Sonntag

1

Robert Krone lag auf der Ottomane im Büro der Städtischen Kunstsammlung. Irgendwer hatte ihn dorthin geführt und provisorisch gebettet. Eine dünne Decke zu seinen Füßen, ein Sitzkissen unterm Kopf. Durch die Kleidung hindurch verströmte sein Körper den Geruch von Schweiß und Alkohol. Er war erleichtert, dass man ihn nicht ausgezogen hatte. Sein Körpergeruch hätte sich sonst unweigerlich in das Gedächtnis des edlen Samariters eingebrannt.

Sein Kopf fühlte sich an, als befände er sich hundert Meter unter Wasser. Er kannte solche Kopfschmerzen. Er kannte das schwarze Loch in seinem Schädel, das jedes Geräusch aufsog und verstärkte. Für gewöhnlich bekämpfte er den Schmerz mit Tabletten, Zäpfchen und Nasensprays. Jetzt lechzte er danach, sich in den Triptan-Himmel zu spritzen. Nur wusste er nicht, welche Art von Schmerzen ihn gerade mehr plagte. Seine üblichen und die Nachwirkung des Alkohols. Nur widerwillig hob er den Kopf und blickte auf die Uhr über der Schreibkommode. Die schwarzen Ziffern flimmerten vor seinen Augen. Er konnte kaum zwischen Stunden- und Minutenzeiger unterscheiden. Notgedrungen legte er sich auf dreizehn Uhr fünfzehn fest. Dass es auch fünfzehn Uhr sein konnte, nahm er in Kauf. Demzufolge musste die Galerie längst geöffnet haben, entweder seit drei Stunden oder bereits seit fünf.

Der edle Samariter hatte ihm eine Flasche Wasser neben die Ottomane gestellt. Bei jedem Schluck schmerzte ihm jetzt die Kehle. Als hätte er die ganze Nacht Kette geraucht. Eigentlich hatte er das Rauchen während der Schwangerschaft seiner Frau aufgegeben. Doch hin und wieder, insbesondere wenn er besoffen war, konnte er einer Zigarette nicht widerstehen. Im Suff eine Kippe zu rauchen, vermittelte ihm den Anschein seines alten Lebens. Die wilde Zeit mit Annett, die große Sorglosigkeit.

Er stellte die Flasche wieder ab und warf die Decke zurück. Positionierte sachte seine Füße auf den Boden und schaute sich um, als müsste er sich der Raumtiefe vergewissern. Eine Decke, ein Boden, vier Ecken und alles in akkuraten Winkeln. Seine Sinne funktionierten offenbar. Gleichwohl durften seine Augen nicht allzu lang auf Arthurs Exponaten verweilen. Die Arabesken im Möbelholz hätten ihn ins Straucheln gebracht. Dazu die irisierenden Farben der Gemälde. Er hievte sich langsam hoch, wankte zur Bürotür und lauschte.

Er vermeinte, leises Getuschel von draußen zu hören. Sicherlich Besucher der neuen Ausstellung. Touristen, die per Zufall oder Herdentrieb in die Galerie gelenkt wurden. Die wahren Liebhaber spätbarocker Malerei hatten entweder gestern die Eröffnung besucht oder würden unter der Woche kommen. Sonntag war der Tag der Touristen.

Und er hasste Sonntage.

Manchmal dachte er, genau diese Sonntage hätten seine Frau in die Arme eines anderen getrieben. Den Sonntag sollte ein guter Ehemann mit seiner Frau verbringen und nicht auf Arbeit. Aber welcher Kulturbetrieb konnte es sich leisten, sonntags zu schließen? Diese scheiß Touristen brachten den Zaster. Sie bezahlten für das schnelle Glotzen und das flinke Knipsen. Doch Geld war nicht alles, hatte er lernen müssen. Geld war nicht mal die Hälfte von nichts. Denn ohne diese scheiß Touristen mit ihren scheiß Portemonnaies wäre er heute neben seiner Frau aufgewacht. Robert spürte den alten Zorn in sich hochbranden.

