Mittwoch
1
Henrys Handyalarm klingelte um Punkt fünf Uhr. Er musste heute auf das Lauftraining verzichten. In zwei Stunden würde ihn Linda abholen. Bis dahin wollte er alle Fakten zum Fall Stamm zusammengetragen haben. Wenzels Gebot zufolge sollte er einer neu gegründeten Mordkommission die Einführung servieren.
Nachdem er Kaffee aufgesetzt hatte, stieg er in die Badewanne und duschte sich ab. Das lauwarme Wasser weckte seine Sinne. Doch im Gegensatz zur Müdigkeit ließ sich die Erinnerung an den gestrigen Abend nicht fortspülen. Er fragte sich immerzu, was passiert wäre, wenn er zwei Gläser mehr getrunken hätte. Wahrscheinlich hätte er freimütig erzählt, dass er sie gegoogelt und ihre Fotoalben durchforstet hatte. Dass er sie ohne Absprache mit seiner Kollegin aufgesucht hatte und nicht einmal hätte sagen können, weshalb. Langsam kroch ihm das Bild von Vanessa zwischen die Beine.
Vanessa im Bademantel. Vanessa auf der Couch. Vanessa am Strand.
Nackt, willig und stumm.
Er drehte die Wassertemperatur runter und biss die Zähne zusammen. Er sagte sich: Reiß dich am Riemen. In drei Stunden stehst du vor eine Gruppe Polizisten, die du in einen Mordfall einführen musst. Unter dem kalten Wasser beschwor er das Bild seines Vorgesetzten. Wenzel hinter seinem Schreibtisch. Wenzel mit Krawatte und Grinsen. Wenzel in Angriffslust.
Als er aus der Wanne stieg, spürte er sämtliche Muskeln seines Körpers. Die kalte Dusche hatte ihm die Liegestütze und das Hantelstemmen erspart. Er setzte sich an den Küchentisch und übertrug seine handschriftlichen Notizen in eine Datei. Voller Zufriedenheit stellte er fest, dass er das meiste aus dem Gedächtnis hervorkramen konnte. Der Morgen des Übergriffs auf Sebastian Rode und das anschließende Verschwinden von Philipp Stamm. Die Befragung der Zeugen respektive Mittäter. Die Spurenlage in Stamms Wohnung. Der Leichenfund und die äußere Leichenschau. Die Ergebnisse der Obduktion waren nicht vor Donnerstag zu erwarten.
Bei einer Tasse Kaffee studierte er die Fotos der gestrigen Leichenschau. Nicht zum ersten Mal bemerkte er, wie der Laptop einen Toten auf Abstand zu rücken vermochte. Das digitale Bild erhöhte die Distanz einer bloßen Fotografie um ein Vielfaches. Jetzt schien das Entsetzen, das ihn vor zwei Tagen am Flussufer gepackt hatte, vergessen. Nüchtern verglich er das Bild des Toten mit dem des Lebenden.
Stamms Körper war weiterhin kräftig. Doch zeugte er nicht mehr von jahrelangem Training. Er wirkte eher kompakt und schwerfällig wie der eines Bauarbeiters kurz vor dem Ruhestand. Was der Tod aus einem macht, dachte Henry und zoomte auf die verquollenen Fingerkuppen. Dann korrigierte er sich und dachte: was das Wasser aus einem Toten macht. Trotz seiner melodramatischen Regung blieb seine Miene frei von Emotionen.
Seine Mutter hatte ihm oft geraten, er solle mehr aus sich herausgehen. Andernfalls würde er sich früher oder später in einen Einzelgänger verwandeln. Im Nachhinein wollte ihm nicht einleuchten, weshalb sie von Verwandeln gesprochen hatte. Sein Charakter offenbarte eine geradezu beängstigende Kontinuität. Der fünfunddreißigjährige Henry unterschied sich nur wenig von dem zwölfjährigen. Als wäre der Junge entweder nicht gealtert oder mit zwölf Jahren abrupt zum Mann geworden. Als hätte er sich damals entschlossen, fortan eine Maske zu tragen. Unvermittelt wie ein Bildschirmschoner erschien Patricks Visage auf dem Laptop. Und begann zu lachen und zu grinsen und wieder zu lachen. Grinsen, lachen, grinsen. Und war tot. Schnell klickte er sich in die Gegenwart zurück.
Seine Recherche zum mysteriösen Zeichen aus Rechteck und Diagonale blieb erfolglos. Weder wurde er bei den Symbolen der Freimaurer fündig noch im Chaos asiatischer Schriften oder antiker Piktogramme. Das Zeichen schien trotz seiner Einfachheit beispiellos. Er würde eine Kopie nach Berlin ins Archiv für Semiotik schicken müssen. Als das Telefon klingelte, bemerkte er, dass er noch im Bademantel steckte.
2
Frank Wenzel hatte ihnen einen geräumigen Konferenzraum organisiert. Linda und Henry platzierten zwei Kaffeekannen auf die Tische, dazu Milch und Zucker. Henry verschwieg ihr den Besuch bei Vanessa Fiebig. Er wollte nur die nächste Stunde reibungslos hinter sich bringen. Den Rest wähnte er in weiter Ferne.
Wenzel betrat den Raum mit einem Grinsen, als hätte er schon im Gang jemanden demütigen dürfen. Er reichte keinem der Kommissare die Hand. Posaunte nur sein Guten Morgen in die Runde und bediente sich am Kaffee. Dabei verkündete er lautstark, dass seine Maschine noch immer im Arsch sei.
