Dienstag
1
Linda Liedke stellte einen Rocksender ein, ließ das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Um Henry den Qualm zu ersparen, brach sie jeden Morgen früher von daheim auf. Sie wusste, dass er eine Kritik über ihre Nikotinsucht standhaft unterdrückte. Allerdings sprach sein Gesicht bei jeder Zigarette, die sie rauchte, Bände. Sternzeichen Krebs, dachte sie oft. Und dann bedauerte sie ihn, weil niemand schuld an seinem Sternzeichen war.
Als die Uhr auf dem Armaturenbrett sechs Uhr dreißig zeigte, klingelte sie bei Henry durch. Drei Minuten später öffnete er die Autotür. Wie immer trug er Jeans und Pullover und sein Jackett mit den Flicken an den Ellbogen. Seine Haare hatte er zu einem straffen Zopf gebunden. Ganz der Lehrer, dachte sie nicht zum ersten Mal. Darauf folgte ihre Begrüßung: »Und, gut geschlafen?«
»So lala«, antwortete Henry.
»Also nicht genügend?«
»So lala.«
Während sie den Wagen startete, öffnete Henry einen dicken Hefter. Linda sah aus den Augenwinkeln ein Foto von Philipp Stamms Leichnam. Die Erinnerung an den Erfurter Kollegen Dörndahl stieß ihr auf. Nicht anders hatte er vor wenigen Tagen neben ihr gesessen und sein Dossier studiert. Vielleicht, so dachte sie, sollte Henry mit dem alten Dörndahl auf Tour gehen. Der alte Mann und das alte Kind. Amüsant fand sie die Vorstellung keineswegs. Sie machte sich zunehmend Sorgen um Samurai Kilmer. »Ich glaube, es ist nicht gut, wenn du Akten mit nach Hause nimmst.«
»Kein Problem«, nuschelte Henry.
»Ich meine, Wenzel sieht das bestimmt nicht gern.«
»Ist meine eigene Akte.«
»Deine eigene?«
»Ich habe sämtliche Fotos und Berichte kopiert.«
Sein naiver Tonfall verstärkte nur ihre Sorge. Schon oft hatten sie das Standardgespräch über Stress und Burn-out geführt. Die Arbeit sollte auf Arbeit bleiben und die Wohnung einen Rückzugsort bieten. »Henry, von Freund zu Freund«, begann sie, doch er schien nur mit einem Ohr anwesend zu sein. »Henry!«
»Mmh.«
»Steigere dich da nicht so rein.«
»Seit einer Woche fischen wir im Trüben.«
»Eben darum.« Linda stellte das Radio ab. »Manche Fälle sind wahre Fallgruben.«
»Fallgruben für was?«
»Fallgruben für ruhelose Seelen.«
»Und was soll das bedeuten?«
»Henry, ich spreche von dir.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er in sachlichem Ton. »Ich hab alles unter Kontrolle.«
»Du kannst von Glück sagen, dass du keine Freundin hast. Die würde dir nämlich den Arsch aufreißen.«
Als Henry nicht reagierte, stöpselte Linda ihren MP3-Player an. Chris Rea sang »And it’s the curse of the traveler …«
2
Die Teams der KPI Jena versammelten sich im Besprechungsraum. Lennart Mikowski plauderte mit den Kollegen aus seinem Stammteam. Linda und Henry verglichen ihre Unterlagen miteinander. Auf Wenzels Anordnung hin durften die Erfurter Dörndahl und Freese heute länger schlafen. Er wollte die allgemeine Teambesprechung frei von fremden Ohren wissen.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Genossen und Genossinnen«, sagte Wenzel und präsentierte sein schiefes Grinsen. »Wir sollten uns bei den Kollegen von Team drei bedanken. Der Kaffee ist tatsächlich mal heiß.«
Applaus und halbherzige Dankesworte.
Linda lehnte sich zurück und genoss die Entspanntheit. Hier unter den Kollegen herrschte ein beinahe familiäres Miteinander. Henry, der neben ihr saß, starrte aus dem Fenster. Nach einem gemeinsamen Dienstjahr hatte sie gelernt, dass man sich an diesem Verhalten nicht stören durfte. Er war kein Mensch, der bei einem Gespräch sein Gegenüber pausenlos fixierte. Sein in die Ferne gerichteter Blick war nicht das Resultat von Überdruss oder Tagträumerei. Woanders hinzuschauen, half ihm, sich auf das Gesagte zu konzentrieren. Henry war ein guter und gewissenhafter Polizist. Daran glaubte sie fest.
Gleichwohl sah sie für ihn auch die Gefahr der Einsamkeit. In ihm rumorte etwas, das sie nicht fassen konnte. Etwas, das ihn von ihr und dem Rest der Welt entfremdete. Einmal hatte er in ihrer Gegenwart den Namen Patrick gemurmelt. Wie ihr schien, unabsichtlich und in Gedanken versunken. Als sie daraufhin mehr hatte erfahren wollen, hatte sie nur einen kalten Blick kassiert. Seitdem symbolisierte der Name Patrick einen unergründlichen Winkel in ihrem Kollegen.
»Henry?«, flüsterte sie.
»Ja.«
»Kaffee?«
»Ja.«
»Mit Milch?«
»Ja, danke.«
Team eins ermittelte in einem Fall von gefährlicher Körperverletzung. Ein Pizzabote wurde bei einer Liefertour angegriffen. Ein maskierter Mann hatte ihm die Hände mit einer Brechstange mehrfach gebrochen. Bislang war unklar, ob sich hinter dem Raub nicht eventuell ein persönlicher Racheakt verbarg. Team zwei dümpelte unverändert in einer Betrugssache. Nette Herren und leichtgläubige Rentner. Immer das gleiche Spiel. Erst gestern hatten sie zwei Frauen gefasst, die als fingierte Taubstumme auf Spendenfang gewesen waren.
Seit einer knappen Woche erhitzte der Fall von Team drei die Gemüter. Ein Unbekannter hatte Kindern auf dem Schulweg Süßigkeiten angeboten. Laut Zeugen sei er in einem weißen Auto ohne Kennzeichen unterwegs gewesen. Kaum war der Fall in die Presse gelangt, wurde die Leitstelle von Hinweisen überschwemmt. Jede Stunde hatte irgendwer irgendwo einen Fremden in einem weißen Auto gesehen. Nebenher ging Team drei einer Vermisstensache nach. Eine Frau war seit zwei Tagen nicht heimgekommen. Handelte es sich bei den Vermissten nicht um Kinder, erregten solche Fälle kaum den Ehrgeiz eines Polizisten. Das Protokoll verlangte eine Befragung im Umfeld der Vermissten. Linda beneidete ihre Kollegen nicht für diese Angelegenheit. Team drei durfte sich aufs Klinkenputzen und einem Haufen sinnloser Papierarbeit freuen. Die meisten Vermissten kehrten reumütig nach kurzer Zeit heim.
Sobald Linda die Stagnation in der MK Stamm erläutert hatte, machte abermals die Brandstiftung die Runde. Sie fragte sich, weshalb man dafür nicht die Erfurter verpflichten konnte. Seit acht Monaten geisterte ein Feuerteufel durch die Region. In der Ortschaft Kahla war letztes Wochenende eine Scheune bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Polizeiinspektion Saale/Holzland tappte im Dunkeln. De facto wurde es immer schwerer, das Werk des Brandstifters von dem eines Versicherungsbetrügers zu unterscheiden.
»So, einer hat gesprochen, und zehn haben geschlafen.« Wenzel schob mit angewiderter Miene seine Tasse von sich. »Aber ich nehme es keinem übel. Denn der Kaffee war so heiß wie dünn. Auf Wiedersehen.«
3
Robert Krone starrte vom Bürofenster des Platanenhauses hinab in den Hof. Hinter seinen Augen schwelten gleich einem erstickten Feuer Hass und Verbitterung. In einer halben Stunde würde die Städtische Kunstsammlung ihre Türen öffnen. Er musste sich fragen, weshalb er sich überhaupt zur Arbeit gequält hatte. Heute, am zweiten Tag nach dem Holocaust.
»Gibt es Neuigkeiten, mein Freund?«
Arthur Boenicke trat ans Fenster, und seine Stimme hatte ihren gewohnt warmen Klang. Im Augenblick war sein Chef der einzige Mensch, den er von jedweder Schuld an Annetts Verschwinden freisprach. Der Rest der Welt konnte ihm gestohlen bleiben. Und wer ihm nicht gleichgültig war, den hasste er aus dem Tiefsten seiner Seele. Annetts Familie mit ihrem Geschwätz, sie hätten das Unglück kommen sehen. Annetts Freundinnen mit ihrer heuchlerischen Art: Nein, von einem Liebhaber haben wir nichts gewusst. Nein und Nein und blablabla. Diese hinterfotzigen Weiber, die alle Teil eines riesigen Blendwerks waren. Dazu Annetts Kollegen, Lehrer sowie Erzieher. Und an vorderster Stelle Daniel Hafenstein. Den hasste er so sehr, dass dieses Gefühl den Hass auf alle anderen zu erschöpfen drohte. Den Blick fortwährend aus dem Fenster gerichtet, sagte er: »Nein, sie ist weiterhin unauffindbar.«
»Vielleicht ist sie zu ihrer Verwandtschaft.«
»Dann hätte sie jemanden benachrichtigt.«
»Oder zu Freunden, an die gerade niemand denkt?«
»Ausgeschlossen, Arthur.«
»Und bei ihren Eltern?«
»Ich weiß, wo sie steckt.« Robert hielt kurz inne, dann korrigierte er sich selbst: »Nein, ich weiß, wer sie versteckt.«
»Sie wird von der Polizei gesucht. Ich glaube nicht, dass sie bei einem Liebhaber untergetaucht ist.«
Hätte jemand anderes als Arthur Boenicke derartige Zweifel geäußert, wäre Robert demjenigen an die Gurgel gesprungen. Insbesondere das Wort Liebhaber traf ihn wie ein Faustschlag. In der Öffentlichkeit haftete dem Wort ein bitterer Geschmack an. Liebhaber. Jemand, der eine Partnerschaft auf Einladung eines Einzelnen untergräbt
Ein Zerstörer. Ein Kaputtmacher. Verführer, Casanova, Stecher. Heimliche Briefe, heimliches Ficken. Daniel Hafenstein …
Dennoch war es in Roberts Ohren vor langer Zeit ein gutes, ein schönes Wort gewesen. Mein Ehemann und Liebhaber – mit diesen Worten hatte Annett ihn am Tag ihrer Trauung umgarnt. Jetzt war sein Rivale der Liebhaber und er bloß noch Ehemann, genau genommen ein Ehemann ohne Ehefrau. Ein Nichts.
»Ich bin müde«, sprach er mit gedämpfter Stimme. »Und das Schlimme daran ist, dass ich nicht schlafen kann.«
»Ich weiß«, sagte Arthur.
»Du weißt gar nichts.«
»Oh doch.«
»Du studierst deine Bilder und bist glücklich.«
»Ich studiere meine Bilder und sehe Menschen wie dich.« Arthur rückte nahe an ihn heran, und gemeinsam blickten sie in den Hof hinunter. »Ihre Gesichter sind von Müdigkeit gezeichnet, von Siechtum und undankbaren Zeiten. Eigentlich müssten sie sterben, aber der Zorn lässt sie keinen Frieden finden.« Arthur Boenicke nannte Rembrandt und die Blendung Simons. Sprach von Renis Kindermord zu Bethlehem, nannte die düsteren Gemälde Caravaggios aus seiner Zeit der Verbannung. Und obgleich Robert das alles verstand, konnte es nicht seinen Schmerz lindern. Am liebsten hätte er seinen Chef die ungeschminkte Wahrheit ins Gesicht geschrien. Dass die Kunst nicht die Wunden des Lebens zu heilen vermag. Weil das Leben bloß ein großer Haufen Scheiße ist. Und Scheiße lässt sich nicht schönmalen.
4
Kaum hatten sie ihr Büro betreten, platzte es aus Henry heraus. »Setz dich!«
»Willst du mir einen Heiratsantrag machen?«
»Nein, viel besser.«
»Dich adoptieren lassen?«
»Warte, warte.« Er hatte auf seiner Seite Platz genommen und blätterte seine Notizen durch. Das Rascheln des Papiers erfüllte den Raum, während sich seine Lippen stumm bewegten. Schließlich atmete er tief durch, straffte seine Schultern und sagte: »Hier ist es.«
»Ich bin gespannt.«
»Frau Bräuer hat am Donnerstag gesagt: ›Ein roter Bus. Der fährt hoch und runter, hoch und runter.‹«
»Und?«
»Darauf habe ich sie gefragt: ›Was für ein Bus?‹ Und sie: ›Na, der rote.‹«
»Ich steh grad aufm Schlauch.«
»Annett Krone. Der Vermisstenfall von Team zwei.«
»Und die besitzt einen roten Bus?«
»Linda! Sie wurde gesehen, wie sie in einen roten Bus gestiegen ist. Ab dann war sie verschwunden.«
Linda erhob sich von ihrem Platz, umrundete den Schreibtisch und sah Henry über die Schulter. Er tippte mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizblock. In akkurater Linienführung stand dort geschrieben: »Gustav Bräuer erwähnte roten Bus« – dahinter drei Fragezeichen.
»Ich dachte, sie redet wirres Zeug. Du weißt schon, wegen ihrer Demenz. Um wenigstens an ihren Mann zu kommen, hatten wir Visitenkarten im Haus verteilt. Natürlich hatten wir uns von Herrn Bräuer einen Hinweis erhofft.«
»Das kann sich auch um einen Zufall handeln«, gab Linda zu bedenken.