Dann ermahnte er sich, dass das alles längst Geschichte war. Kein Grund, darüber in Wut zu geraten. Die letzte Nacht hatte ihm nicht nur Kopfschmerzen beschert, sondern auch einen Neuanfang. Er griff sich in die Hosentasche und zerrte eine zerfledderte Serviette hervor. Das untere Drittel war abgerissen.

Er entfernte sich von der Tür und wankte in die kleine, fürs Personal hergerichtete Badestube. Messinghähne über einem antiken Waschbecken. Verschnörkelte Haken, an denen rosafarbene Handtücher hingen. Die Fliesen waren mit barocken Ornamenten verziert. Dr. Arthur Boenicke war Ästhet durch und durch, meinte Robert. Ein Mann, der anscheinend in der falschen Epoche geboren worden war.

Hin und wieder glaubte er, dieses Los zu teilen. Dass er ein Mann sei, dessen Seele in einer anderen Zeit verwurzelt war. Robert Krone hätte in der Romantik ein glücklicheres Leben geführt. Damals hätten sie seine Leidenschaft geschätzt und seine Selbstlosigkeit gewürdigt. Er liebte eine Frau, und er liebte sie über alles. Was soll daran falsch sein?, fragte er sich. Er nahm auf dem Klodeckel Platz und betrachtete den Fetzen Papier. Das Stück einer Serviette, die Vorderseite rot, die Rückseite weiß. Auf dem fehlenden Teil der Serviette hatte er gestern Abend geschrieben: »Ich liebe dich«. Mit einem Kugelschreiber und in einer Handschrift, wie sie ihm im Suff noch möglich gewesen war. Darunter hatte er keinen Namen gesetzt, darüber keinen Adressaten. Lediglich ein großes Herz als Ausrufezeichen hatte er zustande gebracht.

Betrunken und euphorisiert war er zu der Frau seines Lebens getorkelt, um ihr den Fetzen zu überreichen. Sie hatte sich gerade mit einer anderen Person unterhalten. Mit wem, vermochte er nicht mehr zu sagen. Viel wichtiger schien ihm, dass Annett sich von der Person abgewandt und ihn nach draußen begleitet hatte. Hinaus auf den Hof der Galerie, in den Schatten der Platane. Er und Annett, derweil die ganze beschissene Welt ihre Bedeutung verlor. In seiner Erinnerung sprühte die Atmosphäre ihres Stelldicheins vor Romantik. Er hatte das Gefühl, all seine Worte und Gesten waren voll Zärtlichkeit gewesen.

Annett, ich wollte nie eine andere als dich.

Annett, wir werden neu anfangen.

Du und ich und unser Sohn.

Du und ich auf ewig.

Du und ich.

Er war vor ihr niedergekniet und hatte ihr den beschriebenen Teil der Serviette überreicht. Hatte dabei zu ihr emporgelächelt. Was nach seinem Kniefall geschehen war, wollte ihm allerdings nicht mehr einfallen. Doch die Ahnung tiefer Zärtlichkeit und noch tieferer Emotionen nährte seinen Optimismus. Jetzt, während er auf dem Klodeckel saß, ließ ihn die Zuversicht auch lächeln. Allmählich verflüchtigten sich seine Kopfschmerzen. Er musste nur lang genug die zerfledderte Serviette anstarren. Das würde helfen. Das würde ihn stark machen. Der Neuanfang war sein neues Triptan.