Linda sagte: »Vielleicht will jemand Ihren Kaffeekonsum reduzieren.«
»Warum das denn?«
»Ich hab gehört, Kaffee soll aufputschen.«
»Und wieso bin ich dann nur von Schlaftabletten umgeben?«
Linda lachte das Lachen einer Krähe. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie Wenzels sarkastische Art mochte. Einmal hatte sie Henry erklärt, sie könne sich keinen besseren Chef vorstellen. Wenzel sei ungerecht, launisch und schlage gern unter die Gürtellinie. Aber wenn die Kacke am Dampfen sei, so hatte sie hinzugefügt, springe er für sein Team in die Bresche. Auf einer Betriebsfeier habe sie ihn im Beisein seiner Frau erleben dürfen. Er sei wie ausgewechselt gewesen. Ein galanter Redner und Zuhörer und nicht zuletzt ein galanter Ehemann. Alte Schule eben.
Bis halb neun fanden sich drei weitere Kriminalbeamte ein. Lennart Mikowski aus Team zwei war als Verstärkung in die MK beordert worden. Er hatte weder einen Schreibblock noch einen Laptop bei sich. Auf seinem Pullover prangte das Konterfei einer bunten Maske, darunter der Schriftzug »El Santo«. Seine Turnschuhe sahen aus, als trage er sie seit dem zehnten Lebensjahr. Henry schätzte sein Alter auf ungefähr vierzig. Seine Lässigkeit erinnerte ihn an den Typus eines älteren Bruders. Einen, für den man sich offenbar schämte, während man ihn insgeheim vergötterte.
Die anderen Beamten kamen vom LKA Erfurt. Wenzel hatte angekündigt, dass er sie anfordern würde. Sein Posten und seine Entschiedenheit hatten letztlich ihr schnelles Eintreffen ermöglicht. Gemäß Wenzels Worten. Doch Linda hatte Henry längst auf die Hackordnung innerhalb der Thüringer Polizei hingewiesen. Ihrer Einschätzung nach waren die Erfurter Kollegen der KPI Jena aufgedrückt worden.
Neben einer jungen Frau hatten sie einen Mann Anfang sechzig geschickt. Sein Name war Walter Dörndahl. Mit seiner Behäbigkeit bildete er den Antipoden zu Frank Wenzel. Vor ihm lagen eine in Alufolie eingewickelte Semmel und eine Thermoskanne. Als sich die Kollegin aus dem LKA vorstellen wollte, schnitt ihr Wenzel auf rüde Art das Wort ab. Für Agitation sei später noch Zeit, sagte er und bat Henry anzufangen.
Schon nach wenigen Sätzen spürte er, dass ihn der Fall in Fleisch und Blut übergegangen war. Eine Karte illustrierte Stamms Heimweg vom Rosenkeller in den Spitzweidenweg. Ein Beamer warf Fotos von Tatort und Leiche an die Wand. Henry gab die Aussagen der Zeugen wieder und verwies auf ein von ihm abgefasstes Dossier. Darin befänden sich neben den Fotos auch die Gesprächsprotokolle. Walter Dörndahl hob den Arm, worauf Henry sich tatsächlich wie ein Lehrer vorkam.
Dörndahl fragte: »Philipp Stamms Freunde geben sich also gegenseitig ein Alibi?«
»Nicht ganz«, antwortete Henry. »Thomas Zabel verließ nach Vanessa Fiebig das Opfer.«
»Dann besitzt er im Grunde kein Alibi?«
»Es sei denn, jemand hat ihn unterwegs gesehen.«
»Wurde Thomas Zabel dahin gehend befragt?«
Henry schüttelte den Kopf.
»Ich glaub kaum, dass ein Unbekannter Stamm im Hausflur aufgelauert hat«, sagte Lennart Mikowski. »Früh am Sonntag. Und ohne zu wissen, wann Stamm nach Hause kommt. Wir sollten uns diesen Zabel mal vorknöpfen.«
Ehe Henry den Einwand hätte kommentieren können, beendete Wenzel die Runde. »Solang wir keinen Tatverdächtigen haben, sind alle verdächtig. Also nehmen Sie sich die beiden zur Brust.«
»Thomas Zabel und Vanessa Fiebig?«, fragte Dörndahl nach.
»Nein, Hänsel und Gretel.«
Die junge Kollegin aus Erfurt betrachtete Frank Wenzel voller Skepsis. Henry konnte sich denken, was ihr im Augenblick durch den Kopf ging: dass der Chef der KPI Jena Petersilie mit einem Mähdrescher zu ernten pflegte.
»Bei der Tatortarbeit werden Sie von der Bereitschaft unterstützt«, sagte Wenzel. »Also bilden Sie zwei Gruppen, jeweils unter Leitung von Frau Liedke und Herrn Kilmer.«
Henrys Pulsschlag schoss in die Höhe. Zum ersten Mal würde er in einer Mordermittlung ein Team leiten und Verantwortung tragen. Die eine Gruppe sollte für eine Befragung der Anwohner in den Spitzweidenweg fahren, die andere das Saaleufer abgehen.
»Und mit abgehen meine ich abgehen«, bekräftigte Wenzel.
Henry ergänzte, die SpuSi habe den Zustand der Leiche mit der Strömung des Wassers abgeglichen. Anschließend präsentierte er einen Ausschnitt auf der Karte. Wenzel trat hinzu und meinte, jeder Fliegenschiss zwischen Burgau und Wöllnitz müsse untersucht werden. Niemand wagte aufzustöhnen.
