreundin, wichtig. Sie sollten in Erfahrung bringen, ob sie dem Drogenkonsum zu- oder abgeneigt war. Daraus ließen sich eventuell Schlüsse auf Stamms eigenen Konsum ziehen. Spätestens übermorgen würde das Labor das weiße Pulver analysiert haben.

Er stellte die leere Tasse auf den Boden und schaute hinaus. Das Holzland lag vor ihm wie eine von Wundbrand geschwärzte Haut. Er war froh, dass sich ihm nicht die Aussicht nach Nordwesten bot. Andernfalls hätte er von seinem Fenster aus Stamms Wohnung observiert.

9

Er spürte, wie es allmählich kälter wurde. Das konnte nur den Einbruch der Nacht bedeuten. Also war er seit zwei Tagen in diesem Loch gefangen. Zwei Tage ohne Essen, ohne Trinken, ohne ein Bett. Zwei Tage, in denen er auf blanken Stein hatte pissen müssen.

Anfänglich hatte er sich gesträubt, die Felswand abzulecken. Im Schutz der Finsternis konnten sonst was für Tiere umherkrabbeln. Er dachte an Spinnen und Asseln und allerlei Viecher, deren Namen ihm niemals eingefallen wären. Den Rücken krumm und das Kinn gehoben, rutschte er auf Knien gegen den Fels. Gleich einem Sklaven vor einer Domina. Indem er unter dem Knebel hindurch aufs Gestein blies, hoffte er die Viecher zu verscheuchen. Ohne den Brand in seiner Kehle hätte er seinen Ekel niemals überwinden können. Er presste seine Lippen auf den nackten Stein und gierte nach jedem Tropfen Feuchtigkeit.

Einmal hatte er eine Doku über einen Häftling gesehen, den die Schließer in der Zelle vergessen hatten. Um nicht zu verdursten, hatte der junge Mann seine eigene Pisse getrunken. Zudem erinnerte er sich an einen jungen Mann, der bei einem Erdbeben verschüttet worden war. Allein durch das Trinken seines eigenen Urins hatte er tagelang unter den Trümmern überleben können. Oder ein achtzehnjähriger Mann, der sich im australischen Outback verirrt hatte. Auch er hatte seinen Urin getrunken, auch er war gerettet worden.

Dass ihm sein Gedächtnis nur junge Männer präsentierte, deutete er als Zeichen. Junge Männer, die den Umständen trotzten. Aber zunächst würde er die Wände dieser Höhle mit seinen Lippen trocknen müssen. Er würde Kraft schöpfen, seine Fesseln lösen und sich erheben. Und dann, wenn dieser Hurensohn wiederkäme, würde er ihn mit seinem eigenen Knebel erdrosseln.

10

Mitten in der Nacht wachte Henry auf. Seine Augen öffneten sich blitzartig, während der Rest seines Körpers reglos verharrte.

Er hatte geträumt.

Und dabei nachgedacht.

Das Bad. Die Kleidung. Das Paar Schuhe.

In seinem Traum hatten er und Linda erneut Stamms Wohnung inspiziert. Nur diesmal war er wie auf Wolken über die weiße Auslegware gelaufen. Die Tapete reflektierte ein gleißendes Licht, sodass er nicht unterscheiden konnte zwischen Wänden und Fenster. Linda summte eine Melodie von Chris Rea, vielleicht »Driving Home For Christmas«. Dann brach sie plötzlich ab und sagte: »Wir sind scheiß Amateure!«

Sie schauten beide in Richtung Flur. Teerschwarze Fußspuren zogen sich von der Eingangstür ins Wohnzimmer. Zunächst betrachtete Henry seine dreckverschmierten Sohlen. Dann entschuldigte er sich bei Linda, doch ihr Interesse war längst Geschichte. Offenbar in Gedanken versunken, summte sie wieder die bekannte Melodie.

 

»But soon there’ll be a freeway

Get my feet on holy ground.«

 

Und Henry schwebte über die Spuren hinweg ins Badezimmer und entdeckte die Sportschuhe von Philipp Stamm.

Irgendjemand sagte: »Unser Freund ist also ein Sauberkeitsfanatiker.« Die Worte hallten hundertfach von den lichten Wänden wider. Da bemerkte Henry, dass es keine Fußspuren von der Wohnungstür ins Badezimmer gab. Er schwebte in den Flur und sah sich dort um. Verharrte wie ein gelangweilter Himmelsbote über einer Reihe Straßenschuhe. Plötzlich splitterte die Tür auf, und ein alter Mann zuckelte herein und schob Henry einen Alukoffer unter die Füße. Noch ehe er sich hätte erden können, wachte er auf.

Jetzt stand er barfuß vor dem Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Es war vier Uhr morgens. Das Bad. Die Kleidung. Das Paar Schuhe. Er glaubte in Philipp Stamm einen Menschen zu erkennen, der niemals mit Straßenschuhen durch seine Wohnung laufen würde. Nicht einmal von der Wohnungstür ins Badezimmer.