Freitag
1
Wie ein Ascheregen hing die Dämmerung in den Kernbergen. Die Polizisten hielten sich, umgeben von Wald und kahlen Felspartien, an ihren Kaffeebechern fest. Zuvor hatten sie den Leichenfundort weitläufig mit Flatterband abgesperrt. Da der anwesende Rechtsmediziner vorläufig eine natürliche Todesursache ausschloss, musste die Leiche ins Institut überführt werden. Die Kommissare konnten dem nur zustimmen. Das Team vom Bestattungsinstitut schob den Transportsarg in den Wagen und verabschiedete sich.
Zwischen den Bäumen stehend, sah Henry den Hang hinauf. Das Gefälle war steil, nass und glitschig. Er betrachtete die Rutschspur, die sich aus der Höhe bis zu ihnen herabzog. Um die aufgeworfene Erde dem Sturz des Toten zuzuschreiben, bedurfte es keiner Erfahrung in Spurenkunde. »Er scheint nirgendwo gegengestoßen zu sein.«
»Was für ein Zufall«, sagte Linda und rieb sich die müden Augen. »Bei all den Bäumen.«
»Lass uns mal hochlatschen.«
»Okay, jeder nimmt sich eine Seite vor.«
Sie informierten den Leiter der Bereitschaft, schnürten ihre Schuhe fest, nahmen den Aufstieg. Ringsum tschilpten die Vögel. Die Luft roch nach Nadeln und feuchter Erde, und Henry fühlte sich an seine Laufrunde erinnert. Allein die erhöhte Rutschgefahr verhinderte, dass die friedliche Atmosphäre ihn einlullte. Glitten seine Sohlen auf der schmierigen Erde ab, musste er haltsuchend nach einem Ast langen. Lindas unbekümmerte Art, mit der sie ihre nackten Finger in den Waldboden grub, imponierte ihm. Sie stoppte, lehnte sich an eine Buche und rief: »Hey, Samurai!«
»Jetzt fängst du auch schon an!«
»Sorry.« Sie deutete auf den unteren Stammbereich. An der Rinde hing ein Fetzen Stoff in der Größe eines Schwalbenflügels. Unaufgefordert reichte ihr Henry einen Beweisbeutel und ein Messer. Sobald Linda sich einen Handschuh übergestreift hatte, löste sie den Stofffetzen von der Rinde. Sie tütete die Fasern sowie ein paar Proben der Rinde ein. »Scheiße, nicht mal der Baum konnte ihn bremsen.«
Henry schaute das Gefälle hinab. »Er muss mit einer enormen Geschwindigkeit gestürzt sein.«
»Auf wie viel Meter schätzt du die Strecke?«
»Um die achtzig Meter.«
»Von oben bis unten?«
»Mindestens.«
Zwanzig Minuten später erreichten sie einen Pfad. Auf der anderen Seite der schmalen Ebene setzte sich der Anstieg fort. Henry stützte die Arme in die Hüfte und atmete durch. Als er den Blick über den Waldboden schweifen ließ, entdeckte er einen Alustock.
»Nordic Walking«, meinte Linda und ergänzte, dass hier irgendwo ein zweiter rumliegen müsse. Niemand wandere mit nur einem Stock. Das wäre bescheuert.
Nachdem sie den Pfad erfolglos abgesucht hatten, sagte sie: »Den haben wir bestimmt beim Aufstieg übersehen.«
Henry stützte sich mit einer Hand an einem Baum ab. In seinen Augen funkelte unter der Müdigkeit eine gehörige Portion Skepsis. »Ja, das wäre die eine Möglichkeit.«
»Und die andere?«
»Jemand hat den Stock mitgenommen.«
2
Linda rief Mikowski an und bat ihn, ein paar Männer hochzuschicken. Sie sollten allesamt mit Tüten und Latexhandschuhen ausgestattet sein. Außerdem müsse Vossler von der Spurensicherung benachrichtigt werden. Sie zündete sich eine Zigarette an und fragte Henry, ob der Krisendienst zur Unterstützung der Angehörigen informiert sei. Ehe Henry antwortete, schaute er auf sein Handy. »Sind seit etwa einer Stunde da.«
»Gut. Dann müssen wir auch hin.«
»Lass mich das machen.«
»Allein?«
»Ja.«
»Nimm wenigstens die Kleine mit.«
Bei diesen Worten erwartete Henry ein anzügliches Grinsen. Als das jedoch ausblieb, sagte er bestimmt: »Vertrau mir. Ich krieg das gebacken.«
»Ich vertraue dir ja«, sagte Linda. »Aber ich will nicht, dass mich die Erfurter im Duett belagern.«
Henry zurrte die Ledertasche fest um seine Brust und joggte den Pfad hinunter.