Nach der Besprechung kapselten sich Linda und Henry für zehn Minuten ab. Obgleich er seinen Stolz über die Ernennung zum Gruppenleiter kaschierte, reagierte Linda. Ohne Umschweife holte sie ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Sagte, Wenzel würde ein Schaf die MK leiten lassen, solange das Schaf aus seinem Stall käme. Sie habe von ihm noch kein gutes Wort über die Erfurter gehört. Als sich daraufhin Henrys Kopf senkte, sagte Linda: »Und die kleine Brünette, wär die nichts für dich?«
3
Während Lindas Team Stamms Wohnung aufsuchte, fuhr Henry mit Lennart Mikowski und Svenja Freese ans Saaleufer. Sie benutzten Mikowskis Privatwagen, einen Fiat Bravo. Zwei Einsatzbusse mit uniformierten Polizisten der Bereitschaft folgten ihnen. Kaum hatten sie ihr Ziel erreicht, begann es zu nieseln. Sie warfen sich allesamt dünne Regencapes über. Zwei Uniformierte suchten auf dem begrünten Mittelstreifen der Stadtrodaer Straße nach Hinweisen. Der Rest schritt in kleinen Gruppen das Ufer in Richtung Süden ab.
Rasch näherten sich die Kriminalbeamten jener Zone, wo laut Vossler Stamms Körper ins Wasser hätte gelangen können. Allerdings hatte Vossler auch angefügt, dass die Eingrenzung mit Vorsicht zu genießen sei. Letztlich lasse sich nur schätzen, wie lange die Leiche in der Reuse verheddert gewesen war. Schon bei einer Abweichung von wenigen Stunden müsse man die betreffende Zone woanders verorten.
In eine Wathose geschlüpft, begutachtete Henry aus dem Wasser die Böschung. Svenja Freese stand am Ufer und suchte im Gestrüpp nach Spuren. Als Henry zur Straße aufschaute, folgten ihre Augen seinem Blick. Nahe dem Ufer verlief die Stadtrodaer Straße, dahinter erhob sich das zerklüftete Massiv der Kernberge.
»Vielleicht wurde er an der Straße abgeladen«, rief Henry.
»Ich glaube nicht, dass wir noch Spuren finden.« Svenja Freese umfasste einen schmalen Ast und rüttelte ihn. »Hier hat’s mächtig geschifft.«
»Ich erinnere mich an den Sturzregen.« Henrys Blick senkte sich auf die Erfurter Kollegin. Die Kapuze des Regencapes umrahmte ihr Gesicht wie das schwarze Kopftuch die Trauermiene einer Witwe. Er fand Svenja Freeses Züge ausgesprochen weich, und das gefiel ihm. Jetzt, bis zu den Knien im Wasser stehend, hätte er sie gern auf einen Kaffee eingeladen. Dass er nichts über sie wusste, war ihm gleich. Bei so einem Gesicht, dachte er, musste sie ein guter Mensch sein. Unter dem nassen Regencape formten sich die Konturen ihrer Pistole. Instinktiv berührte er seine eigene Waffe. Dann zuckte er unentschlossen die Achseln und bewegte sich zurück ans Ufer.
»Wenn Stamm im Regen hergeschleift wurde«, sagte sie, »hat sich das Gras längst wieder aufgerichtet.«
»In Naturkunde eine eins gehabt?«
»Ich bin aufm Land groß geworden.«
»Und da lernt man so was?«
»Da lernt man so einiges.«
Henry wies über ihren Kopf hinweg in die Kernberge. »Siehst du das Haus dort oben?«
»Klar, ist ja das einzige weit und breit.«
»Von dort kann man das Gelände wunderbar überblicken.«
»Na, dann hoch.«
Unterwegs dorthin wechselten sie kein Wort. Als sie die Stadtrodaer Straße lange im Rücken hatten, vernahm er noch das Rauschen des Verkehrs. An so einer Straße, grübelte er, musste jemand was bemerkt haben. Die Leiche war wohl kaum aus dem fahrenden Auto geschmissen worden und anschließend allein ins Wasser gerollt. Erst durch das ganze Gestrüpp, dann die Böschung hinunter. Der Täter musste sie eigenhändig ans Ufer geschleppt haben. Infolge des heftigen Regens hatten sich die Autofahrer auf Straße und Verkehr konzentrieren müssen. Niemand schenkt unter solchen Umständen einem parkenden Wagen Beachtung. An einem Fluss, den man tagein, tagaus sieht. Der womöglich in völlige Dunkelheit getaucht war.
Nach zehn Minuten Fußweg erreichten Henry und Svenja Freese das Haus. Zufrieden spähte er durch den Regen auf die Stadtrodaer Straße. Aus dieser Höhe hatte man freie Sicht über die Saale bis in das südliche Bergland. Derweil Svenja Freese den Türklopfer schlug, wuchs in ihm eine vage Hoffnung. Die Kurzgardinen in den Küchenfenstern ließen ältere Eigentümer vermuten. Vielleicht die wachsamen Augen von Ruheständlern.
Eine Gardine wurde beiseitegezogen, und Henry drückte seinen Ausweis gegen die Scheibe. Sobald sich die Tür geöffnet hatte, wehte ein Geruch nach Kümmel und Kohlsuppe über die Schwelle. Henry stellte sich und seine Kollegin vor. Frau Bräuer trug einen Kittel aus Polyester, darunter hautfarbene Strumpfhosen und Stoffpantoffeln. Ihre runzligen Hände krallten sich um die Türklinke. Mit besorgter Miene fragte sie, ob ihrem Mann etwas zugestoßen sei.
