Dienstag
1
Jasmin Sander saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte ins Leere. Die Ernst-Abbe-Bibliothek war an diesem Vormittag kaum besucht. Keine Schulklasse hatte sich für eine Führung angemeldet, kein Pulk geschwätziger Rentner vereinnahmte die Räume. Die zurückgebrachten Bücher waren einsortiert worden, die Reservierungen zur Ausgabe bereit. Es war kurz nach elf.
In solchen Momenten verfiel Jasmin rasch den Tagträumen. Doch die Etikette verlangte, dass man zu jeder Zeit Geschäftigkeit markierte. Dass man engagiert wirkte, obwohl einem der Druck hinter den Augen zu schaffen machte. Den Umstand, inmitten von sechsundneunzigtausend Büchern nicht lesen zu dürfen, fand sie absurd. Hier verkamen Bücher zu bloßen Zahlen und Signaturen. Kürzel für Hochliteratur, Kürzel für TV-Romane. Unterschiede sollten Einbände und Barcodes belegen. Jasmin notierte einen Titel und begab sich in die Abteilung für Belletristik. Tat so, als müsste sie die Vorbestellung eines Lesers ausfindig machen.
Durch die Reihen schlendernd, ließ sie ihre Finger über die Buchrücken wandern. Einige Autoren füllten mit ihren Wälzern ganze Regale. Vom keuschen Vampir oder vom Zauberlehrling wurden sämtliche Titel mehrfach angeboten. Jasmin hatte sie alle gelesen. Den Zauberlehrling, weil ihr Exfreund Briten und Schotten hasste. Die Vampirsaga, weil sie etwas anderes erwartet hatte.
»Guten Morgen, Jasmin.«
Sie fuhr hastig herum. »Guten Morgen, Herr Krone.«
»Robert, bitte.«
»Guten Morgen, Robert.«
Im Gang der Buchstabengruppe A bis C stand ihr ein etwa vierzigjähriger Mann gegenüber. Er trug ein T-Shirt und eine olivfarbene Armeehose. Seine blonden Locken hatte er mit Haarwachs gebändigt, seinen Bart auf wenige Millimeter gestutzt. In der Rechten hielt er ein Buch.
»Und, fündig geworden?«, fragte Jasmin im Tonfall der routinierten Bibliothekarin.
»Schon lange.«
»Das freut mich.«
»Eigentlich habe ich dich gesucht.« Robert Krones Stimme klang sanft und freundlich. »Hast du unsere Einladung erhalten?«
»Ja«, sagte Jasmin, »vorige Woche.«
»Das Gemälde wird im Herbst unser Highlight.«
»›Der Erzengel Gabriel‹ von Matthäus Günther?«
»›Der Erzengel Michael‹.«
»Ach ja. Wie peinlich.«
Alle zwei Wochen ließ sich der Galerist in der Bibliothek blicken. Immer am Vormittag, immer nur für kurze Zeit. Kaum dass sich Jasmins Blick auf sein Buch senkte, präsentierte er das Cover. Es zeigte einen kahlen Baum vor einer tristen Landschaft. Der Titel prangte in eisblauen Lettern auf dem Einband. Robert Krone lieh sich größtenteils skandinavische Kriminalromane aus. Mord in karminroten Hütten, Totschlag auf unwirtlichen Inseln. Künftigen Mangel an Toten brauchte er nicht zu befürchten. Das Interesse am nordischen Trübsinn war so immens, dass auch deutsche Autoren die Fjorde durchschwammen.
»Sieht nach Einsamkeit aus.«
Robert reagierte nicht.
»Ich meine das Cover.«
Ohne auf Jasmins Kommentar einzugehen, fragte Robert: »Kommst du nun am Samstag?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Du sagst Nein zu Sekt und netter Gesellschaft?«
»Kann sein, dass meine Mutter kommt.«
»Dann bring sie mit. Muttis schwärmen fürs Rokoko.«
»Ich werde sie fragen, okay?« Jasmin begann, ihr kurzes Nackenhaar mit den Fingern zu zwirbeln. Diese Marotte konnte einige Männer unter Druck setzen. Offenbar glaubten sie, darin ein Zeichen von Langeweile zu erkennen. Zumindest hatte das ihre beste Freundin behauptet.
Seit dieser Äußerung fühlte Jasmin sich ihrer eigenen unbewussten Geste ausgeliefert. In der Sorge, einen falschen Eindruck zu vermitteln, griff sie nach einem x-beliebigen Buch.
»Wir würden uns jedenfalls über deinen Besuch freuen«, sagte Robert Krone und schaute auf seine Uhr.
»Wir – sind das Sie und Ihre Frau?«
»Erstens heißt es du und deine Frau. Zweitens heißt dich die ganze Sammlung willkommen.« Nachdem er abermals einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, hob er zum Abschied sein Buch. Im Weggehen blitzte ein flüchtiges Lächeln aus seinem Bart. Dann war er verschwunden, und Jasmin hing zwischen den Regalen dem Bild einer tristen Landschaft nach.