3
Henry und Svenja Freese saßen in der mittlerweile so vertrauten Küche. Auf dem Herd dampfte ein Wasserkessel, die Fenster waren beschlagen. Über das Spülbecken gebeugt, schrubbte Hildegard Bräuer den Suppentopf. Das Geräusch, das die Stahlwolle auf der Emaille verursachte, erfüllte den Raum. Das stete Kratzen bohrte sich in Henrys Ohren wie das Surren unsichtbarer Mücken.
»Er soll sich ein Handy anschaffen«, murmelte sie. »Immer wieder hab ich das gesagt, aber …«
Unter jedem ihrer Worte das Kratzen der Stahlwolle, unter jedem ihrer Sätze die Ahnung eines anderen Lebens. Henry wusste nicht, ob sie zu ihnen sprach oder Selbstgespräche führte. »… der alte Dussel will ja nicht hören. Immer raus, auch wenn’s wie aus Eimern gießt …« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Offenbar hatte sie der Tod des Gatten so abrupt aus dem Zweisein gerissen, dass sie nur mit Unverständnis reagieren konnte. Als wären über Nacht die Latschen vor ihrem Bett vertauscht worden. Der Psychologe vom Krisendienst hatte gesagt, ihre Verhaltensweisen seien den Umständen entsprechend. Sie mache einen stabilen Eindruck, eine Affekthandlung ihrerseits sei nicht zu befürchten.
»Gustav, du bist kein junger Bursche, hab ich gesagt. Du bist kein junger Bursche.«
»Frau Bräuer«, begann Henry sachte. »Hat ihr Mann gesagt, wohin er wollte?«
»Er geht jeden Tag wandern.«
»Und wohin?«
»Na, raus. Wohin denn sonst?«
»Immer so früh?«
»Nein, nein.« Sie schüttelte vehement den Kopf, als spräche sie mit dem Topf.
»Und warum heute?«
»Heute nicht.«
»Ich spreche von heute Morgen, Frau Bräuer.«
»Nein, nein, nein.«
»Was meinen Sie mit nein?«
Die Greisin nahm den Kessel von der Herdflamme und goss das heiße Wasser in eine Kanne. Dann stellte sie die Kanne, drei Tassen und ein Päckchen Kaffeesahne auf den Tisch.
Henry bedankte sich und wiederholte seine Frage.
»Er wollte zum Abendbrot hier sein«, erwiderte die alte Frau. Ihr Gesicht spiegelte den Verdruss darüber, dass er nicht zum Abendbrot käme.
Henry versuchte, die Länge seiner geplanten Wanderung einzuschätzen. Da sie weder Geld noch Wegzehrung in seinem Rucksack gefunden hatten, schloss er einen Tagesmarsch aus. Plötzlich dämmerte ihm, dass Frau Bräuer von gestern Abend gesprochen hatte. Gustav Bräuer war bereits gestern losgezogen und würde zum zweiten Mal dem Abendbrot fernbleiben. Er fragte sie, wann ihr Mann gestern aufgebrochen war.
»Nach dem Mittag.«
»Und er wollte zum Abendbrot zurück sein?«
»Ja, wollte er. Aber jetzt hab ich die Suppe weggeschüttet«, erwiderte Frau Bräuer voller Verärgerung. Sie kehrte an die Spüle zurück und stieß die Stahlwolle ruppig über die Topfwand. »Der Dussel hat gesagt zum Abendbrot, und ich hab gesagt, sei bloß pünktlich. Hast du gehört, Gustav? Aber da war er längst aus der Tür.«
Noch flirrten die Vermutungen wie lose Spinnfäden durch Henrys Hirn. Möglicherweise war Gustav Bräuer in der Nacht von gestern auf heute verstorben. Der Pfad oberhalb des Leichenfundorts galt nicht als Mekka der Touristen und Wallfahrer. Unter diesen Bedingungen hätte Bräuer seit gestern Abend dort liegen können. Ungesehen, verdreckt und ohne Abendbrot.
4
Die äußere Leichenschau zeigte einen Körper, der von Schürfwunden übersät war. Dazu etliche Prellungen und über der rechten Augenbraue eine Platzwunde. Eine Fraktur des linken Handgelenks und eine Fraktur im Oberarm konnten ebenso festgestellt werden. Dort, wo Bräuers Hemd bis auf die Haut eingerissen war, schimmerte eine größere Abschürfung. In sämtlichen Wunden fanden sich Fremdpartikel, eventuell Spuren von Rinde oder Holz. Inwiefern der Baumbestand für diese Wunden ursächlich war, würde erst die Laboruntersuchung ermitteln. Momentan waren Partikel ortsfremder Holzarten nicht auszuschließen. Die Beamten erwogen, dass Gustav Bräuer eventuell mit einem hölzernen Gegenstand niedergeschlagen worden war. Beispielsweise einem Knüppel oder Baseballschläger. Selbst ein roher Ast konnte in Frage kommen.