Henry bemerkte, dass seine Kollegin sich hinter ihm positioniert hatte. Diese Situation war für ihn ungewohnt. In aller Regel stand Linda neben oder vor ihm und führte das Gespräch. »Keine Sorge«, sagte er kühl. »Wir sind nicht wegen ihres Mannes hier.«
Der Blick der Greisin schlug von Sorge in Misstrauen um.
»Wir sind gar nicht Ihretwegen hier«, fuhr Henry fort. »Wir haben nur ein paar Fragen zur letzten Woche.« Ohne die Details zu erläutern, umriss er den Sachverhalt. Er zeigte ihr das Bild von Philipp Stamm, worauf ihr Gesicht in Erstaunen geriet.
»Das ist doch der Schläger.«
»Sie kennen ihn?«
»Ja, aus der Zeitung.«
Henry erinnerte sich an das offizielle Fahndungsbild: Philipp Stamm mit energischem Blick. Im Vordergrund seine kräftigen Schultern, im Verborgenen all die Dinge, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Philipp Stamm in einem Zustand, der ihm jede weitere Gewalttat unmöglich machte. Stamm würde nie mehr jemandem wehtun, dachte Henry ohne Mitleid. Ihm flogen Gedanken durchs Hirn, die er von den Kollegen kaum toleriert hätte. Vielleicht erspart sein Tod einigen Menschen Schmerzen. Ein Monster weniger auf der Welt.
4
Die einzigen Gestalten, die sich verdächtig am Saaleufer rumgetrieben hatten, waren ein paar Halbwüchsige gewesen. Sie hatten massenhaft Bier getrunken und waren einander auf den Rücken geklettert. Bei Sonnenuntergang hatten sie sich dann mit Schlamm ihre aufgeblähten Bäuche besudelt. Wie eine Rotte Sauen, unterstrich Frau Bräuer ihren Groll über solche Flausen. Es dauerte eine Weile, bis die Kommissare begriffen, dass es sich um Ereignisse aus ihrer Jugend handelte. Als letzter Hoffnungsschimmer blieb ihnen nur Gustav Bräuer, ihr fünfundsiebzigjähriger Gatte. Nach ihrer Aussage war er in den Kernbergen wandern und käme nicht vor den Sieben-Uhr-Nachrichten heim. Daher sollten sie es am nächsten Tag versuchen. Gustav brauche nämlich seinen Schlaf, er habe es mit den Nerven. Sie ließ ihren Zeigefinger so lange in Stirnhöhe kreisen, dass es den Anschein machte, sie höre nicht wieder auf. Erst als ihr Henry seine Visitenkarte aushändigte, senkte sich ihr Finger. Sie bot den Ermittlern einen Teller Suppe an, was beide letztlich zum Aufbruch bewog.
Draußen prasselte ihnen der Regen lautstark auf die Kapuzen. Henrys Annahme, seine Kollegin würde direkt die Befragung kommentieren, erfüllte sich nicht. Argwöhnisch schnipste er das Wasser von seinem Umhang. »Komisch, bei diesem Wetter geht der wandern.«
»Welches Wetter denn?«
»Na, dieses Scheißwetter.«
»Stadtmenschen«, lachte Svenja Freese. »Ein Tropfen, und die Welt geht unter.«
5
Robert Krone saß allein in der Küche. Sein Kopf fühlte sich vom gestrigen Abend dumpf an. Er hatte Kopfschmerzen gehabt und zu viele Tabletten eingeworfen. Tabletten, die unabdingbar neue Kopfschmerzen verursachen. Er war längst gefangen in einem Kreislauf aus Triptanen, Neben- und Wechselwirkungen.
Er stützte die Ellbogen auf den Küchentisch und legte die Stirn in die Hände. Bei der Abwärtsbewegung durchfuhr ein undefinierbares Dröhnen seinen Schädel. Als gäbe es im Innern seines Kopfes ein schwarzes Loch, das selbst die leisesten Geräusche aufsog. Er fuhr hoch, doch das Dröhnen wollte nicht abflauen. Jede noch so kleine Regung bot dem schwarzen Loch Futter. Er brauchte sofort Tabletten, ein Zäpfchen, eine Injektion. Oder einen Schluck Alkohol.
Auf wackligen Beinen schlurfte er ins Badezimmer. Öffnete die Schränke, wendete eine Packung nach der anderen. Die Kosmetika, Döschen und Wattebäusche gehörten seiner Frau. Am liebsten hätte er das ganze Zeug achtlos ins Klo gefeuert. Er schmiss die Schranktür zu, und das Knallen hallte tausendfach durch seinen Schädel. Als er daraufhin sein Gesicht im Spiegel betrachtete, explodierte in ihm ein ungeheurer Selbsthass.
Seine blonden Locken zerschnitten ihm schlaff und fettig die Stirn. Unter seinen Augen blähten sich Adern, zuckend und dick wie Spulwürmer. Er hatte seit Tagen seinen Bart nicht mehr gestutzt. Alkoholiker, dachte er abfällig und war sich seiner Ausrede bewusst. Versager, dachte er und fand keine Entschuldigung.