»Klar, am Ende kann sich alles als blöder Zufall entpuppen«, pflichtete ihr Henry bei. Dann schlug er einen unverhüllt ironischen Ton an. »Bräuers Tod und die Gestalt, die Spindler gesehen haben will. Ein rotes Auto, das gleichzeitig in zwei ungelösten Fällen auftaucht.« Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen.
Momentan hätte er sich gemeinsam mit Linda stundenlang in wilden Spekulationen verlieren können. Sie waren an einen Punkt gelangt, wo jedes neue Indiz womöglich eine weitere Tür öffnete. Henry wusste um die Gefahr solcher Thesenräume. Einige Kollegen behaupteten, an dieser »Hirnfickerei« wäre allein die »Verkopfung« der Polizei schuld. Obwohl man nicht aussprach, welche Methode aus dem Dilemma führen würde, wusste jeder Bescheid: Geständnisse unter Androhung von Gewalt. Subtil oder ungeschminkt. Der Zweck heiligt die Mittel und so weiter und so fort.
Henry äußerte den Vorschlag, die Zeugin aufzusuchen. Er wolle sich ein eigenes Bild machen.
»Welche Zeugin?«, fragte Linda.
»Jasmin Sander. Die Frau, die den roten Bus gesehen hat.«
»Und warum hast du nichts in der Teamsitzung gesagt?«
»Ich dachte, das wäre unser Fall.«
»Unser Fall. So redet man in amerikanischen Krimis.«
Die Hände vor der Brust gefaltet, neigte er sich über die Tischkante. »Gib mir einen Tag. Bitte!«
»Mmh.«
»Wenn’s eine Nullnummer ist, vergessen wir es.«
»Und wenn nicht?«
»Dann werde ich Wenzel alles berichten.«
»Ich nehm dich beim Wort.«
»Danke, danke.« Henry klappte seinen Notizblock zu und sprang auf. »Ich bin zum Mittag zurück.«
»Nein, warte«, rief Linda. »Ich komme mit.«
»Und die Erfurter?«
»Die soll Mikowski beschäftigen.«
»Am besten mit Lucha Libre.«
Henry und Linda grinsten einander an.
5
Abwesend schob Jasmin Sander den Bücherwagen über das Parkett. Dass sie die Standorte der auf ihrem Wagen liegenden Titel passierte, bemerkte sie nicht. In Gedanken hing sie der tragischen Geschichte von Robert Krone nach.
Erst gestern war in der Bibliothek die Polizei aufgetaucht. Ihre Kollegen hatten große Augen gemacht, als zwei Beamte sie hatten sprechen wollen. Die Beamten hatten sich über das Fest in der Galerie erkundigt. Wie sie den Worten der Polizisten entnommen hatte, wurde Robert Krones Frau vermisst. Insgeheim hatte sie der unbekümmerte Tonfall der Beamten entsetzt. Offenbar war ihnen die Vermisstenanzeige kaum ein Grund zur Sorge gewesen. Sie wirkten geradezu von ihrer Arbeit angeödet. Als müsste eine dämliche Katze von einem Ast gerettet werden.
»Jasmin?«
Aus ihren Gedanken gerissen, wandte sie sich um. Ihre Kollegin sagte, ihre neuen Freunde seien wieder da. Auf Jasmins verständnislosen Blick hin rollte sie mit den Augen und sagte: »Die Bullen.«
Binnen Sekunden befielen Jasmin die dunkelsten Gedanken. Dass Frau Krone womöglich tödlich verunglückt oder einem Hirnschlag erlegen war. Oder jemand einen einzelnen Schuh von ihr gefunden hatte. Gestern hatten die Polizisten angekündigt, eventuell auf sie zurückzukommen. Das sei Routine. Aber dass sie dermaßen schnell wieder auftauchen würden, hätte sie nicht vermutet. Sie schob den Bücherwagen an die Wand und ging mit hämmerndem Herzen in den Eingangsbereich. Doch statt der beiden Polizisten sah sie nur ein paar Besucher: eine ältere Frau, die ihre Bücher über den Tresen schob, zwei Jugendliche auf dem Weg ins Computerkabinett. Ein Mann mit Zopf, der die Neuheiten in der Auslage betrachtete. Als sie bei ihrer Kollegin nachfragte, wurde sie prompt an den Langhaarigen verwiesen.
»Sie wollen mich sprechen?«, fragte sie ihn zögernd. Wider besseres Wissen mochte sie nicht glauben, dass dieser Mann ein Polizist sein sollte. Ein Hauptkommissar, wie er sich selbst mit Ausweis vorstellte.
Henry Kilmer fragte, ob sie irgendwo ungestört reden könnten. Jasmin bejahte dies und führte ihn durch die Bibliothek. Auf dem Weg zu den Personalräumen sah sie seinen Blick über die Regale schweifen. Bei seinem Aussehen hätte es sie kaum verwundert, wenn er eine Schulklasse hätte anmelden wollen. Einführung in die Bibliotheksnutzung. Das Einmaleins der Recherche. Aber er ist wegen einer anderen Sache hier, sagte sie sich. Einer grauenhaften Sache. Wie schon wenige Minuten zuvor schwärzten sich ihre Spekulationen. Irgendwas war mit Annett Krone geschehen, das ahnte sie. Dieser Henry Kilmer wollte keine Bücher ausleihen. Er brachte schlechte Nachrichten, und schlechte Nachrichten bemächtigen sich dunkler Boten. Besorgt öffnete sie den Pausenraum und bat ihn herein.
Jasmin nahm an dem einzigen im Raum befindlichen Tisch Platz. Kommissar Kilmer setzte sich nicht. Stattdessen lehnte er sich ans Fensterbrett und musterte den Raum. Sein Aussehen verunsicherte sie ungebrochen. Ein Lehrer, der sich als Kommissar ausgibt. Ein Kommissar, der eigentlich Lehrer sein wollte. Obendrein wirkte er für einen Hauptkommissar sehr jung. Aus dem Fernsehen war sie weitaus ältere Kaliber gewöhnt.
Kilmer fingerte einen schmalen Notizblock hervor und begann, darin zu blättern. Instinktiv spürte sie, dass er selbst nervös war. Dass er sich hinter seinem Notizblock zu verschanzen suchte. Auf parasitäre Art stärkte seine Unsicherheit ihr Selbstvertrauen. Jasmin taxierte ihn so lange, bis er das Wort ergriff.
»Laut meinen Informationen waren Sie die letzte Person, die Frau Krone gesehen hat.«
»Ich weiß nicht, ob ich die Letzte war.«
»Sie haben sie aber in einen Kleinbus steigen sehen?«
»Ja.«
»In einen roten.«
»Ja.«
»Was für ein Typ Bus war das?«
»Ich weiß nicht. Es war dunkel.«
»Wenn Sie raten müssten.«
»So ein eckiger.«
»Ein Kastenwagen?«
»Vielleicht ein alter VW-Bus.«
Henry Kilmer zog ein Handy hervor, tippte einige Befehle ein und legte das Handy auf den Tisch. »Wenn Sie runterscrollen, erkennen sie mehrere Typen. Sagen sie einfach, welcher ihnen ins Auge springt.«
Jasmin brannten weitaus wichtigere Fragen unter den Nägeln. Weshalb war er hier? Weshalb wurde sie erneut befragt? Was war mit Annett Krone geschehen? Letztlich sagte sie, sie könne sich für kein Modell entscheiden.
»Und wenn Sie sich für einen entscheiden müssten?«
»Vielleicht dieser hier.«
»Ein T3?«
»Wenn der so heißt.«
Er linste über seinen Notizblock hinweg auf sie herab. »Hatte der Bus irgendwelche Besonderheiten?«
»Ich glaube, er war ziemlich dreckig gewesen. So an der Unterseite.«
Henry Kilmer machte sich eine Notiz. Dann bat er sie, den Farbton zu präzisieren. Hellrot oder dunkelrot, vielleicht bordeauxrot. Jasmin wiederholte, dass es ein Uhr in der Nacht gewesen sei. Außerdem habe sie zu viel getrunken. Sie grinste ihn verlegen an, doch er schien für derartige Reaktionen nicht empfänglich. Er verschanzte sich weiter hinter seinem Notizblock wie ein Autist mit Inselbegabung.
Dann tauschte er den Block gegen sein Handy. Er wählte eine Nummer und begann offensichtlich einer Kollegin Daten zu übermitteln. Einmal fiel der Name Linda. Er erwähnte die Zulassungsstelle und sprach von Dingen, die sie angesichts seiner nüchternen Sprechweise beunruhigten. Während des gesamten Telefonats machte er den Eindruck, er würde sie nicht wahrnehmen. Automatisch fuhren ihre Finger in den Nacken, wo sie mit ihren Haaren zu spielen anfing. Sie fand Henry Kilmer nicht sonderlich attraktiv. Dennoch fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Vielleicht war es sein entrückter Blick. Diese Augen, die einem Teich glichen, der früher einmal vor Leben gestrotzt hatte. Jetzt war nur noch das Sumpfwasser übrig, mattgrün und unergründlich.
Sobald er aufgelegt hatte, nahm er ihr gegenüber Platz. »Entschuldigen Sie, aber der Anruf war wichtig.«
Jasmin nickte.
»Ich würde gern mit Ihnen den Abend vom letzten Samstag rekapitulieren. Erzählen Sie mir alles, was Ihnen einfällt. Ganz egal ob Sie’s für irrelevant halten. Jeder Name, jede Begebenheit könnte uns weiterhelfen.«
»Ist denn Frau Krone etwas passiert?«
6
Während ihrer Bewusstlosigkeit waren ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt worden. Mit Kabelbinder, wie man ihn in jedem x-beliebigen Baumarkt zu kaufen bekam. Als sie irgendwann aufgewacht war, hatte sie die Arme unter ihren Hintern nach vorne ziehen können. Jetzt krümmte sich Annett Krone in einer lichtlosen Höhle zusammen und weinte.
Wie lange sie schon auf dem feuchten Steinboden lag, wusste sie nicht. Inzwischen rannen ihr die Tränen nicht mehr als Flüssigkeit aus den Augen. Stattdessen presste sich eine zähe Masse über ihre Lider, um in ihren Wimpern kleben zu bleiben. Gleich dem Wundharz, das aus bereits gefällten Bäumen quoll.
Sie schaute nicht einmal hoch, als das Licht über ihrem Kopf aufleuchtete. Zu oft hatte sie im Schein der Lampe ihre Freiheit zu erbetteln versucht. Zu oft um Gnade gefleht und doch keine Antwort erhalten. Mittlerweile wusste sie, dass es keinen Sinn hatte. In diesem Loch verhallten ihre Worte ohne die geringste Wirkung.
Langsam senkte sich der Lichtkegel auf Annetts dreckigen Leib. Es war stets dieselbe Prozedur, die Scham und Würde zu missachten schien. Als wäre das Licht der verlängerte Arm eines vor sexueller Gier sabbernden Bocks. Entweder leckte es über ihre Brüste oder fuhr ihr zwischen die Schenkel. Indem sie sich wegdrehte, hoffte sie, dem Licht nur auszusetzen, was sich nicht verbergen ließ. Ihre langen Haare, ihren Rücken, ihren Arsch.
Sie hatte das Gefühl, der Route des Strahls blindlings folgen zu können. Wie er vom Kopf über den Nacken und das Rückgrat hinunter zu ihren Hüften wanderte. Am stärksten schämte sie sich ihrer verdreckten Pobacken. Die ganze Grube stank nach Kot und fauligem Wasser, schon seit dem ersten Tag ihrer Gefangenschaft. Hätte das Gestein den Mief wilder Tiere verströmt, wäre es vielleicht erträglicher gewesen. Aber so erschauderte sie allein bei der Vorstellung, was hier vor ihrem eigenen Martyrium geschehen sein mochte. Es war ein Geruch nach Mensch und Sterben, weniger nach Tod und Schluss. Beinahe wie in den Betten einer Palliativstation.
Unbeeindruckt hob sich der Lichtkegel von ihrem Körper und kroch über die rückwärtige Felswand. Als eine Hand die Lichtquelle abdunkelte, sah sie auf dem Gestein den Schattenriss feingliedriger Finger. Dann begann eine Stimme, die immer gleichen Sätze herzubeten. Aus der Höhe ein Redeschwall über Sünde und Schmerzen. Immer wieder die Worte Vergebung und Reue.
»Du sollst büßen!«, erscholl es so laut, dass Annett zusammenzuckte. Mit den gefesselten Armen schirmte sie ihr linkes Ohr ab. Die rechte Kopfseite presste sie auf den kalten Stein, als horche sie ins Erdinnere.
»Das nützt dir auch nichts«, schallte es hinunter, und sie begriff, dass er über ihre Reaktion erbost war. Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an. Das Licht sprang wild auf und ab, von links nach rechts. »Ich weiß, dass du mich hörst.«
Und lauter: »Also lass das Affentheater!«
Und dann: »ODER WILLST DU FÜHLEN?«
Sie presste die Arme auf ihr Ohr und kniff die Augen zu. Sie dachte an ihren Sohn. Dachte daran, wie sie ihn als Baby in den Armen gewiegt hatte. Versuchte, sich auf dieses eine Bild zu konzentrieren: sein Lächeln, seine winzigen Fäuste. Seine Augen, die noch nicht von üblen Erfahrungen getrübt waren. Plötzlich traf sie ein harter, spitzer Gegenstand im Rücken.
Sie stöhnte auf und krümmte sich weiter zusammen. Sie spürte das warme Blut über ihren Rücken laufen. Dann hörte sie wieder seine entsetzliche Stimme: »Übermorgen bist du fällig, du Scheißtier.«
7
»Noch schnell ’ne Razzia gemacht?«, fragte Linda im Auto. Sie wies auf Henrys Ledertasche, aus der zwei Bücher ragten. »Aha. Bushido – der Weg der Samurai.«
Mit betonter Entschiedenheit schob Henry sein Bein über die Tasche. Er gab ihr zu verstehen, dass sie ihm eine Antwort schuldig war.