Auf einem Metalltisch waren jene Gegenstände ausgebreitet, die Bräuer mit sich getragen hatte. Ein Wanderstock aus Alu und eine Brille in der Stärke zwei Dioptrien. Seine Ober- und Unterbekleidung. Ein leichter Rucksack, der sich nicht von den Schultern des Toten gelöst hatte. Henry streifte sich die Latexhandschuhe über und öffnete die Gepäckfächer.
Im Vorderfach steckten Bräuers Personalausweis und ein Kompass. Das Hauptfach war bis auf eine veraltete Wanderkarte leer. Für Henry veranschaulichten Inhalt und Zustand des Rucksacks die Routine eines Rentners. Nichts von all dem wirkte tatsächlich benutzt. Alles schien in dem Rucksack zu liegen, weil es schon immer dort lag. Henry betrachtete die Karte genauer. Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie oft entfaltet worden. Mit dem Finger fuhr er über das Naturschutzgebiet Kernberge und Wöllmisse. Keine einzige Strecke war von Hand eingezeichnet oder markiert worden. Er entsann sich, dass Frau Bräuer gemeint hatte, ihr Mann gehe jeden Tag wandern. »Ich denke, Bräuer ist immer die gleiche Strecke gelaufen.«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, entgegnete Linda zögernd.
»Ja, weil du das Wort Wanderung im Kopf hast.«
»Ich versteh nur Bahnhof.«
»Die Karte ist quasi neu, und auf dem Kompass findet sich kein einziger Kratzer. Was zum Futtern hatte Bräuer auch nicht dabei.« Er neigte das Gesicht zu Linda. »Oder glaubst du, er praktizierte Fastenwandern?«
»Und das soll heißen?«
»Dass alles nur aus Gewohnheit in seinem Rucksack lag. Bräuer ging nicht wandern, sondern spazieren. Vielleicht ist er früher einmal wandern gegangen. Aber im Alter waren aus den Wanderungen Spaziergänge geworden. Ein, zwei Stunden raus und abends ein deftiges Abendbrot.«
»Wie alt war er denn?«
»Fünfundachtzig.«
»Wow.«
»Ich wette, Bräuer hatte eine feste Runde. So, wie ich meine feste Laufrunde habe.« Henry beschrieb auf der Karte eine Strecke von der Wöllnitzer Straße über die Sophienhöhe und weiter zur Studentenrutsche. »Eventuell hier entlang.«
»Schöne Runde«, sagte Linda.
»Wichtiger ist, was uns das sagt.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Wenn sich ein Fremdeinwirken bestätigt, finden wir den Grund vielleicht auf seiner Runde.«
»Noch ist eine Fremdeinwirkung reine Spekulation.«
»Aber er könnte etwas gesehen haben. Etwas, das er nicht hätte sehen dürfen.«
»Und deshalb musste er sterben?«
»Zu welchem Zweck wollten wir Bräuer sprechen?«
»Wegen einer möglichen Zeugenaussage.«
»Eben.«
5
Sämtliche Mitarbeiter der ersten Mordkommission Jena hatten sich im Konferenzraum eingefunden. Neben Linda und Henry waren Mikowski und die beiden Erfurter Kollegen anwesend. Mikowski reihte vor sich verschiedenste Energydrinks auf.
»Greift zu«, sagte er. »Ist die reinste Chemie, haut aber rein wie ’ne Klatsche von Angel Blanco.«
Während Henry sich wahllos eine Dose griff, prüfte Svenja Freese gewissenhaft die Inhaltsangaben auf der Rückseite. Linda ließ sich eine Dose von Mikowski zuwerfen. Dörndahl verzichtete und klammerte sich stattdessen an seine Thermoskanne. Nacheinander klackten die Verschlüsse der Dosen. Sofort schwängerte der süßliche Geruch der Energydrinks den Raum.