2
Der Wagen der Feuerwehr parkte auf dem Bürgersteig, der Rettungswagen vom DRK dahinter. Obgleich übers Wochenende kein Regen gefallen war, blieb der Himmel bleiern. Der baldige Schauer ließ sich bereits in der Luft wittern. Linda lehnte am Dienstwagen, rauchte eine Zigarette, schaute zur Saale. Sie sagte, dass es ihr leidtue. An sich störe sie der Anblick von Leichen nicht. Nur Wasserleichen seien etwas anderes, da mache sie eine Ausnahme.
»Kann ich nachvollziehen«, sagte Henry.
»Die sehen irgendwie lebendig aus.«
»Du meinst, so organisch.«
»Ja, organisch, das trifft es.«
»Du kannst ja Kaffee besorgen«, bot Henry an und schob seine Ledertasche zurück auf den Beifahrersitz. Dann stakste er mit vorsichtigen Schritten auf den Fluss zu. Über die Wiese und durch das Gestrüpp. Die Erde unter seinen Sohlen schwarz und matschig. Erinnerungen an das letzte Hochwasser wurden wach. In diesem Abschnitt war die Stadtrodaer Straße vollkommen überflutet gewesen. Die mittlere Leitplanke hatte sich in der braunen Suppe nur erahnen lassen. Weitaus lebendiger als die Szenerie hatte sich ihm der Geruch eingeprägt. Damals hatte er den Eindruck gehabt, die Luft stinke nach versifftem Keller. Erst jetzt bemerkte er, dass der Fluss bei mittlerem Wasserstand nicht anders roch. Die Saale verströmte den Geruch von etwas, das jenseits von Licht und Sonne existierte.
Mit einem Nicken begrüßte Henry den Mannschaftsführer der Rettungseinheit. Dies war seine erste Begegnung mit Oliver Tietz. Der Mann glich der geschrumpften Version eines amerikanischen Superhelden. Über seiner wasserdichten Schutzjacke wirkte das breite Kinn noch eckiger, die hohe Stirn noch massiver. An Tietz’ Schulter vorbei sah Henry zwei Sanitäter. Sie standen an der Uferböschung, zu ihren Füßen der Leichensack.
»Selbstmord?«, fragte er.
»Wohl kaum«, erwiderte Tietz.
Sein bestimmter Tonfall machte jede weitere Frage unnötig. Henry streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über, schob das Gestrüpp beiseite und trat ans Ufer. Die beiden Sanitäter blickten auf.
»Henry Kilmer. Kripo Jena.«
»Guten Morgen«, kam es unisono.
Unter dem Leichensack lag eine blaue Plastikplane. Um zu verhindern, dass der Sack die Böschung abwärtsrutschte, war die Plane auf der Wasserseite hochgesteckt worden. Als läge die Leiche hinter einem Windschutz. Sobald Henry sich hinunterbeugte, öffnete einer der Sanitäter den Reißverschluss.
»Wir dachten an Suizid«, bemerkte der Sanitäter. »Aber dann …«
Henry hätte nicht sagen können, was ihn mehr erschreckte: das aufgedunsene Gesicht des Opfers oder die Wunde, die quer über dessen Hals verlief. Er wandte sich zum Ufer, neigte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. Sofort stieg ihm der Geruch des Wassers in die Nase. Der Mief von versifften Kellern und Räumen, die weder Licht noch Sonne kannten.
»Ihre erste Wasserleiche?«, fragte Oliver Tietz. Seine Stimme klang plötzlich mitfühlend.
»Nein«, sagte Henry. »Ich kenne den Mann.« Er zückte das Telefon und benachrichtigte Linda. Dann begann er, mit Flatterband den Fundort abzusperren.
3
Henry und Linda saßen im Passat und schlürften Kaffee aus Pappbechern. Durch die Frontscheibe konnten sie beobachten, wie die Feuerwehr und der Rettungswagen des DRK abfuhren. In einem Transportsarg wurde das Opfer zur Leichenschau ins Institut für Rechtsmedizin überführt.
