Später

1

Als Linda das Krankenzimmer betrat, saß Henry fast aufrecht im Bett und las in einem Buch. Eigentlich war wegen seines Fußes eine stationäre Unterbringung kaum notwendig. Aber Linda hatte mit einem Händchen für Beziehungen und einem Augenzwinkern seinen Aufenthalt verlängern können. Er hätte sich niemals freiwillig ans Bett fesseln lassen, das wusste sie. Doch auch ein Henry Kilmer brauchte eine Auszeit.

»Die Blumen habe ich mir gespart«, sagte sie und zog sich einen Stuhl ans Bett. »Dafür habe ich das hier.« Sie schob ihm einen MP3-Player unter das Kopfkissen. »Dreimal kannste raten, was drauf ist.«

»Soll ich dich in Zukunft Josephine nennen?«, fragte Henry.

Linda zwinkerte ihm zu. Sie fand, dass sein Gesicht langsam wieder menschliche Züge annahm. Er hatte ihnen allen einen Mordsschrecken eingejagt, den Kollegen inklusive den Erfurtern und sogar dem obersten Genossen Wenzel. Dass sein Fehlverhalten Folgen haben würde, stand außer Frage. In dieser Hinsicht unterstellte sie ihm auch keinerlei Naivität.

»Und was ist mit Boenicke?«, fragte Henry.

»Der ist unauffindbar.«

»Du willst mich verarschen.«

»Mikowski hat niemanden im Haus angetroffen.«

»So ein Mist.«

»Das Bild des Erzengels ist auch verschwunden. Wie du dir denken kannst, sind die Verleiher darüber ziemlich verärgert.«

Henry starrte gegen die pastellfarbene Tapete. Seine Finger ließen die Buchseiten gleich einem Daumenkino abblättern. Nach einer Weile sagte er: »Ich wette, den Doktor sehen wir nie wieder.«

»Genau wie seine Verlobte.«

»Und Robert Krone?«

»Liegt noch immer im Koma.«

»Und Frau Krone?«

»Auf dem Weg der Besserung.«

»Wer weiß, wie viele Vermisstenfälle auf Spindlers Konto gehen.«

»Jeden Fall zu überprüfen, wird eine Heidenarbeit.«

»Das Leben ist einfach zum Kotzen.«

»Nicht das Leben«, entgegnete Linda. »Unser Job ist zum Kotzen. Aber lass uns jetzt von was anderem reden. Ich hab Urlaub und will den ganzen Scheiß vergessen, zumindest bis der Papierkram fällig ist. Stefan wird’s mir danken.«

»Hat dein Mann auch Urlaub?«

»Klaro.«

»Wo soll’s denn hingehen?«

»Nach Thailand.«

»Ihr beiden macht alles richtig.«

Beiläufig zupfte Linda an seiner Bettdecke. Als wollte sie nur prüfen, ob das Klinikum Weichspüler benutzte oder nicht. Dann sagte sie sanft: »Das kannst du auch.«

»Meinst du?«

»Ruf doch mal diese Bücherfrau an.«

»Ich weiß nicht.«

»Du hast bloß Schiss, dass sie dir zu nahekommt.«

»Ist doch blanker Unsinn.«

»Henry, im Kopf bleibt im Kopf.«

2

Samstag, 12. Oktober. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, starrte Henry aus dem Fenster. Linda rekelte sich gewiss an irgendeinem Strand, dessen Sand so glitzerte wie der auf Vanessas Fotos. Hier dagegen ließ sich zwischen den Wolken nur selten ein Stück blauer Himmel erkennen. Er dachte an die letzten Wochen, an das Ende eines öden Septembers und den Anfang eines dunklen Oktobers.

Auf seine Laufrunde würde er wohl in nächster Zeit verzichten müssen. Er betrachtete seinen bandagierten Fuß und sah das Lächeln eines jungen Mannes. Beide hatten sie den Turm erklommen. Beide waren sie bewaffnet gewesen, beide unfähig zu schießen. Beide hatten sie wieder einen Weg nach unten gefunden. Im Augenblick hätte Henry nicht sagen können, welcher Weg der bessere gewesen war. Der Abstieg oder der freie Fall.

Nicht zum ersten Mal wünschte er sich eine Zeitmaschine. Er wollte all jene Menschen aufsuchen, deren Blick ihn in schmerzvoller Weise getroffen hatte. Er wollte zu ihnen zurückreisen, um noch vor der Sekunde, wenn sie ihn anschauen würden, den Blick zu senken. Statt zu vergessen, wollte er die Erfahrung im Moment ihres Ursprungs ausmerzen. Aber Zeitmaschinen, dachte er, werden nur von Menschen bedient, die ebenso wenig existieren.

Er nahm an seinem Schreibtisch Platz, öffnete die unterste Schublade und langte nach einem Bündel Akten. Er schob das Bündel vor sich auf den Tisch. Unter der Packschnur ein Zettel mit dem Vermerk »Patrick Kramer«. Direkt neben den Akten lag eine schlichte Genesungskarte, die er von einer Bibliothekarin erhalten hatte. Zusammen mit den Genesungswünschen fanden sich darin zwei Buchtipps und ihre private Telefonnummer. Jasmin, die einen blassen Leberfleck vor ihrem rechten Ohr hatte. Jasmin, die ihn zu einem Drink verleitet hatte. Jasmin, deren Name auf keiner Akte geschrieben stand.

Der Abend war noch jung. Sollte er in seiner Vergangenheit wühlen oder in eine ihm fremde Welt treten? Sollte er die alten Geister willkommen heißen oder das Ungewisse riskieren? Henry betrachtete erst die Akten, dann die Telefonnummer, schaute aus dem Fenster, entschied sich und griff zu