»Tut mir leid«, sagte Linda und ließ das Seitenfenster runter. »Kein roter T3 in Jena gemeldet.«
»Vielleicht umlackiert.«
»Ja, vielleicht.«
»Und überhaupt T3s?
»Sechs Fahrzeughalter sind bekannt.« Linda reichte ihm die Adressen. Im Gegenzug nannte ihr Henry all die Personen, denen er einen Besuch abzustatten gedachte. Leute, die ihm nach Jasmin Sanders Bericht wichtig erschienen.
»Henry, das sind zehn Namen.«
»Das schaffen wir bis heute Abend.«
»Aber wir haben nicht mal die Befugnis.«
»Wir tun so, als wollen wir die Vermisstensache protokollieren.«
»Wenn Wenzel davon Wind bekommt, kannste einpacken.«
»Und wenn er hiervon Wind bekommt?« Henry schlug seinen Notizblock auf. »Jasmins Aussage zufolge war das Auto total mit Dreck bespritzt.«
»Dann dürfen wir Stamm als Halter wohl ausschließen.«
Henry war nicht nach Lachen zumute. »Bei dem Dreck könnte es sich um Schlamm handeln.«
»Du denkst an eine unbefestigte Straße.«
»Ich denke an die Gegend oberhalb von Bräuers Fundort.«
Linda blähte ihre Wangen und schaute nach links auf den Carl-Zeiß-Platz. »Okay, okay. Der heutige Tag gehört dir.«
»Danke.«
»Aber nur der heutige.«
»Ja, Sir.«
»Allerdings hab ich noch eine Frage.«
»Ja, es ist ein Buch über Samurais.«
»Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Warum nennst du die Zeugin beim Vornamen?«
Derweil sie die Kahlaische Straße in Richtung Winzerla fuhren, ließ Henry die Zeugen von der Leitstelle auf Aktenvermerke prüfen. Linda fragte bei Mikowski nach, was die Erfurter trieben. Der sagte, sie seien gemeinsam zum Clubhaus der Underdogs gefahren. Damit war entschieden, dass die Ermittlungen offiziell einem neuen Kurs folgten. Henry spürte förmlich das Verrinnen der Zeit. Bestenfalls noch zwei Tage, und dann würde Wenzel eine Direktive aussprechen. Sämtliche Ermittlungen würden sich fortan auf das Bandenmilieu beschränken. Nach dem Gespräch mit der Bibliothekarin widerstrebte ihm ein Kurswechsel umso mehr. Er hoffte inständig auf die Fahrzeughalter, die in Besitz eines T3 waren. Der rote Kleinbus ist das verbindende Element, dachte er. Und die Kernberge sind der Dreh- und Angelpunkt.
Aus den Augenwinkeln betrachtete er seine Kollegin. Linda hielt einhändig das Lenkrad, während die andere Hand auf ihrem Oberschenkel ruhte. Noch strahlte sie ihre nur schwer zu erschütternde Gelassenheit aus. Einen Tag hatte sie ihm gewährt. Einen verdammten Tag, um seinem Phantom nachzujagen. Er fragte sie, ob sie nicht Chris Rea anstöpseln wolle. Sie lächelte, und er wandte sich seinem Hefter zu. Sobald er das Zeichen zu deuten versuchte, umwölkte sich seine Stirn.
Ein Viereck, durchbrochen von einer Diagonale.
Beides eingeritzt in Philipp Stamms Fuß.
Ihm blieb ein verdammter Tag.
»Son, this is the road to hell«, raunte Chris Rea aus dem Autoradio.
8
Er hatte keine Angst, erwischt zu werden. Erstens besaß er ein frisiertes Kennzeichen, zweitens ließ er sich nichts zuschulden kommen. Er kannte Leute, die seit Jahren ohne Führerschein Auto fuhren. Indirekt zwang ihn die Illegalität sogar zu einem bedachten Fahrstil. Würden die Bullen ihn aus irgendeinem Grund anhalten, könnte das sein Ende bedeuten.
Es wunderte ihn absolut nicht, dass nach der Frau nirgendwo öffentlich gesucht wurde. Wäre jemand anderes verschwunden, hätten längst die ersten Zettel an Lampen und Schaufenstern geklebt. Doch das Verschwinden der Frau schien keine Sau zu interessieren. Selbst einem entflohenen Köter hätte man größeres Interesse geschenkt. Seines Erachtens lag der Grund für die allgemeine Gleichgültigkeit auf der Hand.
Ihre von Falschheit bestimmte Existenz rief bei niemandem Bedauern hervor. Sie hatte ihre Mitmenschen in voller Absicht getäuscht und verletzt. Alle Seife der Welt vermochte ihr Lügenmaul nicht reinzuwaschen. Der Schlange musste man die gespaltene Zunge schlicht und einfach rausreißen. Nur so würde sie keine Lügen mehr verbreiten können. Dass die Gesellschaft seine Methoden nicht absegnen würde, war ihm bewusst. Genau wie der Unterschied zwischen öffentlicher Moral und echten Bedürfnissen.
Er fuhr die Kunitzerstraße entlang, vorbei an dreigeschossigen Neubauten und sauberen Kindergärten. Ohne jeden Verdruss wegen des Tempolimits drosselte er die Geschwindigkeit. Wüssten die Menschen Bescheid, so sagte er sich, würden viele das Verschwinden der Frau begrüßen. Menschen, die ihm hinter zugezogenen Gardinen applaudieren würden. Die dem Glauben an einen Verein, der bloß noch aus Duckmäusern und Kinderfickern zu bestehen schien, abgeschworen hatten. Menschen, die ihn in ihre Gebete einschlossen, auf dass er seine gerechten Taten fortführe. Denn dies war ein echtes Bedürfnis der Menschen: das Verlangen nach Gerechtigkeit.
Als er Jena in Richtung Nordosten hinter sich ließ, verlor die Welt ihre Begrenztheit. Schon bald fuhr er durch dichte Kiefernwälder, über Hügel und Berge. Aus Familienhäusern wurden Gehöfte, später aus den Höfen verwaiste Grundstücke. Überall brach die Natur zwischen Fundamenten und Gebälken hervor. Dürre Birken stießen ihre Wurzeln durch Mauern und Fassaden. Vögel nisteten unter zersiebten Rinnen, Eulen und Mäuse in modrigen Dachstühlen. Die alte Ordnung erhob ihren Anspruch auf das Holzland. Städter und Fremde verirrten sich selten in diese Region. Und zog es sie dennoch hierher, so trugen sie Jagdgewehre und Jagdmesser und spielten sich als Übermenschen auf.
Unweit einer von Greisen und Halbaffen bewohnten Siedlung parkte er hinter einem Backsteinhaus. Hier war der Ort seiner Geburt, hier hatte er zu überleben gelernt. Noch kurze Zeit vor seiner Geburt war das Haus als Werkstatt genutzt worden. Doch allein seine Erinnerung konnte die einstige Nutzung bezeugen. Jetzt waren sämtliche Räume leer geräumt. Keine Maschinen, kein Baulärm. Kein Staub, der durch die Luft wirbelte und Männern die Gesichter weißte. Die Stuckwerkstatt war schon lange dem Verfall anheimgegeben. Einen rechtmäßigen Eigentümer hätte man vergebens gesucht.
Er stieg aus dem Bus, öffnete die Heckklappe und zog aus dem Laderaum eine schwarze eingerollte Plane. Indem er sie über ein von Baum zu Baum gespanntes Seil hievte, faltete er sie beidseitig auf. Dann säuberte er die Plane mit einem Scheuerlappen von oben bis unten. Bei der eintönigen Arbeit rauchte er eine Zigarette und hing seinen Gedanken nach. Manchmal drängte ihn eine Stimme dazu, die Werkstatt wieder auf Vordermann zu bringen. Die Stimme sagte: Krempel die Arme hoch, spuck in die Hände und setze fort, was ein anderer begonnen hatte. Aber er war außerstande, einen Nagel senkrecht in die Wand zu schlagen.
Nach getaner Arbeit begab er sich ins Haus. Was ihn dort erwartete, machte ihn traurig. Über die letzten Jahre war die Nässe in die Wände gekrochen. Hier breitete sich der Hausschwamm aus, dort zeigten sich Stockflecken vom Schimmel. Um das von der undichten Decke tröpfelnde Regenwasser einzufangen, hatte er im ganzen Haus Eimer aufgestellt. An der Tür zum letzten trockenen Raum hing ein funktionierendes Schloss. Er öffnete die Tür, und sofort stieg ihm der kaum wahrnehmbare Geruch von Kalk und Mörtel in die Nase. Es war gleichzeitig der Geruch seiner Kindheit und der des Lebens, das er vor seiner Geburt geführt hatte.
9
Jeder Fahrzeughalter, der einen registrierten VW-Bus vom Typ T3 besaß, erwies sich als Nullnummer. Kein einziges Auto mit roter Lackierung, kein Auto, das vor Kurzem umlackiert worden war. Henry ließ die Suche nach den Transportern überregional anlaufen. Er wollte sämtliche Kleinbusse im Großraum Thüringen erfasst wissen. Die ortsansässigen Behörden sollten sich dann um eine rasche Überprüfung kümmern.
Nachdem er und Linda vergebens die halbe Stadt abgeklappert hatten, pausierten sie an einem Imbiss. Henry blieb bei einer Cola, Linda bestellte Bratwurst und Pommes. Ihre gespielte Empörung, weil er nichts aß, ignorierte er demonstrativ. Über die letzten Monate hatte sich aus ihrem Unverständnis und seinem Diätwahn eine Art Spiel entwickelt. Irgendwann, so hatte sie einmal gemeint, räche sich sein Körper mit einer unentrinnbaren Fressattacke. Damals hatte er ihren Worten sogar ein wenig Glauben geschenkt. Heute wusste er, dass er sich unter Kontrolle hatte und auch immer die Kontrolle wahren würde. »Wir haben etwas übersehen«, sagte er unvermittelt.
»Das glaube ich mittlerweile auch.«
Lindas Zuspruch beruhigte ihn. Gerade jetzt, wo er allmählich das Schwinden seiner Kritikfähigkeit befürchtete. Mit jedem weiteren Misserfolg schien seine Verkopfung zu bröckeln. Er durfte nicht den Überblick verlieren. Was ihm beim Essen gelang, musste sich ebenso in seiner Arbeit durchsetzen lassen. »Kontrolle«, murmelte er vor sich hin. »Kontrolle.«
»Wie bitte?«
»Nichts. Hab nur laut gedacht.« Er leerte in einem Zug das Glas, wischte sich den Mund. »Zuerst Arthur Boenicke von der Kunstsammlung.«
»Und wieder laut gedacht?«
»Nein, so heißt unser nächster Zeuge.«
»Im Platanenhaus war ich schon mal«, sagte Linda. »In irgendeiner Bauhaus-Ausstellung.«
Ohne auf Lindas Kommentar einzusteigen, berichtete Henry, Boenickes Familie sei bei einem Autounfall gestorben. »Seitdem lebt er allein für die Kunst.«
»Aha, und woher hast du die Informationen?«
»Von Jasmin Sander.«
»Deine neue Freundin?«
»Meine Dealerin«, erwiderte Henry und deutete auf die Bücher in seiner Umhängetasche. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor es einen Moment später wieder Opfer seiner grüblerischen Miene wurde.
10
In der Städtischen Kunstsammlung wurden sie von einer jungen Studentin empfangen. Sie sagte, Dr. Boenicke habe sie informiert, dass zwei Beamte der Kriminalpolizei vorbeikämen. Henry registrierte ihren zwischen Respekt und Neugier pendelnden Blick. Offenbar wusste sie um den Anlass des Besuches. Das Verschwinden von Frau Krone war sicherlich ein größeres Thema in diesen Räumen als die aktuelle Ausstellung.
Die Studentin brachte ihnen Milch und Kaffee, um sich dann wieder hinter den Tresen der Verkaufsgalerie zu postieren. Mit der Tasse in der Hand schlenderten Henry und Linda durch das Erdgeschoss. Schweigend betrachteten sie die Werke von Matthäus Günther. Ölskizzen neben Federzeichnungen. Entwürfe für Fresken und Altarbilder. Henry blieb andächtig vor dem Ölbild des Erzengels Michael stehen. Das Motiv erregte so sehr seine Aufmerksamkeit, dass ihn beinahe Arthur Boenickes Erscheinen entgangen wäre
»Eine Leihgabe aus Augsburg«, sagte Boenicke. Er reichte erst Linda, dann Henry die Hand.
Henry war über die Stattlichkeit des Direktors verblüfft. Er hatte eine Person mit krummer Haltung und dicken Brillengläsern erwartet. Eher das Klischee eines Büchernarren. Eine Seele, die sich ganz der Kunst verschrieben hatte und für Alltag und Außenwelt untauglich war. Aber er hatte sich getäuscht. Allein Dr. Boenickes Händedruck belehrte ihn eines Besseren.
Nachdem sie einander vorgestellt hatten, instruierte er die Studentin, dass er nicht gestört werden wolle. Er führte die Kommissare einen Stock hinauf ins Büro.