Früher oder später würde Annett ihn verlassen. Das ahnte er. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich des Alters wegen freiwillig an einen Mann ketteten. Schon gar nicht in der vagen Hoffnung auf einen stressfreien Lebensabend. Sie gehörte zu den Frauen, die immer die Chance bekämen, ihren Mann mit anderen Männern zu vergleichen. Und das nicht nur in sinnlosen Gedankenspielen, sondern auch in der Praxis. Im Kollegium, auf Klassenfahrten, während der Treffen mit ihren Aberhundert Freundinnen. Er berührte seine Stirn und wusste plötzlich, was ihm in naher Zukunft zustoßen würde: Das schwarze Loch hinter seinen Augen würde ihn verschlingen, bis von ihm nur noch eine lästige Erinnerung übrig wäre. Der Mann, der einmal mit Annett Krone verheiratet gewesen war. Er fiel auf die Knie und linste unter die Badewanne. Dort lagen seine Tabletten auch nicht. Er schlug mit der Hand auf den Wannenrand – einmal, zweimal, so lange, bis sein Handballen rot anschwoll. Dann schlurfte er ins Arbeitszimmer.
Das hatte Annett sich vor Jahren eingerichtet, damit sie in Ruhe die Arbeiten ihrer Schüler kontrollieren konnte. An der Wand hingen von Drittklässlern gemalte Bilder. Sie stammten aus den Anfangstagen ihrer Laufbahn. Strichmännchen in grellen Farben wechselten mit grauen Regenwolken auf mittlerweile vergilbtem Papier. Ihre Galerie, hatte sie oft im Spaß gemeint. Nicht seine. Und dann hatte sie gelacht, wie nur ein glücklicher Mensch zu lachen fähig war. Robert erinnerte sich gern an diese Zeit.
Das Bild direkt über ihrem Schreibtisch stammte von ihrem gemeinsamen Sohn. Ein begnadeter Künstler war Johannes nicht. Schon damals verriet seine akkurate Linienführung den zukünftigen Ingenieur. Dass sein Sohn einmal in Berlin studieren würde, hatte Robert anfangs keine Sorgen bereitet. Der Vorstellung von einem Familienleben ohne Johannes hatte er sogar gute Seiten abgewinnen können. Das neue Leben würde wieder dem Leben vor Johannes ähneln. Robert und Annett Krone allein. Robert und Annett in trauter Zweisamkeit. Das Traumpaar schlechthin. Sex und paradiesische Ferien. Sex und Alltag. Sex und eine Beziehung, frei von ernsthaften Problemen. So hatte er zumindest gedacht.
Robert setzte sich an den Schreibtisch und begann, unsystematisch nach seinen Tabletten zu suchen. Er öffnete Schubladen, schaute unter bunten Mappen und einem Haufen loser Papierbogen. Verrückte Ordner und Ablagen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass das Bild seines Sohnes den einzigen Hinweis auf seine eigene Person darstellte. Johannes, Annett und Robert. Fleisch von unserem Fleisch. Ansonsten war nichts von ihm in diesem Raum gegenwärtig. Kein Foto an der Korkwand, kein Vermerk auf dem Kalender. Kein beschissener Schnappschuss vom letzten Urlaub. Nichts.
Er existierte in diesem Teil der Wohnung nicht mehr. Hatte hier vielleicht niemals existiert.
Und mit dieser bitteren Erkenntnis schwoll das Dröhnen in seinem Schädel an. Er senkte leicht den Kopf, riss die Augen auf und wischte voller Wut über den Schreibtisch. Hefter und Ordner schlugen zu Boden. Lose Papierbogen wirbelten im Zimmer umher, flatterten wie greifbares Gelächter durch die Luft. Er griff eine Schatulle mit Buntstiften und warf sie gegen die Tür.
Ich bin hier, dachte er.
Sein Blick schweifte über das angerichtete Chaos.
Ich bin hier.
Linierte Blätter, auf denen der Rotstift gewütet hatte.
Ich bin hier.
Aufsätze über einen Besuch im Tierpark, mit Zeichnungen von Elefanten, Affen, Bären.
Ich bin hier.
Wilde Tiere, eingezwängt in Käfige.
Ich bin hier.
Und darunter ein unscheinbarer Notizzettel mit einer Handschrift, die nicht von seiner Frau stammte.
Er bückte sich und las.
Morgen 18 Uhr.
Statt eines Ausrufezeichens ein Herz über einem Punkt.
Ich bin hier.
Ich bin hier.
Ich bin hier.
Doch sie nicht.
6
Nach drei Stunden wurde die Spurensuche unterbrochen. Ein Polizist hatte mit Hilfe eines Metalldetektors das rostige Blatt eines Spatens aufgespürt. Doch der Schnelltest offenbarte nicht den kleinsten Spritzer Blut. Später hatte ein Wanderer gemeint, sie sollten einmal hundert Meter in Richtung Alte Brücke suchen. Dort lägen mindestens fünf Bierpullen. Die reinste Schweinerei. Hatte gemotzt, vom Rumstehen sei noch keine Straftat verhindert worden. Widerwillig hatte Lennart Mikowski einen mit Mülltüten bewaffneten Polizisten entsandt. Alles für den guten Ruf. Alles, um eine lästige Fliege abzuschütteln. Henry wartete derweil am Straßenrand auf Maike Koch und ihren Golden Retriever.
Sie traf gegen vierzehn Uhr am potenziellen Tatort ein und entschuldigte sich für ihre Verspätung. Ein Schädelfund im Waldgebiet bei Eisenach habe sie aufgehalten. Sie hatte ihr rotes Kraushaar zu einem schweren Zopf gebunden. In ihrer vor Dreck starren Kleidung erweckte sie den Anschein, sie käme direkt aus einem Survivalcamp. »Gut, dass ihr gewartet habt«, sagte Maike mit Blick auf die Truppe.