2

Henry hatte nicht mehr mit einer Antwort gerechnet. Er saß seit acht Uhr morgens im Büro und bearbeitete den Vorgang einer Körperverletzung. Eine Gaststudentin war im Bahnhof Paradies von zwei Betrunkenen angegriffen worden. Linda telefonierte hinter ihrem Schreibtisch mit einer Freundin. Sie lachte ihr Krähenlachen, als wäre Henry nicht im selben Raum. Katrin Cosack, eine Mitarbeiterin am Archiv für Semiotik, hatte ihm eine Bilddatei gesandt. Auf einem gescannten Bogen Papier fanden sich etliche Zeichen. Keines verfügte uneingeschränkt über die in Stamms Fuß eingeritzte Gestalt. Mal war ein Strich zu viel, mal divergierten die Schnittpunkte. Katrin Cosack hatte die einzelnen Zeichen mit knappen Kommentaren versehen. Stammte es beispielsweise aus der chinesischen Schrift oder aus der japanischen? Handelte es sich um ein japanisches Zeichen, dessen Grundlage gleichwohl ein chinesisches war? Henry empfand selbst diese wenigen Kommentare als schwer verständlich.

Notgedrungen reduzierte er die Auswahl auf zwei Optionen, die zumindest Ähnlichkeit mit seinem Zeichen aufwiesen. Beide setzten sich aus einem Rechteck und einer einzelnen Geraden zusammen. Genau wie das Zeichen, das Martin Vossler auf Stamms Fuß entdeckt hatte. Das eine Symbol bedeutete »Land«, das andere »Mitte«. Zwei Wörter, die keiner Lesart widersprachen, weil sie gleichermaßen alles oder nichts bedeuten mochten.

Ernüchtert leitete Henry die Mail an Linda weiter. Dann stöberte er in der Datenbank nach Einträgen, die aus Asien stammende Täter aufführten. Dabei verhöhnte ihn sein Buddha mit dem gewohnten Lächeln.

3

Ebenso wie sich seine Kopfschmerzen aufgelöst hatten, waren auch seine letzten Zweifel verschwunden. Er sah nun einer leuchtenden Zukunft entgegen. Aus Glauben war Wissen geworden. Er hatte gestern tatsächlich seine Ehe vor dem Untergang bewahrt.

Am Nachmittag war er wieder fähig, Führungen zu geben. Eine kleine Gruppe japanischer Touristen interessierte sich für Matthäus Günther und seine Fresken. Roberts Enthusiasmus spiegelte sich in seinen Ausführungen über die Motivik wider. In seiner Zunge fand das rührselige Rokoko einen euphorischen Fürsprecher. Die Japaner kicherten hinter vorgehaltener Hand, und Arthur Boenicke nickte Robert ermunternd zu. Der Direktor stand in der Verkaufsgalerie und sortierte neue Postkarten ein. Gemeinhin widmeten die Besucher dem Verkaufsstand mehr Zeit und Geduld als der eigentlichen Ausstellung. Die Sorge, keine Mitbringsel für die Daheimgebliebenen zu erwerben, brachte der Sammlung ein schönes Taschengeld. Roberts Chef war nicht nur Kunstliebhaber, Ästhet und Jenenser. Er galt überdies als Geschäftsmann erster Güte. Die gestrige Ausstellungseröffnung hatte den Spendenbeutel hinreichend gefüllt.

Nachdem die Japaner die Verkaufsfläche erobert hatten, schlenderte Robert durch die leeren Räume. Morgen würde die Sammlung geschlossen haben, morgen wäre sein freier Tag. Dessen ungeachtet würde Arthur in einem Katalog nach interessanten Exponaten stöbern und mit Kuratoren telefonieren. Robert hatte nicht den geringsten Ansporn, es seinem Chef gleichzutun. Er hegte andere Pläne.

Genau wie früher würde er zeitig aufstehen, um seiner Frau das Frühstück zu machen. Er würde sie zur Arbeit chauffieren und ihr versichern, dass er sie pünktlich abholen käme. Während ihrer Arbeitszeit würde er die Wohnung auf Vordermann bringen. Staub saugen, Fenster putzen, Blumen besorgen. Bisher hatte er Annett die Hausarbeit zugeschoben, aber das würde sich nun ändern. Denn alles würde sich ändern. Bei dem Gedanken daran, was eine einzige Nacht zu bewirken vermochte, musste er lächeln.