»Wundert mich kaum, dass ein Typ wie Stamm Feinde hat.« Linda schnippte mit ihrem Daumen gegen den Kaffeebecher. »Vielleicht eine alte Geschichte aus Knastzeiten.«
»Aber seine Ex hat kein Wort darüber verloren.«
»Ich glaube, die wollte nichts sehen. So, wie Frauen eben sind. Wissen von ihren untreuen Männern und halten brav die Klappe. Irgendwann geht der Mann nicht mehr fremd, sondern ist einfach unterwegs. Im Kopf bleibt im Kopf.«
»Ist das dein neuer Lieblingsspruch?«
»Nein, meine neue Wahrheit.« Linda kurbelte das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Sie schaltete das Radio ein, um es gleich darauf wieder abzuschalten. »Das Ergebnis der Obduktion erhalten wir in zwei, drei Tagen.«
»So lange dauert das?«
»Wenn wir Glück haben.«
»Dass es Mord war, sieht ein Blinder.«
»Die Halswunde kann auch vom Treibgut stammen.«
»Das war ein Schnitt, eindeutig.«
»Bei Wasserleichen ähneln sich Schnitte und Risse. Da wird alles zu einem Brei.«
»Und genau das macht mich stutzig«, sagte Henry. »Die Haut beginnt sich erst nach einer Woche abzulösen. Im Sommer früher als im Winter. Davor zeigt sich diese Waschhaut. Kennste aus der Badewanne.«
»Ja, Schrumpelpelle.« Linda hob ihren Ellbogen und grinste breit. »Die krieg ich auch ohne Badewanne.«
»Stamms Handrücken war jedenfalls frei von Waschhaut.«
»Das heißt, er lag keine Woche im Wasser?«
»Vielleicht drei bis fünf Tage.«
»Dir ist klar, was das bedeutet?«
»Dass wir ein Loch von mehreren Tagen haben.« Nachdenklich schüttelte Henry den Kopf. In Gedanken sah er Philipp Stamm auf der Flucht. Wie er klaren Kopfes sein Handy in der Toilette entsorgt, seine Kleidung wechselt, seine Wohnung verlässt. Um nach drei Tagen nichts Besseres fertigzubringen, als in die Saale zu springen und abzusaufen. Sich mausetot in einer rostigen Fischreuse zu verheddern. Das klingt nicht nur unwahrscheinlich, dachte Henry. Das ist die bescheuerte Idee eines Anfängers. Und an das Treibgut, das Stamm die Kehle aufschlitzte, wollte er auch nicht glauben. Es sei denn, jemand erbrachte den Beweis, dass Stamm durch einen Kanal scharfer Klingen getrieben war.
»Henry.«
»Ja.«
»Selbst wenn Stamm erst drei Tage im Wasser war, bedeutet das nicht, dass er so spät gestorben ist.« Linda löschte ihre Kippe in einem Spuckrest Kaffee. Anschließend nahm sie Henry den leeren Becher aus der Hand und schob beide Becher ineinander.
Nach einer kurzen Pause fragte Henry: »Aber wer bewahrt denn tagelang einen Toten auf?«
»Eventuell gab’s keine Möglichkeit, ihn zu beseitigen.«
»Donnerstag und Freitag hat es in Strömen geregnet.«
»Perfektes Wetter, um ungesehen zu bleiben.«
4
Im Büro fand Henry Vosslers Bericht über die Wohnungsbegehung vor. Außerdem hatte Frank Wenzel, der Leiter der Kripo, eine Besprechung auf den Nachmittag anberaumt. Henry wusste, was nun folgen würde: Noch vor Abschluss der Obduktion würden sie eine Mordkommission gründen. Für ihn stand es außer Zweifel, dass Stamm sein Leben nicht durch einen Unfall verloren hatte.
Er saß an seinem Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Direkt vor der KPI war die Straße Am Anger. Den meisten Autofahrern war gewiss das graue Gebäude der Polizeiinspektion Jena bekannt. Einige rümpften sicherlich vor Ekel die Nase, andere zeigten den Stinkefinger. Aber wohl niemand ahnte, dass man vor wenigen Stunden einen Toten aus der Saale gefischt hatte.
In den letzten Tagen war ihm Philipp Stamm zu oft durch den Kopf gespukt. Gegen seinen Willen machte ihn dessen Tod betroffen. Aber nicht auf die Weise, wie ihm sonst der Tod eines fremden Menschen berührte. Nicht so, wie er die Statistiken von Katastrophen- oder Kriegsopfern in den Nachrichten konsumierte. Nicht so, wie er die Leichen auf den Tischen der öffentlichen Sektion studiert hatte.
Philipp Stamm war ihm näher, als ihm lieb war.
Er konnte nicht einmal behaupten, er hätte einen solchen Menschen gemocht. Ohne Zweifel hätten sie bei einer Begegnung über den anderen abgekotzt. In Henrys amerikanischen Krimis gab es zuhauf Figuren wie Philipp Stamm. Schläger und Totmacher. Gut genug, um am Anfang für Action zu sorgen und später über die eigenen Beine zu stolpern. Vielleicht werden Philipp Stamms schon mit roten Zahlen auf dem Konto geboren, sinnierte Henry. Vielleicht war für ihn die Zeit gekommen, die Rechnung zu begleichen.
Was ist dir zugestoßen?
Mit wem hast du dich angelegt?
Wo warst du in den letzten Tagen?
Henry war froh, nicht Stamms Eltern informieren zu müssen. Linda wollte in Gotha anrufen und einen der hiesigen Beamten mit der Aufgabe betrauen. Der psychologische Krisendienst war garantiert schon vor Ort. Das Bild eines thailändischen Strandes drang in sein Bewusstsein. Vanessa unter Palmen und am Horizont der glühende Feuerball. Dazu ein Lächeln, das kein Unglück wegwischen konnte. Er entschied, dass sie es nicht aus den Medien erfahren sollte.