Die Uniformierten hatten sich um einen Einsatzwagen geschart und tranken Kaffee aus Pappbechern. Von ihren Capes perlte unablässig der Regen. Ihre Hosen waren bis zu den Knien durchweicht. Lennart Mikowski gab unbeeindruckt eine Einführung in Sachen Mexican Wrestling.
»Genau genommen machen wir grad Pause«, sagte Henry. »Wir sind seit heut Morgen hier.«
Maike Koch stand mitten im Regen, ohne Kapuze, ohne Umhang. »Und wart ihr schon unten am Wasser?«
»Ja, die ganze Zeit.«
»Habt alles schön abgegrast, nicht wahr?«
»So gut es eben ging.«
»Mannomann, echt klasse.«
»Kein Ding.«
»Das war ironisch gemeint«, maulte sie ihn an. »Schon mal dran gedacht, dass ihr wichtige Spuren breitlatscht?«
Die Kritik der Hundeführerin war unmissverständlich und einleuchtend. Zunächst entschuldigte sich Henry, darauf Svenja Freese, obgleich sie die Maßnahme nicht zu verantworten hatte.
»Sorry, wir sind scheiß Amateure«, sagte Henry.
»Scheiß ist noch untertrieben«, antwortete Maike Koch und holte ihren Hund aus dem Wagen. Henry reichte ihr als Geruchsprobe das Muskelshirt von Philipp Stamm. Keine Minute später rannte der Golden Retriever mit Maike Koch im Schlepptau los. Henry und Svenja Freese folgten ihr dichtauf.
An derselben Stelle, wo Vossler die Ausbringung von Stamms Körper vermutete, begann der Hund anzuschlagen. Er strebte nach links, er strebte nach rechts. Ruckartig straffte sich die Leine, und er zog seine Führerin zur Straße hoch. Folgte zwei Meter der Fahrbahn, drückte die Nase aufs Pflaster, rannte wieder hinunter und blieb bellend am Ufer stehen. Maike Koch verharrte hinter dem Hund. Als er nicht mehr abrücken wollte, gab sie Henry ein Zeichen. Dann zog sie gemeinsam mit Svenja Freese weiter nach Norden. Henry schlüpfte erneut in die Wathose und winkte Lennart Mikowski herbei.
»Hätte man die Leiche hier reingeworfen«, sagte Mikowski, »wäre sie rasch angeschwemmt worden.« Er trat ins Gehölz und kehrte mit einem mittelgroßen Ast zurück. Ging in die Hocke und schubste ihn aufs Wasser hinaus. Henry beobachtete, wie der Ast schon nach wenigen Metern ans Ufer gespült wurde. Was er sah, passte nicht zu den Fakten. Ende letzter Woche war die Wetterlage ähnlich der heutigen gewesen. Heftiger Niederschlag und eine leichte Böe von Westen her. Die Strömung hatte Stamms Körper so lange mitgetragen, bis er an einer Fischreuse hängen geblieben war. Hätte ihn der Täter hier vom Ufer gestoßen, hätten sie die Leiche auch nahe dieser Stelle entdeckt. Und nicht zweihundert Meter flussab.
Mikowski fischte den Ast aus dem Wasser und hob ihn sich mit gespielter Anstrengung auf die Schulter. »Man hätte die Leiche rausschleudern müssen. Aber bei dem Gewicht ein Ding der Unmöglichkeit.«
Henry duckte sich unter den Ast hindurch, um sich neben Mikowski zu stellen. Ratlos betrachtete er die konzentrischen Kreise, die der Regen aufs Wasser schlug. »Du meinst, wegen der zurückgelegten Strecke?«
Ohne zu antworten, schob Mikowski seinen Kollegen kumpelhaft zur Seite. Er holte mit dem Ast Schwung und schleuderte ihn weit auf den Fluss hinaus. Ein dumpfes Klatschen folge. Dann trieb der Ast trotz Strömung und Westwind ein gutes Stück flussabwärts. »Natürlich ist das nur ein bescheuerter Ast. Der schwimmt oben.«
»Aber das Prinzip ist offensichtlich.« Henry watete bis zur Hüfte ins Wasser. Sobald er einen festen Stand gefunden hatte, fotografierte er mit seinem Handy die Uferzone ab. Mikowski grinste unter seiner Kapuze. »Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass das Opfer rausgeschwommen ist. Quasi post mortem.«
7
Auf dem Rückweg in die KPI rief Linda an. Sie sagte ihm, sie hätten Stamms Wohnungsschlüssel gefunden. Ein achtjähriger Junge aus dem Haus hätte ihn vor der Kellertür entdeckt und an sich genommen. Als ein Uniformierter seine Mutter befragt habe, sei dem Jungen sein mittlerweile unwichtiger Fund eingefallen. Den Schlüssel hatte er in den Papierkorb geworfen.
»Und Spuren?«, fragte Henry.
»Außer von Joghurt und Schokolade nichts.«
»Und alles stammt aus dem Papierkorb des Jungen.«
»Genau.«
»Und wie ist der Schlüssel vor die Kellertür gelangt?«
»Dörndahl ist drauf gekommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der Täter den Schlüssel zwischen dem Treppengeländer durchrauschen lassen. Wir haben es ausprobiert, und siehe da: Es funktioniert.«
»Bis nach unten?«
»Ja, bis vor die Kellertür.«
»Immerhin wissen wir jetzt, dass der Täter nicht den Fahrstuhl benutzt hat.«
»Okay, bis gleich. Wenzel will uns sprechen.«
»Bis gleich.«
8
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Wenzel. »Wir haben einen Toten und seinen Wohnungsschlüssel.« Er saß hinter seinem Schreibtisch, stemmte beide Arme gegen die Oberkante und grinste. Henry war sich unschlüssig, ob sein Grinsen Bestätigung, Wohlwollen oder totale Ablehnung signalisieren sollte.