Der Zufall ließ ihn vor Matthäus Günthers Gemälde des Erzengels Michael stoppen. Das blonde Haar des Engels fesselte seine Aufmerksamkeit. Auch er selbst hatte blonde Haare. Der Engel zwang das Böse in den Höllenschlund, damit das Gute auf Erden gedeihen konnte. Auch ihm lag allein das Gute am Herzen. Das Gute für die Frau seines Lebens. Langsam sank sein Blick hinab zu den Teufeln unter St. Michaels Sohlen.

4

Eigenheimsiedlung Ammerbach. Seine Wohnung empfing ihn mit Leere und Einsamkeit. Augenblicklich schlug seine Euphorie in Enttäuschung um. Wachsam und etwaigen Hinweisen auf den Verbleib seiner Frau nachspürend, durchschritt er alle Zimmer. Er ging ins Schlafzimmer und schnüffelte am Bettlaken. Es roch frisch, beinahe ungebraucht. Er ging ins Badezimmer und betrachtete ihr Schminkzeug. Nichts von all dem schien angerührt worden zu sein. Aber sicher war er sich keinesfalls. Die Vermutung folgte mehr seinem Spürsinn denn konkreten Hinweisen. Dann setzte er sich auf den Badewannenrand, ließ die Schultern hängen und grübelte nach.

Annett musste gestern allein nach Haus gegangen sein. Oder jemand, der nicht betrunken gewesen war, hatte sie kutschiert. Ein edler Samariter, dachte er und verscheuchte gleichzeitig das Bild seines Chefs. Obwohl er sein Gedächtnis anstrengte, konnte er sich nicht entsinnen, wann sich Annett von ihm verabschiedet hatte. Sie hatten zusammen im Hof gestanden und einander ihre Liebe versichert. Er hatte gesprochen, sie hatte gelauscht.

Auf den Kniefall folgte der Filmriss. Die Erinnerung hob erst wieder am nächsten Morgen im Büro an. Vielleicht, so mutmaßte er, hatte sie ihn nicht aufwecken wollen. Obendrein hatte er die schlechte Angewohnheit, im Suff zu schnarchen. Seine Phantasie formte eine Szene, in der Arthur Boenicke seine Frau zur Heimfahrt ermutigt. Sie solle sich keine Sorgen machen. Er würde sich um den lädierten Ehemann kümmern. Arthur Boenicke, sein edler Samariter. Robert sah eine schmunzelnde Annett, die ihm zum Abschied liebevoll über die Haare fuhr.

Ja, dachte er, so muss es gewesen sein.

Dennoch klärte das alles nicht die Frage nach ihrem jetzigen Verbleib. Er schnappte sich sein Handy und wählte ihre Nummer. Seinem neuen Ich war jede Eifersucht fremd. Sein neues Ich war lediglich um das Wohl seiner Frau besorgt. Er wollte nur fragen, wann sie heimkäme, damit er das Abendbrot vorbereiten konnte. Die Zeit des eifersüchtigen Robert Krone war endgültig passé.

Sobald sich ihre Mailbox meldete, legte er auf und wählte erneut. Zum wiederholten Mal ertönte die mechanische Stimme, und er drückte die rote Taste. Er betrachtete das Handy und dachte an den Zettel. Aber nicht an die Serviette mit seinem Liebesbekenntnis, sondern an den Zettel in ihren Unterlagen. Die fremde Handschrift. Die Uhrzeit für ein Date. Das herzförmige Ausrufezeichen. Er verschloss sich dem Gedanken und ging zurück ins Bad.

Dort inspizierte er die Toilette, um Hinweise auf Annetts heutige Anwesenheit zu finden. Er stierte ins Waschbecken, aber die Keramik war trocken. Er nahm sich die Küche vor. Im Mülleimer lagen weder benutzte Filtertüten noch irgendwelche Nahrungsreste. Sicherlich ist sie mit einer ihrer Freundinnen zum Brunch, sagte er sich. Nach einer durchzechten Nacht tat sie das gern. Sektfrühstück mit den Freundinnen, die er plötzlich alle hasste. Freundinnen, die gewiss über ihre Affäre Bescheid wussten. Er spürte, wie er sich seiner dunkelsten Gedanken nicht mehr erwehren konnte. Beidhändig fing er an, seine Schläfen zu massieren.