Henry kam nicht umhin, das Mobiliar mit dem ihrer eigenen Zelle zu vergleichen. Als er Lindas Blick erhaschte, ahnte er: Auch sie stellte die beiden Büros nebeneinander. Funktionale Hässlichkeit neben filigrane Handwerkskunst. Arthur Boenicke bot ihnen das weiche Polster einer Ottomane an. Er selbst begnügte sich mit einem steifen Sessel. Er machte den Eindruck, er sei immer und überall auf alles vorbereitet. Seine Gesten wirkten abgestimmt, seine Stimme war tief wie ein fernes Meeresgrollen. »Herr Krone ist aufgrund der Umstände daheimgeblieben«, begann er. »Nicht auszudenken, wie man an seiner Stelle reagieren würde.«
»Haben Sie näheren Einblick in das Privatleben Ihres Assistenten?«, fragte Henry. Die Gegenwart des Direktors ließ ihn aufrechter sitzen, als er es ohnehin schon tat. Linda schnappte sich seinen Notizblock und übertrug ihm damit die Gesprächsführung. Heute war sein Tag, sein einziger verdammter Tag.
»Ich kenne Herrn Krone ganz gut«, antwortete Arthur Boenicke. »Wir arbeiten seit Jahren zusammen.«
»Dann kennen Sie sicherlich auch seine Frau.«
»Ja, Annett Krone.«
»Hatten Sie mit Frau Krone am letzten Samstag Kontakt?«
»Ja, wir hatten uns über dieses oder jenes Bild ausgetauscht. Sie interessierte sich für Günthers Elisabeth-Thema. Kennen Sie das?«
»Nach unseren Informationen hat Frau Krone an diesem Abend die Galerie allein verlassen.«
Arthur Boenicke zögerte.
Henry beschlich das Gefühl, der Direktor wittere die Lüge. Sie hatten von niemandem die Informationen, dass Frau Krone allein die Ausstellung verlassen habe. Einigen Zeugen fällt es leichter, Informationen zu korrigieren, als welche zu geben. Die Methode glich dem Wurf mit einem Kieselstein über einen riesigen See. Henry vermisste seinen Notizblock, an dem er sich hätte festhalten können.
»Ich habe da leider andere Informationen«, sagte Boenicke voller Bedauern. »Wie Sie gewiss erfahren haben, stand es um die Ehe zwischen Herrn und Frau Krone nicht gut.«
Henry und Linda nickten synchron.
»Ich weiß nicht, ob jemand sie nach Hause begleitet oder gar mitgenommen hat«, fuhr Dr. Boenicke fort. »Ich weiß nur, dass ich sie in Gesellschaft eines Mannes die Sammlung verlassen sah.«
»Kannten Sie den Mann?«, fragte Linda in ihrer brüsken Art.
»Nur vom Sehen. Ich glaube, er ist ein Kollege von Frau Krone.«
»Und sie sind nicht wieder aufgetaucht?«
»Dafür kann ich bürgen.«
»Ihr Wort genügt uns.«
Während Linda sich eine Notiz machte, wurde sie von Arthur Boenicke aufmerksam beäugt. Sein mit Lindenwasser fixiertes Haar glänzte unter der schummrigen Lampe. Geduldig wie ein Mentor vor seinen Zöglingen saß er im Sessel und wartete auf die nächste Frage.
»War Frau Krone betrunken?«
»Nicht stärker als andere.«
»Auf einer Skala von eins bis zehn?«
»Fünf.«
»Und ihr männlicher Begleiter?«
»Zehn.«
»Also stark alkoholisiert?«
»Nein, zehn für absolut nüchtern.«
Linda notierte jedes Wort von Arthur Boenicke. Dann fragte Henry ihn, ob er einen roten VW-Bus gesehen habe. Der Direktor schüttelte den Kopf, und Henry machte sich eine imaginäre Notiz: Dieser Mann war ein geborener Redner, und nun hatte er zum ersten Mal statt einer verbalen Antwort eine Geste bemüht. Die Beamten verabschiedeten sich mit der Ankündigung, eventuell auf ihn zurückzukommen.
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In Robert Krones Gedanken drehte sich alles um den Tod eines anderen Menschen. Er hatte mit seinem Auto nahe der Westschule geparkt. Durch einen fingierten Anruf hatte er herausbekommen, dass Daniel Hafenstein heute auf der Arbeit erschienen war. Irgendwann musste dieses Arschloch Feierabend haben. Bis dahin würde Robert auf der Lauer liegen wie ein Krokodil im Brackwasser.
Er hörte die CD, die ihm seine Frau zum Geburtstag geschenkt hatte. »The River.« Ketil Björnstad am Piano, David Darling am Cello. Die letzte Nacht war für ihn eine Tortur gewesen. Nur mit Hilfe von Alkohol und stupiden TV-Sendungen war es ihm gelungen, einzuschlafen.
Am nächsten Morgen hatte er wieder eine klare Sicht auf die Ereignisse gehabt: Gestern hatte er die Liebe seiner Frau zurückgewonnen. Mit einem Bekenntnis, geschrieben auf einer Serviette. Annett war gerührt und gleichermaßen dankbar gewesen. Endlich wusste sie um ihre Fehler. Wusste sie, dass die letzten Monate von Blindheit und Verwirrung bestimmt waren? Angesichts seiner selbstlosen Hingabe hat sie entschieden, ihr Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken. Aber nicht erst morgen oder gar bald, sondern sofort an Ort und Stelle.
Während Robert im Hof der Kunstsammlung gewartet hatte, war sie dem Mann gegenübergetreten, der sie geblendet hatte. Sie gab ihm zu verstehen, dass Schluss war. Dass er die Feier jetzt verlassen konnte. Dass er nicht auf sie warten, sich keine Hoffnung machen sollte. Weil sie nun wusste, wohin sie gehörte. Nämlich zu ihrem Ehemann. Robert Krone. Dass es keinen Besseren für sie gab.
Doch Hafenstein wollte nicht kapieren. Sein kranker Stolz wollte sich nicht abweisen lassen. Deshalb hat er sie mit Sicherheit dazu gedrängt, ihn zu begleiten. Und sie hat garantiert den Kopf geschüttelt und ihn angefleht, er möge bitte gehen.
Doch wahrscheinlich hat er sich sturzbesoffen auf die Knie geworfen und zehn Minuten ihrer Zeit erbettelt. Bloß nicht hier vor den ganzen Kunstheinis und Neunmalklugen, hat er garantiert gesagt. Ein letzter Spaziergang, und dann verschwinde ich auch und belästige dich nie wieder. Und seine Worte hat er bestimmt mit einem Schwur untermauert. Einen Schwur bei allem, was ihm lieb und teuer war.
Und Annett hat garantiert an den Mann gedacht, ohne den sie nicht mehr sein mochte. Er würde verstehen, dass sie Hafenstein ein letztes Gespräch unter vier Augen gewähren musste. Weil seine Annett eine Frau mit einem großen Herzen war. Eine Frau, die nicht einmal ihren ärgsten Fehler mit Füßen trat. Bestimmt hat sie gedacht: fünf Minuten für Daniel, dann ein ganzes Leben für Robert. Und somit eingewilligt, Hafenstein nach draußen zu begleiten. Nur ein Stück die Straße hinunter, nicht mehr. Das musste er ihr versprechen. Hafenstein hat zwei Finger gehoben und den Dankbaren markiert, und dann haben sie gemeinsam die Galerie verlassen.
Doch alles kam anders.
Daniel Hafenstein hatte nicht vor, in Frieden auseinanderzugehen. Stattdessen hat er sie, kaum dass sie allein waren, aufs Gröbste bedrängt. Los, komm mit. Dein Idiot von Ehemann wird nichts merken. Ein letztes Mal, das bist du mir schuldig. Doch als Annett sich nicht beirren ließ und ihm erst die flache Hand ins Gesicht geklatscht und ihn dann angeschrien hat, dass sie keine Hure ist, kein Flittchen, über das er frei verfügen kann, und dass er sich zum Teufel scheren soll, da ist in diesem Daniel Hafenstein das letzte Fünkchen Hoffnung erloschen und die Sicherung durchgebrannt.
Sofort hat er angefangen, sie zu bedrohen. Wenn sie ihm nicht folgt, wird er Robert auflauern. Und plötzlich hatte Annett große Angst, nicht um sich, sondern um den Vater ihres Sohnes. Sie wusste, dass Hafenstein fähig war, einen anderen Menschen ins Krankenhaus zu prügeln. Brutal hat er sie ins Auto gezerrt, sie in den Sitz gedrückt und sich ihr mit gierigen Lippen genähert, dass Annett garantiert übel wurde und sie ihn angewidert weggestoßen hat, und dann hat er skrupellos seine Fäuste gehoben. Fäuste, die fähig waren, einen erwachsenen Mann schwer zu verletzen …
Während des Schlafs hatten sich für Robert die Ereignisse zu einem großen Ganzen gefügt. Daniel Hafenstein hatte seine Frau auf dem Gewissen. Daran gab es für ihn keinerlei Zweifel. Anders war auch nicht zu erklären, weshalb Hafenstein morgens bei ihm geklopft hatte. Hafenstein wollte der Welt das Unschuldslamm vorgaukeln. Den besorgten Liebhaber.
Automatisch befühlte Robert die Blessuren auf seiner Bauchdecke. Die Erinnerung an Hafensteins Rohheit ließ ihn frösteln. Dieser Mann war tatsächlich zu allem fähig. Er drehte die Musik ein wenig lauter, um seine Gedanken zu beruhigen.
Nach zwei Stunden sah er einen Passat vor der Schule parken. Er rutschte tiefer in den Sitz und linste knapp über den unteren Fensterrand hinweg. Eine dunkelblonde Frau und ein Typ mit Zopf stiegen aus dem Auto. Die Frau raffte ihre Lederjacke über ein Waffenholster, nickte in Richtung Schule und umrundete den Wagen. Neben dem Typen stehend, fachte sie sich eine Zigarette an.
Robert begriff augenblicklich, dass es sich bei dem Gespann um Bullen handelte. Er fragte sich, was die hier an der Schule zu suchen haben?
Das Verschwinden seiner Frau war bereits gestern zur Anzeige gebracht worden. Der zuständige Beamte hatte ihm gegenüber behauptet, man müsse zunächst ein paar Tage abwarten. Die meisten Vermisstenfälle würden sich binnen einer Woche aufklären. Bei Erwachsenen gestalte sich das Prozedere ohnehin anders als bei Jugendlichen. Erwachsene seien niemanden Rechenschaft schuldig, wohin sie gehen, reisen, was auch immer. Solange kein Verdacht auf eine Gewalttat vorliege, ermittle man im ersten Gang. Frau Krone sei vielleicht mit der prekären Situation überfordert gewesen und habe die Flucht ergriffen. Sie wissen doch, wie Frauen ticken, hatte der Beamte kommentiert.
Dass er jetzt die Bullen an der Schule sah, missfiel Robert. Sobald die Frau aufgeraucht hatte, gingen die beiden Polizisten ins Schulhaus. Robert blieb in Deckung und dachte nach. Gewiss provozierte die Brutalität, mit der Hafenstein ihn niedergestreckt hatte, den Argwohn der Kripo. Jetzt hinge die Erfüllung seines Plans davon ab, ob sie Hafenstein verhaften würden. Mitnichten wollte er ihn in Handschellen sehen, in irgendeiner gemütlichen Zelle. Er wollte das Schwein sterben sehen.
12
»Das Thema lautete«, sagte Daniel Hafenstein, »was wir im Herbst machen wollen.« Der Erzieher trug auf dem Kopf einen Zylinder aus Pappmaché. Um seine Mundwinkel spielte ein gütiges Lächeln. Weder Linda noch Henry gaben sich irritiert über den Anblick.
Vor knapp zwei Stunden hatte Linda Kunstwerke aus dem achtzehnten Jahrhundert betrachtet. Jetzt schweifte ihr Blick über bunte Bilder, gezeichnet oder hingekleckst von Kinderhänden. In ihrer eigenen Kindheit hatten zwar männliche Lehrer existiert, aber männliche Erzieher waren undenkbar gewesen. Wie nebenbei musterte sie Daniel Hafenstein, den Geliebten von Frau Krone. Durch sein T-Shirt zeichneten sich die Konturen seines kräftigen Oberkörpers ab. Unter den Kolleginnen musste er bestimmt nicht um Aufmerksamkeit buhlen, dachte Linda. Sie fragte ihn, welche Klassenstufe er betreue.
»Eine vierte.«
»Das ist ein gutes Alter.«
»Kennen Sie ein schlechtes?« Er grinste Linda auf sympathische Weise an. Gleichwohl blieb ihr der Schatten über dem Grinsen nicht verborgen. Seine Augen sprachen von Sorge, die Ringe darunter von Nächten ohne Schlaf, ohne Ruhe. Sein Zylinder war die rote Nase eines ausgedienten Clowns.
Er öffnete die Tür zu einer schmalen Kammer. Stundenpläne und Karikaturen über Erzieher und Eltern dekorierten die Schränke. Zwei Tische waren mit diversen Kannen bestückt. Auf jeder Kanne klebte ein Heftpflaster, das den Inhalt verriet. Kaffee, Früchte- und Schwarztee. Es roch, als habe hier jemand verbotenerweise geraucht. Hafenstein zog das Fenster auf und schob einen Duden in den offenen Spalt.
Während Henry sich an einen Schrank lehnte, setzte sich Linda. Hafenstein stellte drei Tassen auf den Tisch, nahm ebenfalls Platz und begann ungefragt zu erzählen. »Wir wollten in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Aber noch nicht sofort. Annett ist eine sehr umsichtige Person. Sie handelt nicht einfach aus einer Laune heraus. Außerdem hatte sie Angst, ihr Mann würde sich in seiner Wut an ihren Sachen vergreifen.«
»Hat sie das Ihnen gegenüber geäußert?«, fragte Linda.
Hafenstein erzählte von einer tränenreichen Zeit, in der Robert Krone ihr sehr zugesetzt habe. Auf die Frage, ob der Ehemann gewalttätig geworden sei, schüttelte Hafenstein den Kopf. Ein solches Verhalten habe Annett ihm zu keiner Zeit zugetraut. Er selbst nannte Robert Krone einen Choleriker, der seine Fäuste in den Taschen behält.