»Und wir haben womöglich die Stelle, an der er ins Wasser gestoßen wurde.« Linda ließ sich durch Wenzels Tonfall nicht aus der Ruhe bringen.
»Ausgezeichnet. Wir kennen weder den Täter noch das Motiv. Haben Sie denn klären können, wie Stamm aus seiner Wohnung ins Wasser gekommen ist?«
»Wir vermuten, in einem Sack.«
»Fanden sich irgendwo Faserspuren?«
»Vossler untersucht bereits das Treppenhaus.«
»Ohne Frage, ein ganz fleißiger Junge. Aber was können Sie mir servieren?«
»Wir vermuten, dass Stamm mit dem Auto zur Saale gebracht wurde. Irgendwann zwischen Donnerstag und Sonntag letzter Woche.«
»Ich höre immer nur vermuten und womöglich und wieder vermuten. Wie steht’s mit handfesten Beweisen?« Unverändert beide Arme gegen die Tischkante gestemmt, starrte Wenzel zu seiner Kaffeemaschine. Henry hoffte inständig, der Anblick würde seine Gereiztheit nicht verstärken.
»Also«, fuhr Wenzel fort, »für die Presseheinis bleibt der Fall tabu. Ich habe keine Lust, irgendwelchen Scheiß von Bandenkrieg und dubiosen Racheakten zu lesen. Philipp Stamm gilt weiterhin als flüchtig. Das bringt uns am ehesten Hinweise aus der Bevölkerung. Okay?«
Linda und Henry nickten.
»Und was hat die Vernehmung seiner Freunde erbracht?«
»Die steht morgen auf dem Programm.«
»Und die Arbeit mit den Erfurtern? Funktioniert die?«
»Sie kennen doch die Erfurter«, sagte Linda, und Henry sah das einvernehmliche Grinsen zwischen ihr und Wenzel. Er atmete innerlich auf. Offenbar gab es für Wenzel schlimmere Dinge als eine kaputte Kaffeemaschine und zwei im Dunkeln tappende Schafe.
9
Er schob sich einen Stuhl in die Mitte des Raums und setzte sich. Seine nackten Füße standen parallel, seine Hände lagen auf den Armlehnen. Er trug die zerschlissene Arbeitshose, die sein Vater schon getragen hatte. Das weiße Hemd hatte er bis zum Kragen hin zugeknöpft. Er fühlte sich wohl in diesen Sachen. Sie rochen nach seinem Vater, nach Schweiß und Arbeit. Er hatte die Sachen noch nie gewaschen, und er würde sie auch niemals waschen. Die Angst, der Geruch könnte verschwinden oder der Stoff sich auflösen, war zu groß. Sein Vater steckte in dieser Kleidung wie der Schweiß des Heilands im Tuch der Berenice.
Während sein Blick rings über die Mauern aus rotem Backstein schweifte, kamen die Erinnerungen. Früher waren diese Räume vom Schnaufen hart arbeitender Männer erfüllt gewesen. Säcke voll mit Mörtel, Gips und Kalk wurden aus Lastern in die Werkstatt gehievt und später wieder verladen. Auf den Händen seines Vaters hatte sich in den Lebenslinien oft Gips gesammelt. Als hätte er hautfarbene Handschuhe mit weißen Ziernähten getragen. Er hatte damals nicht geahnt, wie sehr er einmal diese eingestaubten Handteller vermissen würde.
Aus dem Leder, das an seinem Gürtel hing, zog er ein Messer. Aus der Beintasche seiner Arbeitshose einen fischförmigen Schleifstein. Er begann mit äußerster Ruhe, die Messerscheide über den Stein zu ziehen. Vor und zurück, stets im selben Rhythmus. Vor und zurück. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass Blut auf Stahl keinerlei Spuren hinterlässt. Er hatte das Messer gesäubert, und nun war die Klinge vom Gift der Schlange befreit. Im Unterschied zum Blut hinterließ jede Bewegung über den Schleifstein eine Spur auf dem Messer. Jede noch so kleine Bewegung machte die Klinge schärfer und schärfer. Und auch darin offenbarte sich die Verschiedenheit zwischen der Macht des Tieres und der Macht des Engels. Das eine verging, während das andere überdauerte. Ihn konnte man nicht auslöschen wie einen dreckigen Flecken Blut. Aufs Tiefste befriedigt, stand er auf, entkleidete sich und legte sich nackt in den Staub.
10
Henrys Magen knurrte, und sein Kopf war schwer vor Müdigkeit. Beim Kochen dachte er darüber nach, was geschehen wäre, wenn Vanessa Stamms Schicksal ausgeplaudert hätte. Wie viele Menschen mussten von einem Mord erfahren, damit er in den Medien landete? Stamms Eltern wussten seit gestern Bescheid. Aber vermutlich hatte Wenzel sie angehalten, über das Schicksal ihres Sohnes Schweigen zu bewahren. Andernfalls wäre der positive Abschluss der Ermittlungen gefährdet. Er konnte sich Wenzels deutliche Art allzu gut vorstellen.