Nach wenigen Minuten hielt er es nicht mehr aus und wählte die Nummer ihrer besten Freundin. Annett hatte sie ihm vor Monaten gegeben. Damals, als sie kurzerhand beschlossen hatte, ein Leben ohne ihn zu führen. Er hatte in seiner Naivität gemeint, das sei nicht nötig. Wozu sollte er ihre beste Freundin anrufen? Die Freundin sei quasi ihr Freiraum, und eine gute Ehe brauche Freiräume. Mit gespieltem Zähneknirschen hatte er die Nummer eingespeichert.

»Hi, hier ist Robert.«

»Hi.«

Ihre Begrüßung erschien ihm reserviert.

»Na, gute Party gehabt?«

»Ja.«

Sie erkundigte sich nicht, wie ihm die Eröffnung gefallen habe. Das konnte nur heißen, dass Annett schon mit ihr gesprochen hatte. In seinem Kopf entrollten sich gleichzeitig zwei Bilder: Das eine zeigte eine vom Eheglück ergriffene Frau, das andere ein tuschelndes Weib. Und tuschelnde Weiber assoziierte er mit Intrigen und Untreue. Er bohrte weiter, indem er einen Verdacht ins Blaue schoss. »Nett von dir, dass du sie gestern nach Hause gebracht hast.«

»Das hab ich nicht«, sagte sie und lachte los. »Es sei denn, ich hab’s in völliger Trunkenheit getan.«

Ihr Lachen wirkte auf ihn gestelzt, als wollte sie irgendwas verbergen. Das Bild tuschelnder Weiber fraß sich erneut in sein Bewusstsein. Frustriert reagierte er mit einer Lüge. »Ich hab euch doch zusammen gesehen.«

»Da musste mich verwechseln.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

»Hast du eine Ahnung, wo sie ist?«

»Ist sie nicht zu Hause?«

Der Tonfall ihrer Frage kam ihm naiv vor. Übertrieben naiv. Er antwortete schroff, dass sie nicht hier sei.

»Bei dir ist sie nicht?«

»Nein.«

»Komisch.«

»Ja, sehr komisch.«

Die Sätze wurden immer kürzer, die Pausen immer länger. Er merkte, dass er von der Fotze nichts mehr erwarten durfte. Mit emotionsloser Stimme bat er sie, ihn anzurufen, sobald Annett sich melde. Er konnte seine Fassade nicht weiter aufrechterhalten. Die Blendziegel zerbrachen. Ohne sich zu verabschieden, legte er auf.

Und feuerte sein Handy gegen die Wand.

Und rannte hinterher, um zu prüfen, ob es noch funktionierte.

Mit dem Telefon in der Hand kroch er auf sein Bett. Er zog die Knie gegen die Brust und stierte stundenlang das Display an. Dabei rührte er sich keinen Zentimeter, als hätte ihn die Wut in einen Klumpen Lehm verwandelt.

Irgendwann klingelte das Haustelefon. Er grabschte nach dem Hörer, sagte seinen Namen, und der Anrufer legte auf.

5

Schatten krochen von links nach rechts über die Zimmerwände. Das Licht wurde trübe, und er saß noch immer auf dem Bett. Das Handy hielt er in der Faust, das Haustelefon hatte er im Blick.

Er überlegte, wen er alles anrufen könnte. Dabei strich er von seiner imaginären Liste jene Personen, die seiner Frau näherstanden als ihm. Am Ende blieben nur wenige übrig, und ausgerechnet die glaubten, er lebe das Leben eines glücklichen Mannes. Das Gefühl der Einsamkeit war so überwältigend, dass es selbst seine Wut zu zermalmen drohte.