»Aber laut ihrer Aussage«, entgegnete Linda, »hat er Sie angegriffen.«
»Das war ein Verteidigungsreflex. Ich habe ihn praktisch herausgefordert.«
»Also kein Angriff?«
»Kein ernst zu nehmender.«
»Und weshalb haben Sie ihn herausgefordert?«
»Weil ich dachte, er hätte irgendwas mit Annett angestellt?«
Linda hob zweifelnd ihre Brauen. »Sie haben doch eben behauptet, Sie trauen ihm keine Gewalttat zu.«
»Das behaupte ich auch weiterhin. Der wirft bloß mit Worten um sich und plustert sich auf. Kerle, die ihre Frauen verprügeln, erkenne ich sofort.«
»Aber wenn Sie sich keine Sorgen gemacht haben, weshalb sind Sie dann bei ihm aufgetaucht?«
Hafensteins Lippen bewegten sich stumm wie die entblößten Kiemen einer Auster. Als fände er für einen einfachen Umstand nicht die richtigen Worte. Dann stützte er die Ellbogen auf, neigte sich vor, und die Krempe seines Zylinders verdunkelte sein Gesicht. »Frau Liedke«, sagte er bestimmt. »Ich hatte Panik, er hätte längst schwere Geschütze aufgefahren. Sie etwa eingesperrt. Oder ihr mit Gewalt gegen sich selbst gedroht.«
»Sie dachten an Erpressung durch angedrohten Suizid?«
»Genau an solche Dinge. Er wirkt auf mich sehr labil.«
In dem Moment, als er sich wieder zurücklehnte, wechselte Linda das Thema. »Sie sind die letzte Person, die mit Frau Krone gesehen wurde.«
»Wo denn?«
»In der Galerie.«
»Da waren viele.«
»Beim Hinausgehen«, präzisierte Linda. »Danach sind weder Sie noch Frau Krone wiedergekommen.«
»Das stimmt.«
»Haben Sie sie nach Hause begleitet?«
»Nein, nur ein Stück die Straße hoch.«
»Bis wo genau?«
»Bis zur Haltestelle Steinweg.«
»Und warum ist sie nicht mit zu Ihnen?«
»Sie hatte Angst.«
»Vor Ihnen?«
»Ach, Unsinn«, sagte Hafenstein und neigte sich abermals vor. Seine Stimme blieb freundlich und ruhig. Linda merkte, wie er den Kripobeamten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken versuchte. Zunächst schaute er sie an, darauf ihren Kollegen. Dann wanderte sein Blick wieder zurück. Er beherrschte die Regeln der Kommunikation, was wohl in seiner Arbeit begründet lag. »Sie hatte Angst vor Robert«, sagte er schließlich. »Er hatte sie an dem Abend ziemlich bedrängt.«
»Inwiefern?«
»Er hat sie mit Liebesschwüren und Versprechungen belegt. Dass er fortan alles anders machen will und so weiter. Die ewige Litanei.«
In Lindas Kopf entstand das Bild eines Mannes, der mit geröteten Augen um Liebe bettelt. Sie fragte sich, ob dieser Robert Krone dabei einen Zylinder getragen hatte.
»Am Ende hatte sie die Nase gestrichen voll«, fuhr Hafenstein fort. »Sie wollte ein paar Sachen holen und mit dem Taxi zu mir kommen. Die Situation war günstig. Robert war noch in der Galerie.«
»Und weshalb sind Sie nicht mit?«
»Sie hat gesagt, es wäre endgültig. Sie wollte sich von der Wohnung verabschieden. Allein. Immerhin hatte sie dort ihren Sohn großgezogen. Das wollte ich respektieren. Doch jetzt weiß ich, dass ich einen großen Fehler gemacht habe.« Daniel Hafenstein legte eine Hand auf seine muskulöse Brust und atmete tief durch. »Robert muss früher als erwartet heimgekehrt sein.«
13
Linda musste feststellen, dass Henrys Grübelfalten sich nicht glätteten. Mit gesenktem Kopf saß er auf dem Beifahrersitz und überflog ihre Notizen. Weder Daniel Hafenstein noch Dr. Boenicke hatten einen roten VW-Bus gesehen. Das hatten zumindest beide ausgesagt. Linda grübelte, ob es sinnvoll wäre, eine großflächige Befragung durchzuführen. Annett Krone war das letzte Mal von Dr. Boenicke gegen ein Uhr gesehen worden. Im Gegensatz zu Philipp Stamm musste sie den Weg anderer Passanten gekreuzt haben. An einem Samstag und zu dieser Stunde waren Jenas Straßen noch belebt. Touristen und Studenten. Einheimische, in und vor ihren Stammkneipen. Zudem schien Annett Krone eine äußerst attraktive Frau zu sein. Vielleicht war sie von einem Betrunkenen angemacht worden, vielleicht hatte ihr jemand nachgepfiffen. Für Wenzel sollte es einen geringen Aufwand darstellen, eine Hundertschaft fürs Klinkenputzen einzufordern. Allerdings würde er ohne konkrete Anhaltspunkte keinen Finger rühren.
Insgeheim hegte Linda große Zweifel an Henrys Theorie. Natürlich konnte ein roter VW-Bus Frau Krone eingesackt haben. Aber je mehr sich Linda in diese Frau hineinversetzte, desto stärker favorisierte sie einen anderen Verdacht: Frau Krone hatte nur fliehen wollen. Bloß weg von den Männern. Ganz gleich, ob es sich um den eifersüchtigen Gatten handelt oder den neuen Liebhaber. Linda hätte an Annett Krones Stelle schon lang die Flucht ergriffen. Sie hätte auch genau gewusst, wohin. Ihre beste Freundin wohnte oben an der Küste. Um zur Ruhe zu kommen, hätte sie bei ihr Unterschlupf gefunden. Distanz gewinnen und leiden, nachdenken und leiden. Saufen und leiden, aufwachen und weniger leiden. Den Teufelskreis durchbrechen. Annett Krone hätte einen solchen Entschluss bereits am frühen Abend fällen können. In diesem Fall hätte sie sich zunächst von ihrem Mann verabschiedet und danach von ihrem Liebhaber. Es erschien Linda denkbar, dass Annett Krone jetzt mit einem Cocktail an irgendeinem Strand lag.
Linda sah, wie Henry das Foto des Toten mit dem der Vermissten verglich. Zwei Gesichter, zwei Geschichten. Ein Gewalttäter und eine untreue Ehefrau. Ein Mann, dem man die Kehle aufgeschlitzt hatte. Eine Frau, die in einen roten Kleinbus gestiegen war. Zwei Geschichten ohne Zusammenhang. »Henry?«
»Ja.«
»Lass uns zu Robert Krone fahren.«
»Ja.«
»Und dann …« Linda zögerte, weil sie ihren Entschluss kaum auszusprechen wagte. Henry starrte unverdrossen auf die beiden Porträts, als würden sie ihm jeden Moment ihre Geheimnisse offenbaren. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, atmete durch und sagte: »Und dann ist Feierabend. Okay?«
»Wie bitte?«
»Dann ist Feierabend.«
»Du hast mir einen Tag gewährt.«
»Es hat doch keinen Zweck.«
»Aber der Bus!«
»Und wenn Jasmin Sander sich mit der Farbe geirrt hat? Es war nachts gewesen und die Zeugin obendrein betrunken.« Sie konnte spüren, wie er sich eine Entscheidung abzuringen versuchte. Henry war kein x-beliebiger Ermittler, darauf baute sie. Nur leider würde ihn das, was ihn auszeichnete, noch oft ins Straucheln bringen. Er hatte die Neigung, sich in den Fällen zu verlieren.
»Du hast recht«, sagte er unerwartet. Er schenkte ihr ein schüchternes Grinsen. »Falls das nächste Gespräch in die Hose geht, vergessen wir die Sache.«
Linda wusste, dass er gelogen hatte.
14
Sobald Robert Krone den Liebhaber seiner Frau erkannte, funktionierte er wie ein Uhrwerk. Hafenstein verabschiedete sich offensichtlich von einer Kollegin, ein dickes Muttertier mit einer viel zu engen Jeans. Sie berührte ihn liebevoll an der Schulter, wobei sie ihm den Kopf zuneigte. Robert fragte sich, ob er auch sie gefickt hatte. Vielleicht war ihm das Aussehen anderer Menschen bedeutungslos.
Dann kam ihm der Gedanke, dass die Kollegin von seinem Verhältnis mit Annett wusste. Das Tätscheln seiner Schulter war eventuell eine Geste des Trostes. Daniel Hafenstein als Unschuldslamm. Der fürsorgliche Liebhaber und der tyrannische Ehemann. Das hättest du wohl gern, dachte Robert Krone verbittert.
Als Hafenstein in sein Auto gestiegen war, startete er seinen Wagen. Er scherte aus der Parklücke und fuhr Hafensteins Opel nach. Dann klappte er den Sonnenschutz herunter, um sein Gesicht zumindest teilweise zu verbergen. In Hafenstein durfte kein Misstrauen aufkeimen. Das Schwein muss bluten, dachte Robert und entschied kurzerhand, dass es stellvertretend für alle Schweine dieser Welt bluten sollte.
Sie fuhren Richtung Jena-Nord. Anscheinend wohnte Hafenstein in einem der seltenen Plattenbauten. Unwillkürlich malte sich Robert aus, wie Hafenstein Annett hierhergelockt und anschließend verführt hatte. In eine dieser Wohnungen, deren Wände so dünn wie Papier waren. Wo man jedes Geräusch der Nachbarn hören konnte, ob man wollte oder nicht. Das Geschrei, das Gekeife, das Gestöhne. Die Lustschreie enthemmter Paare. Allein die Vorstellung machte ihm Kopfschmerzen.
Nachdem Hafenstein sein Auto abgestellt hatte, parkte er selbst in unmittelbarer Nähe. Er wartete im Wagen, bis hinter Hafenstein die verglaste Haustür zugefallen war. Indes sein Blick die Fassade des Fünfgeschossers emporschoss, witterte er den Geruch von Latex und Sperma. Das Geräusch eines sich abrollenden Kondoms reizte seine Ohren. Es war nicht zum Aushalten. Er öffnete sein Handschuhfach und langte nach einem Zäpfchen.
15
Henry drückte zum achten Mal auf die Klingel. Er schaute über die Schulter zurück und bemerkte eine Frau hinter den Gardinen des gegenüberliegenden Hauses. Die Siedlung nördlich von Ammerbach gab sich als musterhafte Gegend. Jedes Wohnhaus besaß eine eigene abschließbare Müllstation und eine Tiefgarage. Unter den Fenstern wuchsen Rosenbüsche, die Hausaufgänge rochen nach Scheuermilch. Als Henry erneut auf die Klingel drückte, meinte Linda, dass es keinen Zweck habe. Robert Krone sei nicht daheim. Schlagartig verfinsterte sich Henrys Miene. Zudem schien die Nachbarin sich mit ihrer Penetranz in seinem Nacken festgebissen zu haben. »Hat die blöde Kuh nichts Besseres zu tun?«
»Gelangweilte Rentner sind gute Wachhunde«, erwiderte Linda. Sie drehte sich um und winkte freundlich. Darauf tauchte die Frau hinter der Gardine in den Halbschatten ihrer Wohnung.
Henry schlug vor, die Nachbarn zu befragen. Vielleicht ließe sich so erfahren, ob Annett Krone doch noch ihre Wohnung aufgesucht habe. Unter Zähneknirschen sprach er von einer Freundin, mit der sie eventuell ein paar Sachen geholt haben könnte. Kleidung, Koffer, Schminkzeug. Linda hatte gegen seinen Vorschlag nichts einzuwenden. Sie hatte ihn eine letzte Befragung gewährt und würde sich bis zum Feierabend jeden Kommentar verkneifen. Sie würde ihr Wort halten. So kannte er Linda. Gleichwohl spürte er, wie ihr allmählich die Geduld abhandenkam. Ihr Gesicht offenbarte eine Wahrheit jenseits des guten Willens. Erste Züge von Müdigkeit zeigten sich, und was er gern ignoriert hätte: ein deutlicher Zug, der ihre Ernüchterung verriet.
In dieser Situation sah Henry sich gezwungen, seine Motivation zu erklären. Wie ein Junge, der vor seiner Mutter den letzten Wutanfall gutmachen will. Doch ihm war auch bewusst, dass sich seine Argumente längst erschöpft hatten. Letztlich offenbarte Lindas Gesicht nur das, was beide ohnehin schon wussten.
16
Robert wunderte sich nicht, weshalb auf dem Tisch ein schwarzer Zylinder aus Pappmaché lag. Er wunderte sich über gar nichts mehr. Er saß in der Küche des Mannes, der seine Ehe zerstört hatte. Blut lief aus seiner Nase, die Oberlippe begann anzuschwellen.
»Hier, das hilft.«
Daniel Hafenstein reichte ihm einen rosafarbenen Kühlakku. Robert bedankte sich mit einem vagen Nicken. Der Zorn war einer nicht minder qualvollen Scham gewichen. Er wickelte den Kühlakku in ein Geschirrtuch, neigte den Kopf nach hinten und drückte den Akku auf seine Lippen. Die letzten Minuten erschienen ihm wie die Szenen eines Films, den er abgeschaltet hätte. Sein Klingeln bei Hafenstein, das Geplänkel, seine Drohung, ihn grün und blau zu schlagen. Darauf sein erbärmlicher Angriff.