Linda betrat das Büro. »So, alles erledigt.«
»Und, kommen die Eltern nach Jena?«
»Weiß nicht. Die aus Gotha melden sich.«
Henry blätterte in Vosslers Bericht, während Linda sich dem Papierkram widmete. Auf Henrys Frage, ob sie einen Blick hineingeworfen habe, schüttelte sie den Kopf. Aus Lindas Ohrhörern drang ein Schnurren, als sänge Chris Rea von weißen Stränden und gelebten Sünden. Die Minuten verstrichen.
Plötzlich Henry: »Linda, wir müssen los.«
»Wir haben einen Termin bei Wenzel.«
»Wann.«
»Um vier.«
»Dann ist noch Zeit.«
5
Henry hatte ein mulmiges Gefühl. Jetzt standen sie nicht vor der Wohnung eines zur Fahndung ausgeschriebenen Gewalttäters. Jetzt war es die Wohnung eines Toten.
Er wollte, dass Linda einen Betrunkenen spielte und in dieser Rolle die Wohnung betrat. Linda machte darüber weder Scherze, noch bezweifelte sie den Sinn des Spiels. Sie selbst hatte Henry bei einem früheren Einbruchsdelikt geraten, die Möglichkeiten spielerisch durchzukauen. Einen Kuchen kann man auf mehrerlei Wegen backen, hatte sie damals gesagt und ein intaktes Fenster aufgehebelt.
Henrys Anweisung folgend, postierte Linda sich am Fahrstuhl. Er selbst verbarg sich an der Tür zum Treppenhaus. »Dein Einsatz, Linda.«
»Okay.«
Philipp Stamm torkelt vom Fahrstuhl zu seiner Wohnung. Er sucht seinen Schlüssel und greift sich in die Hosentaschen. Er stolpert und lallt wirres Zeug und starrt mit toten Augen gegen die Tür.
Da war nicht nur Alkohol im Spiel, hatte Timo Spindler gemeint.
Und Philipp Stamm findet den Schlüssel und öffnet die Wohnungstür. Betritt den Flur, und ein Unbekannter folgt dichtauf und verschließt die Tür von innen. Noch ehe Stamm den Fremden realisieren kann, wird er niedergeschlagen.
Martin Vossler fand auf der Auslegware Gleitspuren, die vom Flur ins Bad führten. Die Mikropartikel stammten von Stamms Sportschuhen, genauer von der Sohle. Offenbar hatte ihn jemand über die Auslegware geschleift. Allerdings ließen sich nirgends Blutspuren entdecken.
Statt Philipp Stamm niederzuschlagen, bezwingt ihn der Fremde mit Hilfe eines Narkotikums. Eventuell genügt ein in Chloroform getränkter Lappen. Ein Freund oder Bekannter hätte ihn nicht im Flur überwältigen müssen. Ein Freund hätte ihn ins Wohnzimmer begleiten können, um ihn mit einem Getränk zu vergiften.
Das bewusstlose oder zumindest gelähmte Opfer wird ins Bad geschleift und dort entkleidet. Auf den Kacheln fanden sich Hautschuppen, was an einem solchen Ort dem Normalfall entspricht. Aus irgendeinem Grund wirft der Fremde die Wäsche in die Wanne. Doch das Klingeln des Handys überrascht ihn. Reflexartig wirft er das Telefon ins Klo, sodass es verstummt. Deshalb erreicht Vanessa Fiebig bei dem Versuch, sich zu entschuldigen, nur die Mailbox.
Der Unbekannte trägt Handschuhe, da er Fingerabdrücke vermeiden will. Lederhandschuhe, wie Vossler aufgrund feinster Fasern und eines Fettfilms auf der Emaille ermitteln konnte.
Dann packt der Fremde den bewusstlosen Stamm in einen Sack. Vossler fand jedoch keine Gleitspuren, die vom Badezimmer zur Wohnungstür führten. Weder die Fasern eines synthetischen Stoffes noch Hautpartikel. Vielleicht trägt der Unbekannte Philipp Stamm auch auf seinen Schultern hinaus.
»Geht’s?«, wollte Linda wissen.
»Ja, ja«, stöhnte Henry. Seine Kollegin hing wie ein schlaffer Sack auf seinem Rücken. Erst vor der Tür ließ er sie wieder zu Boden.
»Ich glaub nicht, dass er getragen wurde«, sagte Henry. »Stamm war ein kräftiger Kerl. Der brachte neunzig Kilo auf die Waage.«
»Außerdem hab ich mich an dir festgeklammert. Wie hätte er mit Stamm auf den Schultern die Tür öffnen können?«
»Also doch eingepackt.«
»Oder er hat die Tür vorher geöffnet und ist dann raus.«
»Zu großes Risiko. Um die Tür zu schließen, hätte er den Nackten im Hausflur ablegen müssen.«
»Gut, dann sollten wir die Variante durchspielen.«
»Im Ernst?«
»Klar, nur spielst du jetzt Stamm.«
»Du willst mich hochhieven?«
»Aber vorher musst du dich nackisch machen.« Linda lachte auf ihre typische Krähenart. Sie fingerte ihre Zigaretten hervor, indes Henry meinte, Vossler solle noch mal jemanden herschicken. Im Hausflur und Treppenhaus müsste nach Spuren gesucht werden.