Während das Gemüse in der Pfanne schmorte, krochen ihm Vanessas Urlaubsfotos ins Gedächtnis. Plötzlich entglitt ihm der Kochlöffel, und er stürmte an seinen Laptop. Er musste das Internet nach Meldungen durchstöbern. Nur weil sie mit niemandem sprach, hieß das nicht, dass die Nachricht unter vier Augen blieb. Das verfluchte Internet, dachte er in panischer Erregung. Er tippte den Namen des Toten und begann die Einträge zu durchforsten. Ungeachtet seines Hungers verdampfte das Essen aus seinen Gedanken.
Wie im Rausch strichen die Minuten dahin. Er klickte sich durch unzählige Einträge, von denen ihm jeder sinnloser erschien als der vorherige. Ein Philipp Stamm postete täglich sein Frühstück. Am heutigen Morgen Croissants und Konfitüre in Portionspackungen. Ein anderer Philipp Stamm hatte Videos von tanzenden Hunden hochgeladen. Auf einem sozialen Netzwerk nannte sich jemand Philipp Stamm, der Erste. Für einen Moment vergaß Henry, dass der Name Philipp Stamm nicht nur einmal existierte. Als präsentierte das Überangebot an Philipp Stamms nur die verschiedenen Spielarten eines einzigen Charakters. Stamm, der Frühstücker und Hotelbesucher. Stamm, der Hundefreund. Stamm, der sich zum Ersten gekrönt hatte.
Stamm, der Schläger.
Weder tot noch aufgeschlitzt.
Über den Verstorbenen fand sich lediglich der Aufruf zur Fahndung. Lauter Einträge, die Henry bereits vor Tagen gesichtet hatte. Er klickte sich auf Vanessas Facebook-Profil. Kein neuer Eintrag vorhanden. Nirgends ein Zeichen der Trauer. Nirgends ein Kommentar, der tiefe Betroffenheit oder Depressionen erahnen ließ. Nicht einmal die beiläufige Erwähnung von Stamms Namen konnte er aufstöbern. Ihr letzter Post war datiert auf Samstag, den 21. September. Es lautete: Endlich Wochenende. Party, Party, Party!
Erleichtert klappte Henry den Laptop zu. Er wollte nicht daran denken, dass Vanessa sich mittlerweile einer Freundin anvertraut haben könnte. Oder dem Freund und Zeugen Thomas Zabel. In diesem Fall wäre die Verbreitung der Nachricht nur eine Frage der Zeit. Er fasste den Entschluss, gleich am nächsten Morgen Linda seinen Fehltritt zu beichten. Alles musste auf den Tisch, auch der bittere Wein. Er ließ das zerkochte Gemüse in der Pfanne und begrub sich unter der Bettdecke.
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Der Mann stand knietief im Wasser, während die Frau vor ihm in der Uferböschung lag. Unter ihrem nackten Körper schwarze Wurzeln und schwarze Erde. Nur ihr linkes Bein hing wie ein abgeknickter Birkenzweig ins Wasser. Ohne die geringste Scheu tasteten die Pranken des Mannes ihren Körper ab. Pressten ihre Brüste zusammen und schoben sie auseinander. Pressten sie wieder zusammen und schoben sie wieder auseinander. Wasser schwappte in sanften Wellen gegen ihre linke Wade. Die Frau war schön und begehrenswert und ohne Leben.
Auf der anderen Seite des Flusses duckte sich Henry hinter einen Busch. Trotz der Dunkelheit konnte er die riesigen Hände des Mannes erkennen. Deren Haut schien im kühlen Mondlicht zu phosphoreszieren. Aber sein Gesicht und auch das Gesicht der Frau blieben verschwommen wie das Sonogramm eines Ungeborenen.
Scheinbar ohne Anstrengung trug der Mann den Leichnam ins Wasser und ließ ihn dort sinken. Jede Welle brachte den bleichen Körper zum Beben. Dann schob er die Frau bis über die Flussmitte, gab sie aber mitnichten frei. Stattdessen umfasste er ihre linke Ferse, als wollte er sie wieder heranziehen. Als könne er nicht loslassen, was längst gegangen war.
Aus dem Nichts materialisierte sich in seiner Rechten ein Messer. Der Frau den Rücken zugewandt, klemmte er sich ihr Schienbein unter die Achsel und begann ihren Fußspann zu bearbeiten. Kein Blut, kein Widerstand. Es sah aus, als schnitze er in eine hölzerne Madonna die Wundmale ihres eigenen Sohnes. Henry spürte, wie ihn eine tiefe Erregung erfasste. Spürte den Schauder von Angst und Begierde.
Sobald der Mann seine Arbeit beendet hatte, stieß er die Frau von sich, und sie trieb flussabwärts. Der Mann watete aus dem Wasser und verschwand in der Düsternis. Henry war hin- und hergerissen: Sollte er hinter dem Busch ausharren oder nicht? Sollte er dem Mann folgen oder nicht? Dann wählte er den Sprung ins Wasser.
Er schwamm der Frau nach. Dachte ihren Namen bei jedem Stoß seiner Arme, jedem Schlag seiner Beine. Vanessa. Vanessa. Vanessa.
Als er sie eingeholt hatte, glitt er gleich einem Pilotfisch unter ihren Körper. Ihr blondes Haar fächerte über sein Gesicht, ihr Arsch lag auf seinem Schwanz. Im Rhythmus der Wellen wandte sie sich ihm zu. Er schloss seine Arme um ihren Leib, presste sie an sich, schaute ihr ins Gesicht. Er begriff, dass diese Augen und dieser Körper nicht zueinander gehörten. Dachte, während das Wasser in seine Lungen strömte, einen Namen: Patrick.
Mit einem stummen Schrei auf den Lippen fuhr er aus dem Schlaf. Er hatte geträumt. Und nachgedacht.