Hafenstein war nicht nur stärker, sondern auch versierter in seinen Bewegungen. Worauf Hafensteins Fäuste zielten, landeten sie mit hoher Effizienz. Robert begriff, dass Hafenstein ihn viel schlimmer hätte zurichten können. Niemand hätte den Erzieher einer Gewalttat bezichtigt. Robert war in dessen Wohnung eingedrungen, nicht umgekehrt. Robert hatte die Prügel kassiert, genau wie letztes Mal. Das Schamgefühl schien zu unbegrenztem Wachstum fähig.
Daniel Hafenstein stellte zwei Schnapsgläser und eine Flasche Wodka auf den Tisch. In seinen Augen schimmerte nicht der geringste Funken Aggressivität. Seine muskulöse Statur klebte an der Stuhllehne wie ein sanftmütiger Prediger auf einem Felsen. »Das hilft manchmal«, sagte er und goss die Gläser randvoll.
»Danke«, murmelte Robert. Er kippte den Wodka und schob das Glas zurück in die Tischmitte. Er hatte tausend Fragen, deren Antworten er nicht hören wollte.
Wo hast du sie gefickt?
Wie hast du’s ihr besorgt?
Hat sie hier auch übernachtet?
Ihm war bewusst, dass es keine Antwort ohne passenden Schnappschuss gab. Und da jeder dieser Schnappschüsse auf ewig in seinem Schädel toben würde, schwieg er.
An seiner Stelle ergriff Daniel Hafenstein das Wort. Er berichtete von den letzten Minuten, die er mit Annett verbracht hatte. Robert konnte sich denken, dass Hafenstein die pikanten Details ausklammerte. Die Küsse und Umarmungen, die Liebesschwüre. Statt eines leidenschaftlichen Tons bemühte Hafenstein Distanz und Sachlichkeit. »Nachdem wir uns voneinander getrennt hatten, bin ich zurück.«
»In die Galerie?«
»Ja, ich hatte meine Jacke vergessen.«
»Ich hab dich nicht gesehen?«
»Du warst voll bis oben. Und das soll kein Vorwurf sein.« Hafenstein goss ihnen ein weiteres Glas ein. »Außerdem hast du einen der Gäste zugelabert.«
»Ich? In meinem Zustand?«
»Frag mich nicht, wie und warum. Du hast jedenfalls den Standascher umarmt, während jemand neben dir gehockt hat. Ich kann mich genau erinnern.«
»Scheiß Alkohol. Meine Erinnerung bricht irgendwann ab.« Robert leerte das Schnapsglas und schenkte sich selbst nach. Eigentlich konnte er den Moment, an dem seine Erinnerung abbrach, exakt benennen. Er war vor seiner Frau in die Knie gegangen, um ihr die ewige Liebe zu schwören. Er hatte ihr die beschriebene Serviette überreicht, darauf der Filmriss. Doch das wollte er jetzt nicht ausplaudern, schon gar nicht vor dem Stecher seiner Frau.
»Ehe du nachfragst«, sagte Hafenstein. »Ich bin deiner Frau nicht hinterher. Ich bin heimgefahren und habe hier bis vier gewartet. Erst hab ich’s auf ihrem Handy versucht, später bei euch zu Hause.«
»Dann warst du das.«
»Als ich deine Stimme hörte, habe ich aufgelegt.«
»Und dann?«
»Habe ich diese Flasche geöffnet.«
Robert betrachtete die halb leere Flasche. Trotz seiner Abscheu vor Hafenstein hatte er eine Ahnung davon, wie er sich in dieser Nacht gefühlt haben mochte. Die Warterei auf eine Frau, die man liebte, war das reinste Martyrium. Er hob das zweite Glas Wodka, und der Alkohol brannte auf seiner blutigen Lippe. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, mit wem er im Suff gesprochen hatte. Viel weniger als der Alkohol half ihm die Gegenwart von Annetts Stecher. Beiderseitiges Verständnis schafft noch lange keine Sympathie. Er hievte sich hoch, griff sich den Zylinder und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung. Er konnte noch hören, wie ihm Hafenstein nachrief, er solle in diesem Zustand nicht Auto fahren. In diesem Zustand, dachte Robert irritiert. Was hatte er damit gemeint? Seine Trunkenheit oder seinen Schmerz? Oder das übermächtige Gefühl der Scham? Sobald er in seinem Wagen saß, setzte er sich den Zylinder auf.
17
Annett Krone war an die vordere Beckenwand gehüpft. Vor ihr nun der beinahe vertikale Abhang, der hinauf zur Felsbank führte. Drei Meter über ihrem Kopf hatte vor Stunden der Mann mit dem Licht gestanden und herabgeleuchtet. Er hatte sie nicht nur angestrahlt, er hatte sie vielmehr mit seinem verlängerten Arm begrabscht.
Dieses Verhalten machte Annett besonders Angst. Es war nicht nur eine Präsentation seiner Macht. Das Abtasten schien Ausdruck von etwas Sexuellem zu sein. Ein unterdrücktes Bedürfnis, das nicht mehr lang mit einem Scheinwerfer und einem Blick abzuspeisen wäre. Aber sie war kein totes Tier, dessen Fleisch man fraß oder ignorierte. Sie war lebendig, und er hatte sie beschnuppert, wie ein Köter am Hintern eines anderen schnüffelt. Sie hatte Angst vor dem, was der Hundeschnauze folgen würde.
Sie tastete mit ihren gefesselten Händen das Gestein ab. Vom Boden bis in Höhe von etwa einem Meter war es feucht, darüber trocken. Als hätte das Becken vor nicht allzu langer Zeit Wasser getragen. Sie dachte an einen unterirdischen See. Ihr Sohn hatte ihr einmal von einer Höhle in den Kernbergen berichtet. Die Teufelslöcher oder Teufelsfenster oder einfach die Teufelsdinger. Ihre Erinnerung war verschwommen.
Ihr Sohn studierte in Berlin Ingenieurswesen. Er hätte sie jetzt über die Beschaffenheit der Höhle aufklären können. Wahrscheinlich hätte er mit Begriffen wie Erosion und Holozän um sich geschmissen. Im Gegensatz zu seinem Vater war er ein reiner Kopfmensch. Ein Wissenschaftler, gezeugt von einem cholerischen Traumtänzer. Eigentlich war es lachhaft.
Indem sie die Augen zukniff, versuchte sie die Gedanken an ihren Sohn auszublenden. Solche Gedanken schwächten sie, und sie durfte nicht schwach sein. Sie hatte genug geweint. Hatte lange genug darauf gewartet, von jemandem befreit zu werden. Aber weder ihr Sohn noch ihr Mann oder ihr Liebhaber waren auf der Felsbank erschienen. Niemand hatte ihr die Hand gereicht, niemand ihr ein Seil heruntergeworfen. Sie war auf sich allein gestellt. Und das Monster mit dem Licht gierte danach, wonach alle Monster gieren.
Auf Zehenspitzen stehend, ertastete sie oberhalb ihres Kopfes eine Bruchstelle. Aus der Felswand ragte eine spitze Kante hervor, nicht weit, vielleicht fünf Zentimeter. Sie streckte die Arme hoch und begann den Kabelbinder über die Bruchkante zu reiben. Ihre Handgelenke scheuerten sich wund am Stein, sodass ihr das Blut über die Unterarme rann. Sie musste längere Pausen einlegen. Zu schnell verlor sie die Kraft aus Armen und Beinen.
Dann sank sie zurück auf die Fersen und entspannte die Muskeln, regulierte ihre Atmung und sammelte Kraft. Sagte sich, dass ihr Sohn im fernen Berlin streunenden Hunden und fremden Mädchen nachsah. Dass er ein sorgenfreies Leben führte. Sie lächelte den Felsen an wie ein neolithischer Schamane seine Höhlenmalerei. Dann hob sie wieder die Arme und spannte die Fesseln über die Steinkante. Als ihre offenen Knöchel das Gestein berührten, drohte sie ohnmächtig zu werden. Der blanke Knochen jaulte vor Schmerz. Erst im letzten Moment fing sie sich auf, atmete tief durch und griente ihrem Sohn ins Gesicht.
18
Linda und Henry waren zurück ins Büro gefahren. Die Befragung von Krones Nachbarn hatte ihnen kaum neue Erkenntnisse geliefert. Lediglich die Vermutung, dass Annett Krone in der betreffenden Nacht ihre Wohnung nicht aufgesucht hatte, wurde erhärtet. Eine Nachbarin, die ihres schnarchenden Gatten wegen im Gästezimmer schlief, hatte weder ein Auto noch ein Türklappen vernommen. Zwar wolle sie darauf keinen Schwur leisten, aber sicher sei sie sich trotzdem. Linda hatte ihr für den Fall der Fälle ihre Karte ausgehändigt.
»Morgen schnappen wir uns Wenzel«, sagte Linda. Sie streifte sich die Schuhe ab und schob ihre Füße auf den Schreibtisch. »Wir müssen unseren Alleingang beichten.«
»Okay«, murmelte Henry.
»Und wir beteuern, all unsere Kraft dem neuen Kurs zu widmen.«
»Okay.«
»Ist das ein echtes Okay?«
»Ja.« Henry konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Robert Krone war seine letzte Hoffnung gewesen. Dennoch vermochte er nicht zu sagen, was er von ihm hätte hören wollen. Was hätte er ihnen auftischen müssen, damit der Fall Philipp Stamm eine neue Wendung bekäme? Welcher Satz hätte die Erschöpfung aus dem Gesicht seiner Kollegin gewischt?
Jede Antwort, die ihm einfiel, erschien ihm absurd und unglaubwürdig.
1. Annett Krone hatte eine Affäre mit Philipp Stamm. Deshalb musste er sterben. Deshalb wurde sie entführt.
2. Philipp Stamm hatte Annett Krone erpresst, weil er sie in Begleitung von Daniel Hafenstein gesehen hatte. Deshalb musste er sterben. Deshalb hatte sie sich aus dem Staub gemacht.
3. Robert Krone hatte ein Verhältnis mit Philipp Stamm. Deshalb hatte Annett Krone den Geliebten ihres Mannes getötet. Deshalb wurde sie anschließend vom Ehemann entführt.
Unvermittelt platzte das Gelächter aus Henry hervor. Er lehnte sich zurück, lachte und hielt sich den Bauch. Er wollte aufhören, doch das Gelächter ließ sich nicht ersticken. Hätte er sich selbst von außen betrachten müssen, wäre ihm nur ein Wort eingefallen: wahnsinnig. Ein Mann am Rande des Wahnsinns. Auf Lindas Frage, ob sie mitfeiern dürfe, war er nicht imstande zu antworten. Er gab seinem Stuhl Schwung und drehte sich zum Fenster. Lachte und schnappte nach Luft und hatte plötzlich Angst, Tränen zu vergießen. Hatte Angst, das Gelächter könnte sich einen Weg in die Trauer bahnen.
In seine Kindheit.
Zu Patrick Kramer.
Hinter die Maske einer falschen Existenz.
Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Atem kam stoßweise. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Gefühlen die Zügel anzulegen. Kontrolle, wiederholte er im Geiste. Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Bis das Mantra seines Lebens Wirkung zeigte.
Als er sich zurück ins Büro drehte, sah er seine Kollegin telefonieren. Sie hob den Zeigefinger, um ihm zu signalisieren, dass es wichtig sei. Zehn Minuten später saßen die Kommissare wieder im Auto. Eine Nachbarin von Familie Krone hatte sich gemeldet. Sie habe Robert Krone nach Hause kommen sehen. Es war zehn vor sieben, und die Dämmerung senkte sich über Jena wie eine schmierige Mullbinde.
19
Robert Krone verlangte keinerlei Erklärung. Ohne Umschweife geleitete er die Beamten in seine Wohnung, wo ihnen der unverkennbare Geruch von Alkohol entgegenschlug. Robert Krone hatte nicht einmal den Mund öffnen müssen.
Das Wohnzimmer war zweigeteilt. Im hinteren Bereich stand eine Couchgarnitur, im vorderen befand sich eine Essecke. Aus dem rückwärtigen Teil warf der Fernseher blaue Schemen auf Robert Krones Gesicht. In der Essecke sitzend, kratzte er sich selbstversunken am Bart. Weder Linda noch Henry nahmen Platz. Henry wusste, dass Lindas Stehvermögen entsprechend ihrer Sehnsucht nach einem baldigen Feierabend wuchs.
»Ich bin nicht bescheuert«, grummelte Krone und langte nach der Weinflasche. »Sie verdächtigen mich, meine Frau entführt zu haben. Also sparen Sie sich Ihr Larifari, kapiert?«
Seine Stimme wurde hörbar vom Alkohol gelenkt. Eigentlich hätten sie in dieser Situation keine Befragung durchführen dürfen. Jegliche Aussage verlor durch seine Trunkenheit an Gültigkeit. Andererseits waren sie auch nicht offiziell hier.
»Wir verdächtigen niemanden«, sagte Linda streng. »Wir wollen Ihre Frau finden, kapiert?«
Robert Krone glotzte sie aus wässrigen Augen an. Mit Lindas ruppigem Ton hatte er offenbar nicht gerechnet. Henry schlug seinen Notizblock auf und überflog Daniel Hafensteins Aussage. Dann fragte er Robert Krone, wann er seine Frau das letzte Mal gesehen habe.
»Immer die gleichen dummen Fragen«, antwortete Robert Krone. »Habt ihr nichts Gescheites in euren Schädeln? Zum Beispiel eine Antwort darauf, wo meine Frau ist?« In einem Zug leerte er sein Glas. Henry fühlte sich dazu bewogen, ihm das Glas aus der Hand zu nehmen. Gleichzeitig befürchtete er, genau das könnte Robert Krone zu einer Handgreiflichkeit motivieren. Die Folgen, wenn man ihren Besuch offiziell protokollieren würde, mochte er höchst ungern abschätzen. Sicherlich würde er nicht nur sich erklären müssen, sondern hätte auch seiner Kollegin ans Bein gepinkelt.