»Überdenk mal die Konsequenzen«, sagte Linda mit ernster Miene. »Was, wenn sich deine Theorie bewahrheitet?«
»Dass Stamm aus der eigenen Wohnung entführt wurde?«
»Nein, dass man ihn tagelang irgendwo eingesperrt hat.«
6
Im Auto nahm Henry sich erneut Vosslers Bericht vor. Ihm war bewusst, dass sich die Tatsachen zugunsten einer Theorie manipulieren ließen. Ähnlich einem Puzzle, von dem nur die Hälfte der Teile greifbar waren. Die Leerräume würden immer Platz für neue Variationen bieten. Tief über den Hefter gebeugt, drängte sich ihm die Möglichkeit von zwei Tätern auf. »Wie der Hillside Strangler«, sagte er.
»Noch nie gehört«, erwiderte Linda.
»Eigentlich heißt es auch Hillside Stranglers. Mehrzahl.«
»Trotzdem keine Ahnung, von wem oder was du redest.«
»Kenneth Bianchi und Angelo Buono. Die beiden haben zwischen 1977 und 1979 mehrere Frauen ermordet.«
»Davon höre ich zum ersten Mal.«
»Die Polizei hat lange geglaubt, es handle sich um einen Einzeltäter.«
»Ein Duo würde das Problem mit dem Transport lösen. Einer hat Stamm getragen, der andere alle Türen aufgehalten.«
»Stamms Wohnungstür, die Tür zum Treppenhaus, die Haustür.«
»Und aller Wahrscheinlichkeit nach eine Kofferraumtür.«
Henrys Stirn zog sich über Vosslers Bericht in Falten. »Die haben das Pulver analysiert.«
»Das weiße Zeug auf der Auslegware.«
»Ja, und das Ergebnis lässt uns ziemlich blöd aussehen.«
»Also doch Koks?«
»Nee, stinknormaler Gips.«
»Ach, Scheiße. Deshalb war das Zeug auch geruchlos.«
»Bingo. Gips nimmt nur den Geruch der Umgebung an.«
Linda startete den Wagen und schoss aus der Parklücke. »Die Fiebig meinte doch, Stamm wäre arbeitslos.«
»Hat vielleicht aufm Bau schwarzgearbeitet.«
»Scheiße, das klingt nach Klinkenputzen.«
Henry dachte an Bauwagen und Kerle, deren Bäuche sich über enge Gürtel wölben. Er schlug vor, noch einmal Vanessa Fiebig zu vernehmen. »Immerhin sind Zabel und Fiebig die Letzten, die Stamm lebend gesehen haben. Unsere Annahme, sie hätten sich unterwegs getrennt, fußt nur auf ihren Aussagen.«
»Traust du denen ernsthaft eine Entführung zu?«
Henry sah vor sich eine Frau, leicht bekleidet und lächelnd, in einer Kulisse aus Palmen und Meer. Erblickte Wasser, dessen Blau kein Fluss zu tragen vermochte. Sehnte sich nach fremder Haut, wodurch das Antworten mühsam wurde.
7
Robert Krone hielt auf der zweiten Spur und starrte über die August-Bebel-Straße zur Grundschule West. Im CD-Player lief »The River« von Ketil Bjornstad und David Darling. Klavier und Cello und die große Stille unter dem Eis. Das Album hatte er dieses Jahr zu seinem zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt bekommen. Von seiner Frau Annett.
Die Stücke hatten ihn auf unverhoffte Weise berührt. Wenn er in seinen schwedischen Krimis las, ließ er die CD im Hintergrund laufen. Die Musik schien die Melancholie der Helden perfekt zu untermalen. Obendrein hatte er bemerkt, dass sich sein Puls während der Musik verlangsamte. Als würde er unter einer Eisdecke dahingleiten und hätte den Kampf, sie zu durchbrechen, längst aufgegeben. Ein Arrangement aus Klavier, Cello und Resignation.
Er starrte auf das Gebäude, in dem seine Frau als Lehrerin arbeitete. Seit sieben Uhr auf Arbeit, kurz nach sechzehn Uhr zu Hause. Vorausgesetzt, dass kein Elterngespräch oder Geburtstag von einem ihrer hunderttausend Kollegen anstand. Sein Arbeitstag als Assistent von Dr. Boenicke sah wesentlich entspannter aus. Die Städtische Kunstsammlung öffnete um zehn, und da er die Spätschicht bestritt, langte es, gegen zwölf anzurücken. Zudem nahm es sein Chef mit der Uhrzeit selten genau.
Roberts Blick schweifte über die hohen Fenster der pseudobarocken Fassade. Vor wenigen Jahren hatte die Schule ihr Hundertjähriges gefeiert. Dr. Boenicke hatte der Schule ein paar Grafiken, die das Gebäude zeigten, zur Verfügung gestellt. Damals, so erinnerte er sich, hätte er sich einen glücklichen Mann genannt. Hatte geglaubt, Zorn könnte kein Gefühl von Dauer sein. Zorn würde kommen und gehen. Aber er hatte sich geirrt.