»Vorerst behalten wir unsere Dreiteilung bei«, sagte Linda. »Zwei Außenteams und ein Bürohengst.«
Mikowski prostete Linda mit einem lüsternen Zwinkern zu. Dörndahl nickte, und Svenja Freese lächelte unbestimmt in die Runde. Das Gefühl, angekommen zu sein, übermannte Henry. Ein ähnliches Gefühl hatte er bei seiner ersten Teamsitzung in der KPI verspürt. Aber er ahnte auch, dass die Kollegen es durchaus anders empfanden. Linda wäre in dieser Minute garantiert lieber daheim bei Mann und Sohn, Mikowski sicherlich gern im Kreis seiner Kumpels. Dass Dörndahl eine fürsorgliche Frau hatte, verrieten allein seine Thermoskanne und Brotbüchse. Dörndahls Alltag verläuft gewiss in geordneten Bahnen, dachte Henry. Ein Leben, das sich in seiner Mappe und seiner akkuraten Schrift manifestiert. Ob Svenja Freese zu Hause erwartet wurde, vermochte er nicht zu sagen. Sie hatte ihm erzählt, dass sie auf dem Land aufgewachsen war. Da lernt man einiges, hatten ihre Worte gelautet. Ein Kommentar, der ihm im Nachhinein ziemlich doppeldeutig erschien. Gleichwohl kannte er seinen Hang, alles zu hinterfragen oder zu überinterpretieren. Da lerne man so einiges. Wären diese Worte aus Vanessas Mund gekommen, hätte er sie zweifellos als sexuelle Anspielung verstanden. Bald drei Tage war er mit Svenja Freese unterwegs. In dieser Zeit hatten sie dieselbe Frau mehrfach aufsuchen müssen. Anfänglich hatten sie in ihr eine Zeugin und Gattin gesehen, später eine Zeugin und Witwe. Was auch immer die Kollegen daheim erwartet, resümierte Henry, dieses Schicksal wird ihnen erspart bleiben.
Sie würden sichern. Sie würden ermitteln. Sie würden fahnden.
Entweder mit Erfolg oder ohne Erfolg. Längerfristig betrachtet fiel das kaum ins Gewicht. Denn schneller, als ihnen lieb wäre, würde ein neuer Fall auf ihren Schreibtischen landen. Der ältere Fall würde verblassen und zu einer angestaubten Akte werden. Dieses Weiter-und-so-fort gab Henry ein Gefühl der Sicherheit. Und im Augenblick nährten die Namen zweier Toter dieses Gefühl: Philipp Stamm und Gustav Bräuer. Mit einem Schluck aus der Dose spülte er seine Gedanken hinunter.
Linda zeichnete auf einer Karte alle fallbezogenen Orte ein. Die Adressen der Opfer und Zeugen. Den Fundort von Stamms Leiche und den Abschnitt, wo sie vermutlich zu Wasser gelassen worden war. Nachdem alle Orte, die mit Stamm in Verbindung standen, markiert waren, folgten jene zum Fall Bräuer.
»Frau Bräuer muss unter allen Umständen nochmals vernommen werden«, sagte Linda. »Am besten im Beisein eines Psychologen. Sie war mit ihrem Mann über fünfzig Jahre verheiratet. Sie hat Informationen, von denen sie selbst nichts ahnt.«
Lindas Worte kamen mit Nachdruck. Henry wusste, dass sie schnellstmöglich einen Zusammenhang zwischen Stamm und Bräuer herstellen mussten. Andernfalls würde der Vorgang Bräuer separat bearbeitet werden. Bei zwei autonomen Ermittlerteams wären die Probleme vorprogrammiert.
»Nach den Befragungen knöpfen wir uns die Biografien vor«, entschied Linda. »Stamms Akte ist sehr auskunftsfreudig. Bräuer hingegen hatte nicht mal einen Strafzettel.«
»Was ist mit den Verdächtigen?« Mikowski setzte das Wort Verdächtige in Anführungszeichen.
Linda benannte ausdrücklich Thomas Zabel und Vanessa Fiebig. Sie merkte an, dass Vanessa Fiebig als Einzeltäterin nicht in Frage komme. Sie wäre kaum imstande gewesen, Stamms Körper aus dem Haus zu transportieren. Weder Zabel noch Fiebig könnten allerdings ein handfestes Alibi vorweisen. Die Annahme, dass sie sich unterwegs von Stamm getrennt haben, basiere allein auf ihren Aussagen. Das sei sehr fragwürdig. »Henry und ich bleiben an den beiden dran.«
»Wäre ein Wechsel nicht von Vorteil?«, bemerkte Dörndahl. »Neue Sinne, neue Eindrücke.«
Henry war versucht, dem gesamten Team seinen Fehltritt anzuvertrauen. Er glaubte für einen Moment, es würde keine Folgen haben. Die Kollegen würden nicken und »Schwamm drüber« rufen. Schließlich säßen sie in einem Boot. Dann entsann er sich Lindas Worte. Dass sie den Erfurtern nicht hundertprozentig vertraue. Sein Geständnis könnte für sie den passenden Anlass liefern, das Ruder zu übernehmen.