»Herr Krone«, sagte Linda unverhofft liebenswürdig, »keiner will Ihnen was Böses.«
»Versuchen Sie jetzt, einen auf nett zu machen?«
»Wir versuchen nur zu erfahren, was am 5. Oktober geschehen ist.«
»Sie meinen, an diesem beschissenen Samstag.« Robert Krone schenkte sich ein weiteres Glas ein. Doch anstatt den Wein in sich hineinzukippen, schwenkte er das Glas im ruhigen Rhythmus. Als suche er auf der dunklen Oberfläche des Weins sein Abbild. Henry wollte dem schon ein Ende machen und ihm das Glas abnehmen. Da begann Krone seine Eindrücke von besagter Nacht zu schildern.
Während Henry sich jeden Satz notierte, stand Linda reglos neben ihm. Es hatte den Anschein, als würde sie Robert Krone mit einem Röntgenblick durchleuchten. Er hob nicht ein einziges Mal die Augen. Sein Blick klebte unverdrossen auf dem Wein, seine Sätze strotzten vor Enttäuschung und Selbstmitleid. Das Gejammer des Mittvierzigers füllte bald mehrere Seiten in Henrys Notizblock.
Nach zwanzig Minuten erreichte Krones Schilderung einen Höhepunkt. Er erzählte ihnen, wie er vor seiner Frau auf die Knie gefallen war. Daraufhin sei sie abgerauscht und habe ihn im Hof des Platanenhauses zurückgelassen. Aus welchen Gründen, das könne er heute nicht mehr nachvollziehen. Er habe zweifellos zu viel getrunken gehabt.
Ein tiefes Brummen ertönte, und Linda zückte ihr Handy. Sie hielt es demonstrativ hoch und entschuldigte sich. Henry blieb mit Robert Krone allein im Wohnzimmer.
»Warum sind Sie ihr nicht gefolgt?«, fragte Henry.
»Ich hatte alles gesagt, was es zu sagen gab.«
»Und haben Sie an eine neue Chance geglaubt?«
»Was für eine Chance?« Robert Krones Tonfall gewann wieder an Schärfe. »Entweder man liebt oder man liebt nicht. Und wir haben uns immer geliebt. Sie hatte nie ernsthaft daran gedacht, mich zu verlassen.«
»Wir haben allerdings andere Informationen.«
»Ich kann mir denken, von wem Sie den Dreck haben. Hören Sie, ich nehme es ihm nicht übel. Kein bisschen. Er ist krank vor Liebe. Er leidet unter der Vorstellung, er hätte mit Annett eine echte Beziehung führen können.«
Henry merkte, dass sie sich im Kreis drehten. Zwei Männer schoben einander den Schwarzen Peter zu. Versuchten, sich gegenseitig mit ihren Liebesschwüren zu übertrumpfen. Schauten zur selben Zeit in denselben Spiegel und erkannten doch nur die Fratze des Rivalen. Henry strich sich über den Zopf. Fragte: »Was haben Sie gemacht, nachdem ihre Frau die Galerie verlassen hatte?«
Robert Krone harrte in Stille aus. Nur seine Pupillen wanderten, als geisterte ihm eine fundamentale Erkenntnis durchs Hirn, von links nach rechts. Nach einer Weile sagte er mit nüchterner Stimme: »Ich hätte den Heimweg nicht mehr geschafft. Also hab ich mich ins Büro gelegt.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Ist mir ein bisschen peinlich.«
»Wir sind die Polizei, nicht die ›Bild‹-Zeitung.«
»Nun gut, Dr. Boenicke hat mich ins Bett gebracht.«
»Und da blieben Sie bis zum nächsten Morgen?«
»Ja.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Klar, ich habe die ganze Nacht mit meinem Chef gevögelt.« Robert Krone trank sein Glas leer. Dann stieß er auf und lachte Henry mit irrem Blick ins Gesicht. Sein Lachen klang so humorvoll wie das Geheul einer Hyäne.
Henry zeichnete ein dickes Fragezeichen unter seine Notizen. Er wollte diese Wohnung schnellstmöglich verlassen. Ihm schien Robert Krone nur einen Schritt davon entfernt, heftig auszurasten.
Wenzels Stimme dröhnte belehrend durch seinen Schädel. Was hatten sie dort zu suchen? Weshalb haben sie nicht die Bikerclubs überprüft? Warum befolgen die Erfurter meine Direktive und die eigenen Leute nicht?
»Ein letzte Frage, Herr Krone.«
»Ach, zum Henker. Verpisst euch einfach!«
»Kennen Sie jemanden mit einem roten VW-Bus?«
Robert Krone schaute wieder in sein Glas. Obgleich es leer war, begann er es langsam zu schwenken. Plötzlich sprang er hoch und warf das Glas gegen die Wand. Einen Moment später stürmte Linda ins Zimmer. Ihre Lederjacke war zurückgeschlagen, ihre Hand lag auf dem Waffenholster.
»Keine Ahnung«, sagte Robert Krone kraftlos, scheinbar ungerührt. »Keine Ahnung, wer so’n bescheuertes Auto fährt. Vielleicht das Hippieschwein aus der Schule. Dieser Karatetyp, der meine Frau gefickt hat.« Dann ließ er sich aufs Sofa fallen und sagte, dass er allein sein wolle.
20
Linda zündete sich eine Zigarette an und startete den Wagen. Im Augenblick war es ihr gleich, dass Henry sich am Qualm störte. Mikowski hatte ihr schlechte Nachrichten übermittelt, und sie fragte sich nun, wie sie Henry davon unterrichten sollte.
Sie lenkte den Passat in Richtung Innenstadt. Für heute hatte sie die Schnauze gestrichen voll. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad. Nach ihrem Mann, nach einer strunzdummen TV-Show. Das Wichtigste schien ihr momentan, Abstand zu gewinnen. In einer halben Stunde würde sie Henry in Lobeda-Ost abgeliefert haben. Sie würde ihm sagen, dass er den morgigen Tag freinehmen solle. Immerhin war er schon zwei Wochen am Stück im Dienst. Er musste einmal ausspannen. Das würde nicht nur für ihn gesund sein, sondern für das gesamte Team. Aber vorher würde sie ihm die schlechte Nachricht beibringen müssen. Eine Nachricht, die man allein einem verbohrten Polizisten als eine schlechte verkaufen durfte.
Sie wandte sich an Henry und musste erkennen, dass er wieder sein Dossier auf dem Schoß hielt. Noch ehe sie das Wort ergreifen konnte, meinte er, Robert Krone habe ihm nicht die Wahrheit gesagt.
»Du glaubst, er hat gelogen?«, fragte Linda.
»Ich würde sagen, er hat etwas verschwiegen.«
»Spricht da deine Intuition?«
»Nein, ich vertraue meinen Ohren.«
Henry erzählte ihr, dass Robert Krone das Geschehen nach der Flucht seiner Frau nur zögernd wiedergegeben hatte. Daraufhin meinte Linda, der Mann sei verwirrt. Die Zurückweisung habe ihn tief verletzt, und jetzt drehe er am Rad. Gekränkte Eitelkeit und falscher Stolz, sagte sie. Eben der ganze Müll.
Henry schüttelte den Kopf. »Ich bin der Meinung, er hat nicht aus Verwirrung gestockt.«
»Sondern?«
»Aus Kalkül.«
»Du meinst, er hat uns was vorgemacht?«
»Nicht, solange er emotional war.«
Linda blies den Rauch über das halb offene Fenster hinaus. Es fiel ihr nicht schwer, Henrys Einwand nachzuvollziehen. So wie sich Kopfmenschen in ihren Ausbrüchen verhaspeln, liefern sich Emotionale in Phasen plötzlicher Grübelei ans Messer. Dessen ungeachtet glaubte sie, dass hier eher der Wunsch Vater des Gedankens war. Sie sprach aus, was sie seit Mikowskis Anruf wusste. »Dem alten Bräuer ist einfach das Herz stehen geblieben.«
»Wer sagt das?«
»Das hat die abschließende Obduktion ergeben. Außerdem steht in seiner Krankenakte, dass er seit Jahren an Herzrhythmusstörungen litt. Svenja war erneut bei Frau Bräuer gewesen, und die hatte seine Krankheit bestätigt. Offenbar hatte sie davon gewusst, es aber – aus welchen Gründen auch immer – verdrängt.«
Henry schloss das Dossier, verstaute es in seiner Ledertasche und wandte den Blick zum Seitenfenster. Linda schnippte ihre Zigarette hinaus auf die Straße. Dann tätschelte sie ihm mit der Rechten die Schulter und bat ihn, morgen freizunehmen. Sie würde ihn am Abend anrufen und über den Fortgang der Ermittlungen informieren. Außerdem wolle sie mit Wenzel sprechen.
Henry erhob keinen Einwand, leistete auch keinen Widerstand. Mit teilnahmsloser Miene sagte er: »So bleibt der Statistik wenigstens ein Mord erspart.«
21
Nachdem Linda ihn in der Otto-Militzer-Straße abgesetzt hatte, wartete er, bis sie außer Sichtweite war. Dann trat er wieder durch die gläserne Eingangstür und machte sich auf den Weg zur Straßenbahn. Er fuhr mit der Linie 34 in die KPI.
Er nickte dem Pförtner zu, besorgte sich am Automaten einen Kaffee und suchte sein Büro auf. Er hatte keinen Bammel, Linda zufällig in der KPI zu begegnen. Im Geiste sah er seine Kollegin in der Badewanne liegen, während ihr Mann im Türrahmen lehnte. Er balancierte ein Glas Wein auf dem Knie und lauschte den Geschichten ihrer stressigen Arbeit. Liedkes wunderbare Ehe. Liedkes idyllisches Heimspiel. Sie würde hier garantiert nicht auftauchen. Wie predigte sie immer: Man müsse hinter sich die Tür zumachen.
Und Henry nahm sie beim Wort. Er schloss leise die Tür und schaltete die Schreibtischlampe ein. Dann trug er sämtliche Akten zum Vorgang Stamm und zur Vermisstensache Krone zusammen. Die Dunkelheit presste sich von draußen ans Fenster. In der Scheibe das Spiegelbild eines Mannes, der vor den Vermisstenfällen der letzten Jahre brütete.
Laut Intranet verschwanden im Großraum Thüringen jährlich um die siebenhundertfünfzig Personen. Der Großteil fand sich früher oder später wieder ein. Jugendliche und Kinder, die ausbüxten. Solche, die keinen Bock auf Elternhaus, spießbürgerlichen Mief oder Thüringens Pseudoidylle hatten. Bis zum heutigen Tag galten circa hundertdreißig Personen als dauerhaft vermisst. Nachdem er die eingescannten Akten aller Erwachsenen ausgedruckt hatte, sortierte er die Einträge in chronologischer Reihenfolge. Angesichts der Überschaubarkeit empfand er ein Gefühl der Erleichterung.
Er beabsichtigte, jeden Akteneintrag genau zu studieren. Seine Hoffnung: irgendein Detail zu finden, das eine Gemeinsamkeit mit dem aktuellen Fall ans Licht förderte. Sein Wunsch: ein Vermerk über einen roten VW-Bus.
Er ahnte, dass diese Nacht lang werden würde. Bisweilen las er anstelle des Namens der vermissten Person den Namen Patrick Kramer. Dann lehnte er sich zurück und kniff mehrmals die Augen zusammen. Der Schlafentzug der letzten Tage machte sich bemerkbar.
Linda hatte die Signale seines Körpers, die Signale seiner geistigen Erschöpfung richtig gedeutet. Sie hatte ihm eine Auszeit verschrieben, und er hatte ihrer Fürsorge die kalte Schulter gezeigt. Sie hat ein gutes Gespür, dachte er jetzt. Doch darüber, was tatsächlich schieflief und schiefgelaufen war, hatte sie keinen Schimmer. Er brauchte keine Pause wegen der letzten zwei Wochen, sondern eine Auszeit dank der letzten zwanzig Jahre. Er fasste sich mit der linken Hand hinter das linke Ohr. Der Geruch von verbrannter Haut benebelte seine Sinne, der Schrei eines Kindes echote durch seinen Kopf.
»Haltet ihn fest.«
»Alter, er pisst sich voll.«
»Ich lach mich tot.«
»Er soll flennen wie ein Baby!«
Vor Henrys Augen verschwammen die Buchstaben, und sein Kopf sackte abwärts. In den Dokumenten tat sich ein Schlund auf, der nichts mit den Vermissten zu tun hatte. Erst als er versehentlich den Kaffeebecher umstieß, wurde er seiner dunklen Phantasie entrissen. Die braune Plörre schwappte über das Foto einer Vermissten, und Henry fluchte leise. Er wischte das Foto an seinem Hosenbein ab und ließ die Papiere über dem Mülleimer abtropfen. Danach legte er sie – mehr ein Reflex als ein sinnvolles Rettungsmanöver – auf die abgedrehte Heizung.
Während er den Tisch abtrocknete, öffnete sich die Tür. Lennart Mikowski, den Wenzel aus Team zwei zur Mordkommission beordert hatte, erschien. Mit verblüffter Miene starrte er Henry an. Es war halb zehn. Eigentlich hätte der eine wie der andere nicht hier sein müssen.