Sein Augenmerk galt den Fenstern im zweiten Stockwerk. Blätter aus braunem Papier waren von innen an die Scheiben geklebt worden. Herbstdeko, auf der irgendwann die Weihnachtsdeko folgen würde. Seine Frau bezog den Wechsel der Jahreszeiten stets in den Unterricht mit ein. Kein Frühling ohne einen Ausflug ins Pflanzenreich, kein Sommer ohne gelbe Papiersonnen. Eigentlich war er sich unsicher, ob sie überhaupt hinter diesen Fenstern unterrichtete. Er vermutete es, weil sie letzte Woche von Bastelstunden gesprochen hatte. Sie, die Kinder und ein Muttertier von Erzieherin. So hatte er sich das jedenfalls vorgestellt. Die plötzliche Unsicherheit behagte ihm nicht. Er fuhr nervös mit den Fingern über das Lenkrad. Schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die Musik.
Das Klavier, das Cello und der Fluss.
Der Fluss, die Tiefe und das Dunkel.
Das Dunkel und das Unbegreifliche.
Er wollte jetzt nicht daran denken, dass sich mit dem Auszug ihres Sohnes alles verändert hatte. Seit Johannes in Berlin lebte, schien sich mehr als ein Zimmer geleert zu haben. Seine Frau hatte in ihrem Leben einiges umsortiert. Hatte eine Ordnung erschaffen, die auch ihm eine neue Stellung verlieh.
Als Johannes geboren wurde, glaubte er, ihre Gemeinschaft sei für alle Zeit besiegelt. Fleisch, das durch das Fleisch eines anderen noch enger zusammenwuchs. Fleisch von deinem Fleisch. Fleisch von meinem Fleisch. Fleisch von unserem Fleisch. Johannes entwickelte sich zum Musterbeispiel eines jungen, tatkräftigen Mannes. Er bewies Eigenständigkeit und Ehrgeiz. Schon vor dem Erreichen seiner Volljährigkeit äußerte er den Wunsch, nach Berlin zu gehen. Robert unterstützte ihn darin mit ganzer Kraft. Aber kaum war der Sohn aus dem Haus, hieß es wieder von deinem Fleisch, von meinem Fleisch. Alles, was er bisher an Annett bewundert hatte, wurde ihm ein Groll. Ihre Schönheit, ihre Redekunst und nicht zuletzt ihre Autonomie ihm gegenüber. Sie traf sich vermehrt mit Freunden und Kollegen, zog abends durch die Wagnergasse. Während er allein die Couch hütete. Irgendwie hatte er den Anschluss verpasst.
Frustriert spähte er zu den dekorierten Fenstern hinauf. Sie hatte letzte Woche nichts von Blättern erzählt, sondern von Tieren. Er versuchte sich krampfhaft an das Gespräch zu erinnern. Herbsttiere. Herbstvögel. Zugvögel. Er prüfte Fenster für Fenster, und tatsächlich: Im dritten Stock hingen stereotype Vogelschnitte neben grauen Wolken. Er hätte keinen Grund nennen können, aber das Bild der ziehenden Vögel kränkte ihn. Dennoch fiel es ihm schwer, den Blick zu lösen. Er zählte die Wolken und die Vögel. Dachte an Kraniche auf dem Weg nach Süden. Hauptsache, weit weg. In eine andere, eine wärmere Welt. Sobald die CD zu Ende war, machte sich im Auto eine grauenhafte Stille breit. Er hob die Hand, wollte auf das Lenkrad schlagen, beherrschte sich aber in letzter Sekunde. Er drückte erneut die Playtaste und wartete. Als sich eine Horde Kinder durch die Schultür quetschte, startete er den Motor. Elf Uhr fünfzig. Die dritte Stunde war vorbei, und er musste zur Arbeit.
8
Frank Wenzel fummelte an seiner Kaffeemaschine herum wie ein Holzfäller an einer widerborstigen Kettensäge. Auch die Gegenwart zweier Kommissare konnte ihn nicht davon abbringen.
»Nehmen Sie Platz oder Habachtstellung ein«, nuschelte er. »Ganz wie Sie mögen.«
Er stand mit dem Rücken zum Schreibtisch. Sein weißes Hemd war an der Hüfte über die Hose gerutscht. Mit ein paar undeutlichen Lauten schien er die Kaffeemaschine beschwören zu wollen. Während Henry in einem der Sessel versank, begutachtete Linda den Philodendron auf Wenzels Schreibtisch.
»Der braucht mal Wasser«, sagte Linda.
»Ist bis oben voll«, entgegnete Wenzel, ohne sich umzudrehen.