»Dem stimme ich im Grundsatz zu«, antwortete Linda. »Aber wir kennen die beiden inzwischen ganz gut. Ich habe ein Vertrauensverhältnis zur Zeugin Fiebig aufgebaut. Ich verspreche mir in den nächsten Tagen einen Durchbruch.« Abrupt schwenkte sie zum nächsten Punkt. »Bisher ist der einzige Zusammenhang die Nähe der Tatorte. Oder besser: der Leichenfundorte. Während die eine Gruppe ein Opferbild erstellt, nimmt sich die andere noch mal die Gegend vor.«
Walter Dörndahl erhob den Einwand, dass sich alles um einen dummen Zufall handeln könne. Immerhin wiesen die Verletzungen der beiden Opfer Merkmale unterschiedlicher Art auf. Es falle ihm schwer, sich ein und denselben Täter vorzustellen. Die Perfektion und Grausamkeit des ersten Mordes stünde in krassem Gegensatz zum Fall Bräuer. Zudem der große Altersunterschied zwischen den beiden Opfern. Lediglich die Vermutung, Bräuer sei Zeuge der Tat gewesen, klinge für ihn plausibel.
Auf diesen Einwand vermochte Linda nur mit einer Standardfloskel zu reagieren. »Wir dürfen nichts ausschließen.«
Die Kollegen nickten einvernehmlich.
6
Svenja Freese und Henry schritten die Wöllnitzer Straße entlang. Sie wollten die Runde abgehen, von der Henry glaubte, der alte Bräuer sei sie tagtäglich gelaufen. Er zeigte in Richtung Westen und erklärte, dass sich hinter den Häusern und der Stadtrodaer Straße die Saale befand. Wenn er sprinten würde, ergänzte er, wäre er in weniger als drei Minuten am Ufer. Svenja Freese nannte ihn einen Angeber und grinste. Er erwiderte, er habe ihr nur die Entfernung verdeutlichen wollen. Schließlich hätten sie dort Philipp Stamms Leiche gefunden.
Auf der Ostseite der Wöllnitzer Straße ragten schroffe Felsformationen in die Höhe. Drahtiges Gestrüpp und vereinzelte Bäume drängten über die Abhänge. Henrys erster Gedanke war, dass es hier früher einmal schön ausgesehen haben mochte. Dann fragte er sich, weshalb es hier früher anders ausgesehen haben sollte. Erde und Bäume und Felsen. Nichts, was man in drei Tagen aus dem Boden stampfte.
»Dort sind die Teufelslöcher.« Svenja Freese wies mit ihrem Smartphone den Hang hinauf.
Wie auf ein geheimes Kommando hin verließen sie die Straße, streiften durchs Gestrüpp und erklommen den Hang. Oben angelangt, blieben sie vor dem Höhleneingang stehen und glotzten wie zwei beseelte Schwemmhölzer in den Stollen. Mit Hilfe ihres Smartphones führte Svenja Freese ihn in die Sage vom Vogelsteller ein. Sie erzählte von einem Knaben, der beim Anblick der Teufelslöcher »Ha! Ha!« ausrief, ohne sich darauf zu bekreuzigen.
»Und deshalb wurde er verflucht?«, hakte Henry nach.
»So steht’s geschrieben. Eine Dirne, die in Wirklichkeit eine Hexe war, wollte ihn verführen. Das würde dir doch gefallen, oder?«
Henry sagte nichts.
»Jedenfalls suchte er Rat bei einem Abt. Der sagte, er soll vor den Teufelslöchern ein Vaterunser beten, das Ave-Maria aufsagen und einen Krötenstein hineinwerfen.«
»Was ist ein Krötenstein?«
»Versteinertes Zeug. Donnerkeile und so was.«
»Okay.«
Svenja stellte sich breitbeinig in den Eingang und schrie voller Inbrunst: »Ha! Ha!« Sie wandte sich an Henry und sagte, er müsse das Vaterunser sprechen, sonst sei sie verflucht.
Henry erwiderte, dass er das Vaterunser nicht kenne. Seine Mutter sei zwar evangelisch, aber er habe mit Religion nichts am Hut. Lachend meinte Svenja Freese, dann sei sie jetzt den Fängen des Vogelstellers ausgeliefert. Oder Herr Kilmer würde, weil er das Vaterunser nicht gelernt habe, in der Hölle schmoren.