22
»Lass mich dir schnell helfen«, bot Mikowski an. Er hatte sein Sportzeug in der KPI vergessen und zufällig das Licht im Büro bemerkt. Eine der Reinigungskräfte, fügte er hinzu, sei eine Blondine in den Zwanzigern. Er hatte einfach einen Blick riskieren müssen, doch statt der Blondine begegnete er Samurai Kilmer. Henry mochte Mikowski, doch befürchtete er jetzt, unnötige Fragen zu provozieren. Mit gespielter Beiläufigkeit sagte er: »Ich komm schon klar.«
»Das sehe ich«, sagte Mikowski. Er trat an den Schreibtisch und deutete auf die Dokumente. »Ich nehme an, du gehst diese Akten durch.«
»Ja, aber …«
»Dann halbier mal den Haufen«, unterbrach ihn Mikowski und setzte sich wie selbstverständlich an Lindas Platz. Während er das erste Dokument durchblätterte, fragte er, was sie eigentlich suchten. Henry konnte es ihm nicht in knappen Sätzen erklären. Er wusste nicht einmal, ob Mikowski über die heutige Zeugenbefragung informiert war. Gemeinsam mit den Erfurtern hatte der Kollege in Richtung Bandenkriminalität ermittelt. Henry beschloss, ihm nur das Nötigste an Informationen mitzuteilen. Immerhin säße auch Linda in dem Boot, das längst mit Schlagseite über zu hohe Wellen schlingerte.
Also sagte Henry, dass sie nach einem roten VW-Bus Ausschau hielten. Vielleicht stoße er auf die läppische Notiz einer scheinbar belanglosen Zeugenaussage. Oder auf einen Vermissten, dessen letzter bekannter Aufenthaltsort in den Kernbergen verortet wurde. Unversehens schoss Henry eine neue Idee durch den Kopf. Mikowski solle auch nach Vermissten suchen, die straffällig geworden waren. Dann fragte ihn Henry, weshalb er denn sein Sportzeug brauche.
»Zum Squash-Spielen«, antwortete Mikowski.
»Um diese Uhrzeit?«
»Die Halle hat bis zwölf auf.«
»Und du hast dafür noch die Power?«
»Das brauch ich zum Abschalten«, sagte Mikowski und drückte seinen Rücken durch. »Die einen steigen in die Wanne, ich schwinge den Schläger.«
»Krasser Typ.«
»Und was treibst du so, um abzuspannen?«
Nach einer Stunde besorgte Mikowski zwei Becher Kaffee. Einen davon reichte er Henry, den anderen kippte er selbst hinunter. »So, das war’s. Ich verzieh mich.«
»Tausend Dank.«
»Kein Ding.«
Resigniert betrachtete Henry den Stoß an Dokumenten, der letztlich nicht zu neuen Erkenntnissen geführt hatte. Ein roter VW-Bus war nirgends aufgetaucht, und in den Kernbergen hatte keine Sau verschwinden wollen. Er wischte sich beidhändig übers Gesicht. Seine Haut fühlte sich trocken und ausgezehrt an. Lennart Mikowski klopfte ihm brüderlich auf die Schulter. »Mach Schluss, Junge. Morgen ist auch noch’n Tag.«
»Morgen habe ich frei.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Auf Befehl. Nicht freiwillig.«
»Willst du jetzt mein Mitleid?« Mikowski ging um den Schreibtisch herum ans Fenster. Er schaute in die Dunkelheit hinaus, und Henry dachte, er würde jeden Moment von der Demaskierung eines Luchador berichten. Aber stattdessen griff er nach der Akte, die Henry auf den Heizkörper gelegt hatte. »Hübsche Frau«, stellte Mikowski fest. »Hat nur leider Kaffee im Gesicht.«
»Und wird leider vermisst.«
»Mannomann, seit fast zehn Jahren.«
»Die wird wohl niemand mehr finden.«
»Vielleicht will sie gar nicht gefunden werden.«
»Gut möglich, würde Linda jetzt sagen.«
»Ihr Name ist Ute Leutnatz. Oh Scheiße!«
»Was denn?«, fragte Henry und schwang seinen Sessel in Mikowskis Richtung. »Kennste die?«
»Nee, hier unten steht bloß, dass sie verlobt war.«
»Das Schicksal schenkt einem nichts.«
»Tja, arme Schweine, wohin man auch sieht.« Mikowski hielt Henry die Dokumente hin. Der Kaffee hatte auf den ausgedruckten Seiten braune Flecken hinterlassen. So ein Mist, dachte Henry und überflog die Papiere. Schließlich landete sein Blick auf dem Vermerk, von dem Mikowski seine Informationen hatte.
»Verlobter stellte Vermisstenanzeige. Name des Verlobten: Arthur Boenicke.«
23
Unter seinen Sohlen spürte er die leichte Vertiefung einer Reifenspur. Doch er war zu spät gekommen. Der rote VW-Bus stand nicht dort, wo er hätte stehen müssen.
Er schritt um das Haus herum zur Straße. Ohne recht zu wissen, was er nun tun sollte, schaute er in die Ferne. Einzelne Hochhäuser hoben sich wie Säulen dem Nachthimmel entgegen. Er steckte die Hände in die Taschen und grübelte. Dieser Zustand kam nicht oft vor in seinem Leben: dass er nicht weiterwusste. So richtungslos und voller Zweifel. Vor seinen Augen verschwammen die Hochhäuser, und da erschienen sie ihm gleich wuchtigen Feuersäulen. Mit ihren flackernden Mattscheiben und Küchenlichtern unter dem schwarzen Firmament. Er wusste das Zeichen zu deuten und suchte erneut die Rückseite des Hauses auf.
Machte mit seinem Feuerzeug Licht und prüfte, ob er tatsächlich die Reifenspuren gesehen hatte. Er hatte sich nicht getäuscht: Das Profil zeichnete sich deutlich auf dem Erdboden ab. Doch nur weil der Bus hier gestanden hatte, musste das nichts Schlimmes bedeuten. Er sagte sich, dass es ebenso viele Kleinbusse gab wie dumme Polizisten. Dennoch konnte er sich nicht zum Gehen überwinden. Stattdessen entschloss er sich, wenigstens ein paar Minuten zu warten. Die Feuersäule würde ihn sicher durch die Nacht leiten. Er klopfte an die Vordertür, lauschte und benutzte schließlich seinen Schlüssel.
24
Henry traf um Punkt zweiundzwanzig Uhr in der Bar »Black’n White« ein.
Alle Tische waren besetzt von jungen Leuten, mal zu zweit, mal in Gruppen. Aus verborgenen Lautsprechern säuselte die Musik einer fernen, nicht besseren Zeit. Eine schwarze Diva sehnte sich nach einem Kerl, der zum Teufel gehen sollte. Die Bibliothekarin saß an einem der hinteren Tische. In die Karte vertieft, schien sie seine Gegenwart nicht zu bemerken. Er streckte ihr seine Rechte hin und fand seine Geste unangemessen steif. Mit einem krampfhaften Lächeln versuchte er darüber hinwegzutäuschen. Als Jasmin Sander seinen Gruß erwiderte, hatte er das Gefühl, sie parodiere seine Förmlichkeit. Sofort bedrängte ihn die Angst, er könnte sein Anliegen vielleicht nicht adäquat vorbringen.
Einem plötzlichen Impuls folgend, hatte er sie aus der KPI angerufen. Es seien noch Fragen über jene Nacht offen, in der Frau Krone verschwand. Er hatte ihr erklärt, er benötige die Informationen eines Außenstehenden. Dann hatte er sich mehrmals für die späte Störung entschuldigt.
»Sind Sie noch im Dienst?«, fragte Jasmin.
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Im Fernsehen trinken Polizisten nicht im Dienst.«
»Eine der wenigen Dinge, die Polizisten im TV nicht dürfen«, sagte Henry. Er war dankbar für ihre offene, unkomplizierte Art. »Ansonsten genießen sie ja alle Freiheiten. Türen aufbrechen, Geständnisse erzwingen, ohne Blaulicht durch die City rasen.«
»Meistens trinken nur die Kaputten.«
»Das kommt vom amerikanischen Rollenmodell.«
»Mögen Sie das nicht?«, fragte Jasmin.
»Das Trinken oder die Kaputten?«
»Beides.«
»Keine Ahnung. Mögen Sie es denn?«
Jasmin entschied sich für einen Longdrink. Henry fühlte sich von dem reichhaltigen Angebot überfordert und bestellte ein Glas Cola. Er hoffte, das Koffein würde seine Gedanken in Bewegung halten. Während sie auf die Getränke warteten, boten sie einander das Du an. Henry berichtete ihr von seiner zufälligen Entdeckung. »Du hast gemeint, Boenicke hätte seine Familie bei einem Unfall verloren.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Jedenfalls hab ich gedacht, auch seine Frau wäre gestorben.«
»Sorry, da habe mich blöd ausgedrückt. Sie war seine Verlobte gewesen.«
»Meine Schuld«, beschwichtigte Henry und zückte seinen Notizblock. »Ich hätte selbst recherchieren müssen.«
»Soweit ich weiß, sind bei dem Unfall seine beiden Kinder zu Tode gekommen. Das war kurz vor dem Hochzeitstermin gewesen.« Sie machte eine Pause und kratzte mit dem Zeigefinger am Nagel ihres Daumens. »Ich weiß noch, dass er mit seinem Sohn häufig die Bibliothek besucht hatte. Sie liehen stapelweise Bücher aus.«
»Sicherlich Bildbände?«
»Ach, alles Mögliche. Ich hatte den Eindruck, dass Dr. Boenicke mit dem Lehrplan der Schule unzufrieden war. Er wollte seinem Sohn wohl das eine oder andere selbst vermitteln.«
Die Getränke wurden serviert, und die kalte Cola erfrischte Henrys Kehle, belebte seine Konzentration. Er atmete dankbar auf. Jasmin Sander beschrieb einen Jungen, der auch ohne seinen Vater viel Zeit in der Bibliothek verbracht hatte. Er sei ein stiller Junge gewesen, und meist habe er sich mit ein paar Wälzern in eine Nische verkrochen. Damals habe sie gedacht, dass er später Karriere machen würde. Vielleicht würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten. Damals habe Boenicke einen Posten im Stadtrat bekleidet, hatte ihr eine ältere Kollegin erzählt. Er sei ein richtig hohes Tier gewesen. Doch seit dem Unfall könne man Arthur Boenicke allenfalls im Platanenhaus antreffen. Sie glaube, dass er mit der wirklichen Welt abgeschlossen hatte. Der wandle höchstens noch auf dem vernarbten Strand der Erinnerungen.
»Vernarbter Strand?«, hakte Henry nach. »Das klingt poetisch.«
»Ist leider nicht von mir.«
»Sondern?«
»Aus dem ›Endymion‹ von Keats.«
Henry kannte weder Werk noch Dichter und notierte beides auf seinem Block. Je länger er Jasmin zuhörte, desto mehr entspannte er sich. Er hatte die Bibliothekarin als schüchterne Person eingeschätzt, der er alles aus der Nase ziehen musste. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie plauderte ungezwungen drauflos, als hätte sie lange vor ihrer Verabredung von seinen Fragen gewusst.
Möglicherweise war diese Entspannung auch dafür verantwortlich, dass er sich einen Drink bestellen wollte. Er fragte Jasmin, wozu sie ihm rate, und sie schlug ihm einen Cuba Libre vor. Wie zur Entschuldigung erklärte er, dass er morgen freihabe. Er präsentierte ihr seine Uhr, als stünde der Zeiger nicht auf elf, sondern auf Dienstschluss. Dann fragte er, ob sie eine Ahnung habe, weshalb Dr. Boenickes Verlobte verschwunden war.
»Ich nehme an, wegen dem Unfall.«
»Bestimmt das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann.«
»Einer Mutter und Täterin«, nuschelte Jasmin, während sie am Strohhalm sog. Beim Trinken ließ sie den Strohhalm im Glas rotieren. Das Eis klirrte, und die Zitronenscheibe wirbelte hinunter auf den Glasboden.
»Was hast du eben gesagt?« Henrys Stimme klang ernster als gewollt. »Mutter und Täterin?«
»Boenickes Verlobte hatte den Wagen gefahren.«
»Verfluchter Mist«, entfuhr es Henry. »Jede Katastrophe braucht wohl ihre eigene scheiß Akte.« Ohne eine Erklärung zu bemühen, öffnete er seine Ledertasche und zog die Kopie der Akte Ute Leutnatz heraus. Er verkündete, dass sie das eigentlich nicht zu Gesicht bekommen durfte, er ihr jedoch vertraute. Und dann sagte er zu seiner eigenen Überraschung: »Ich darf das nicht mal selbst mit rumschleppen.«
»Also doch im Dienst«, sagte Jasmin und lächelte.
Henry war unfähig, ihr Lächeln zu erwidern. Der Zwiespalt, der sich vor ihm auftat, entpuppte sich als sein persönliches Dilemma. Im Grunde müsste er in die KPI fahren, die Unfallakte ermitteln und Kopien ziehen. Allein durcharbeiten. Oder Linda aus dem Feierabend klingeln, um ihr ein neues Puzzleteil anzubieten. Ein Teil für ein Puzzle ohne Motiv, ohne Rahmen.
Er beobachtete, wie die Bibliothekarin die Papiere durchblätterte und beim Foto von Ute Leutnatz hängen blieb. Das Foto einer vermissten Person hatte etwas Erschreckendes, selbst wenn die Person das schönste Lächeln darbot. Jasmins rechte Hand lag auf den Kopien, derweil ihre linke seinen Unterarm berührte. Die Geste wirkte so beiläufig wie zwanglos. Henry bemerkte zum ersten Mal, dass sie am rechten Nasenflügel einen unscheinbaren Ring trug. Erkannte, dass ihre Oberlippe geschwungen war wie ein sanfter Wellenkamm. Dass sich die feinen blonden Härchen über ihren Lippen bei jedem Atemzug hoben. Dass seinem Unterarm die Kraft fehlte, ihrer Berührung standzuhalten. Abrupt schob er die Dokumente zusammen und stopfte sie in seine Tasche, entschuldigte sich und suchte die Toilette auf.