Kurz nach achtzehn Uhr klingelte das Haustelefon. Noch vor dem zweiten Läuten griff er zum Hörer, doch hielt er diesmal seinen Namen zurück. Der Anrufer schwieg ebenfalls, und Robert horchte auf das Rauschen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer am anderen Ende der Leitung war. In der Sorge, den Anrufer durch das geringste Geräusch zum Auflegen zu bewegen, dämpfte er seinen Atem. Lauschte und wartete.

Von einer Sekunde zur nächsten wurde die Leitung unterbrochen. Es fühlte sich an, als hätte ihn jemand ins Ohr geschrien. So abrupt und verstörend empfand er das Ende des Telefonats. Unverändert auf dem Bett sitzend, rief er sich das Bild des Erzengels Michael ins Gedächtnis. Er dachte daran, wie der Engel in Richtung Höllenschlund wies. Sah das schroffe Felsgestein und die krummen Rücken der Gefallenen. Die Abrechnung im Finale eines falsch gelebten Lebens. Robert Krone wurde bewusst, dass er seine Frau endgültig verloren hatte. Als das Telefon zum dritten und vierten Mal läutete, nahm niemand ab.

6

Die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben, stromerte Henry die Erlanger Allee entlang. Es war Sonntagabend, und Lobeda-Ost wirkte so leblos wie ein ausgebranntes Wespennest. Vereinzelte Autos rollten scheinbar führerlos in Richtung Zentrum. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt lag ein umgekippter Einkaufswagen. Eine kaputte Bierflasche reflektierte das gelbe Licht der Straßenlaternen. Der Samstagseuphorie war die Zerschlagenheit erschöpfter Sonntage gefolgt.

Henry und Linda hatten das Büro gegen fünfzehn Uhr verlassen. Die Ermittlungen im Fall Stamm schrumpften zu einem Vakuum aus Halbwahrheiten und Nichtwissen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie ab Montag einer neuen Möglichkeit nachgehen würden. Bandenkriminalität. Clans und Schutzgelder. Organisiertes Verbrechen. Doch Henry bezweifelte den Sinn eines solchen Kurswechsels.

Erstens schien in Thüringen die Bandenkriminalität von geringer Relevanz. Verurteilungen wegen des Verstoßes gegen Paragraph 129 ließen sich an einer Hand abzählen. Zwei Bikerclubs, deren kriminelle Energie nicht zu leugnen war, hatten zwischen Weimar und Jena ihre Vereinsheime. Laut Akte hatte Stamm keinen Kontakt zu einem der Clubs gepflegt. Obendrein hatte Vanessa nichts von einer Mitgliedschaft in einem Club oder Verein erzählt.

Zweitens verstand er sich nicht mit Gruppen notorisch gewaltbereiter Männer. Allein sein Auftreten würde Ablehnung hervorrufen. Sofern sich ein Verdacht in diesem Milieu erhärten sollte, würde er Mikowski um einen Aufgabenwechsel bitten. Mikowski auf die Straße und er hinter den Computer. Recherche statt Verhör, Mausklick statt Drohgebärden.

Eine Möglichkeit, die Henry zeitweilig erwog, war ein zufälliger Streit mit einem Clanmitglied im Rosenkeller. Dann entsann er sich, dass er diesbezüglich alle Möglichkeiten durchexerziert hatte.

Er blieb unschlüssig am Straßenrand stehen. Metall und Abgase bewegten sich von Nord nach Süd, von Süd nach Nord. Seinem Bauchgefühl widerstrebte jeder Gedanke an Testosteron und Lederjacken. Es gab immerhin noch das mysteriöse Zeichen. Ihn trieb die Ahnung voran, dass Stamm einer tieferen Sache wegen gestorben war. Andererseits hatte ihn sein Bauchgefühl schon oft getäuscht. Er redete sich selbst ins Gewissen, auf seinen Verstand zu bauen, auf sein Hirn, seine Logik. Er war ein Kopfmensch, und sein Mantra lautete Kontrolle. Nüchtern sah er die Erlanger Allee hinauf in Richtung Zentrum. Würde er jetzt losspurten, wäre er in zwanzig Minuten bei ihr.