»Sieht mir nicht so aus.«
»Dann sind Sie auf beiden Augen blind.«
»Mein Finger sagt das Gleiche. Total trocken.«
»Wenn Sie so ermitteln, kann ja nichts bei rauskommen.« Wenzel drehte sich um, worauf ihn Linda irritiert betrachtete. »Ich hätte Ihnen gern einen Kaffee angeboten«, sagte er, »aber die Maschine ist völlig im Arsch.«
Über Lindas Gesicht huschte ein Ausdruck der Einsicht, gefolgt von einem Schmunzeln.
»Bitte, wenn Sie das amüsiert«, blaffte Wenzel, »machen Sie ein Foto für die Wandzeitung.« Er setzte sich und legte ein bissiges Grinsen nach. Hinter dem Schreibtisch war Wenzel der Chef, auch wenn man das anderorts in Frage stellen mochte. »So, jetzt haben wir in unserer Stadt einen toten Rowdy.«
Linda entnahm der Kaffeemaschine den Tank und goss mit dem Wasser den Philodendron. Dabei berichtete sie ihn vom Stand der Ermittlungen.
Nach einer Weile sagte Wenzel: »Kurz und gut. Ihre Fakten beziehen sich alle auf den Täter Philipp Stamm. Zum Mordopfer Philipp Stamm bleibt es dünn.«
»Alles stellt sich jetzt in einem neuen Licht dar.«
»Ich hoffe, recht bald im Licht der Erkenntnis.«
»Schön wär’s.«
»Wie wurde Stamm ermordet?«
»Die Leichenöffnung findet heute Nachmittag statt.«
»Aber wir vermuten«, sagte Henry, »dass ihm die Kehle durchgeschnitten wurde.«
»Dann lasst uns beten, dass die Leichenfledderer was anderes rausfinden. Kehle durchgeschnitten …« Wenzel machte eine Pause und lockerte seine Krawatte. »… das hatten wir das letzte Mal bei dieser tschechischen Prostituierten. Erinnern Sie sich, Liedke?«
»Ja, leider. Ist schon Ewigkeiten her.«
»Da waren wir noch jung. Wie unser Samurai.«
Henry seufzte. Jetzt hatte es sein Spitzname von der Technik hinauf in die Chefetage geschafft. Er ahnte, dass er den Titel nicht so schnell loswerden würde. Entweder freundete er sich mit ihm an oder trennte sich von seinem Zopf. Wie automatisch strich er sich mit einer Hand übers Haar.
»Ich hab Unterstützung aus Erfurt angefordert«, fuhr Wenzel fort. »Morgen früh trifft sich die erste Mordkommission unter Ihrer Führung, Frau Liedke. Ich organisiere bis dahin einen Raum.«
»Klasse«, sagte Linda.
»Und Sie werden die Neuen einweihen«, wandte er sich an ihren jungen Kollegen.
»Ich kann das auch machen«, entgegnete Linda.
»Unser Samurai wird das Ding schon rocken, oder?«
Henry nickte wortlos.
9
Henry und Linda fuhren in den Fürstengraben zum Institut für Rechtsmedizin. Sie fragte ihn, ob er allein an der Leichenschau teilnehmen könne. Wo er doch schon Bescheid wisse, Schrumpelhaut und so weiter. Henry hob als Antwort seinen Notizblock und machte sich auf den Weg.
Vor dem Sektionsraum empfing ihn Martin Vossler aus der Spurensicherung. Er trug einen grünen Kittel und einen Mundschutz, den er aufs Kinn gestreift hatte. Er würde Stamms Körper nach nicht biologischen Spuren absuchen. Um eine Leichenöffnung vornehmen zu dürfen, brauchte das Institut noch das offizielle Ja der Staatsanwaltschaft. Henry ahnte, dass die Genehmigung nicht vor morgen Abend ins Haus flattern würde. Rasch warf er sich ebenfalls einen Kittel über.
»Nicht das Haarnetz vergessen.« Vossler deutete auf Henrys Zopf.
»Kein Problem.«
»Wo ist deine liebe Kollegin?«
»Die hat zu tun.«
»Ah, so nennt man das heute.«
»Aber ich bin ja hier.«
»Und deine sechsundvierzig Freunde, wo sind die?«
Henry hatte nicht die geringste Lust, der Höflichkeit halber zu grinsen. Stattdessen sagte er: »Ich bin nicht bei Facebook.«
»Ich meine auch die 47 Ronin?«
»Ronin? Noch nie gehört.«
»Das ist die Bezeichnung für einen herrenlosen Samurai.«
Henry wusste nicht, ob Vossler auf seinen Zopf oder eine vermeintliche Abhängigkeit von Linda anspielte. Weil es bösartiger war, entschied er sich für das Zweite. Er meinte zu Vossler, er sei nicht Lindas Hund oder Laufbursche.
»Hey, so war das nicht gemeint«, verteidigte sich Vossler. »Aber google mal die 47 Ronin. Interessante Story.«
Dann betraten sie gemeinsam den Sektionsraum.
10
Der Körper auf dem Edelstahltisch war für eine Wasserleiche im guten Zustand. Nach einem ersten Blick meinte Vossler, der Tote habe nicht länger als drei Tage im Wasser gelegen. Der anwesende Rechtsmediziner bestätigte Vosslers Auffassung. Kleidung oder Papiere, die sie hätten sicherstellen müssen, waren nicht vorhanden. Allein Stamms Körper und darauf verborgene Fremdpartikel konnten über die letzten Stunden des Toten Auskunft geben.
Henry erklärte abermals, dass es sich um Philipp Stamm, wohnhaft im Spitzweidenweg 20, handelte. Entgegen seiner Erwartung empfand er die Atmosphäre in dem sterilen Raum als sehr friedfertig. Es wurden keine Witze gerissen, selbst Vossler hatte seinen Sarkasmus draußen gelassen. Stattdessen hörte Henry nur eine Stimme, die unermüdlich Informationen in ein Diktaphon sprach. Vossler nahm mit Klebestreifen und Wattebäuschen Spuren von Stamms Körper. Henry notierte sich jede seiner Bemerkungen. Hin und wieder schoss er zur Dokumentation ein Foto.
Dann öffnete Vossler Stamms Mundhöhle und strich mit einem Wattebausch über das Zahnfleisch. »Kilmer, sehen Sie das?«
»Offenbar Fremdmaterial.«
Vossler hatte Stamms Lippen mit zwei Fingern zurückgeschoben. Auf dem Zahnfleisch, das wund und verquollen war, klebten feinste Fasern. Mit Hilfe einer Pinzette förderte er eine der Fasern ans Licht.
»Sieht nach Stoff aus«, sagte Vossler.
»Vielleicht vom Treibgut«, meinte Henry.
»Würde ich auch sagen. Aber in der Mundhöhle?«
»Es hatte stark geregnet.«
»Na ja, wird das Labor analysieren müssen.«
Mit einem neuen Stäbchen fand Vossler in der Mundhöhle noch etliche Faserspuren. Als hätte er auf Stoff gebissen, dachte Henry. Andererseits war ihm bekannt, dass Wasserleichen nicht allein eine Chronologie ihres eigenen Todes skizzieren. Eine Wasserleiche spiegelte ebenso das Gewässer und dessen Verschmutzung wider.
Als Vossler sich den Füßen zuwandte, stupste er Henry am Ellbogen. Er wies auf den linken Spann. Die im Normalfall straffe Haut war schlaff, aber noch nicht seifig. Gleichwohl hätte man glauben können, sie ließe sich mit einem Fingerwisch vom Fleisch streichen. Vossler fragte Henry, was er von der Wunde halte.
»Sieht aus wie eine geometrische Figur.«
»Oder ein Zeichen.«
»Kann Treibgut so was verursachen?«
»Kannst du dir selbst einen blasen?«
»Verstehe.«
Vossler dehnte die Haut an den entsprechenden Stellen so weit, dass sie den Wundrändern folgen konnten. Henry kopierte den Verlauf der Linien in seinen Notizblock. Ein Rechteck, dessen untere Seite von einer Diagonalen gekreuzt wurde.
»Eindeutig ein Zeichen«, sagte Vossler.
»Vom Mörder?«
»Vielleicht.«
»Mit demselben Objekt verursacht wie die Halswunde?«
Vossler zuckte die Schultern.
11
Im Wagen erkundigte sich Linda sogleich nach Stamms Todesursache. Henry wusste nicht recht, wo er anfangen sollte. Seine Notizen gingen kreuz und quer über das karierte Papier. Ob der Kehlenschnitt für Philipp Stamms Tod ursächlich war, lasse sich noch nicht beantworten. Der Schnitt könne ihm auch post mortem zugefügt worden sein. Stamms gesamter Körper sei mit Wunden übersät. Schürfwunden, Blessuren, Hämatome. Die Fischreuse, die der letzte Anker des Toten war, habe eine tiefe Wunde verursacht. Etwaige innere Verletzungen würde erst die Sektion aufzeigen. Linda reckte ihre Hand zur Beifahrerseite und tippte auf die Zeichnung. »Soll wohl das Haus vom Nikolaus werden.«
»Nein, das fand sich auf Stamms Fuß.«
»Komischer Zufall.«
»Wieso komischer Zufall?«
»Na, was man sich alles für Wunden einfangen kann.«
»Ich glaube nicht, dass das ein Zufallsprodukt ist.«
Als Linda nichts erwiderte, ergänzte Henry zur Untermauerung seiner Ansicht: »Und Vossler glaubt das auch nicht.«
Linda lenkte den Wagen Richtung Lobeda-Ost, bis Henry sagte, er wolle in die Goethe Galerie. Er brauche dringend neue Laufschuhe. Lindas Angebot, ihn zu fahren, lehnte er dankend ab.
»Toi, toi, toi«, rief sie aus dem Auto.
»Wofür?«, fragte Henry, plötzlich verunsichert.
»Na, dass du die richtigen Schuhe kriegst.«
»Ja, danke.«
Kaum war sie abgerauscht, machte er sich auf den Weg zu Vanessa Fiebig.