Es war ein milder Abend. Die Stadt glänzte, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Fein gemacht stiegen die Leute aus den Wagen, die Herren mit Zylinderhüten, die Damen in festlichen Abendroben, mit kunstvollen Fächern, Federboas. Sie alle kamen zur Eröffnung des Großen Schauspielhauses.

James stand am Rand der Freitreppe und wartete auf Emilie.

Ludwig und sie hausten noch immer bei Borchardts Bruder, und irgendwann hatte es angefangen, dass er mit ihr ins Theater ging. Es war Agnes’ Vorschlag gewesen, die sich immer häufiger unwohl fühlte und die Ohrringe, die sie bereits angelegt hatte, wieder zurück in die Schatulle gab. Frag doch Emilie, ob sie dich begleiten möchte, und das tat er dann.

Agnes war noch immer in Jena, doch seit einigen Tagen ging es ihr schlecht. Ein Rückfall, so nannte man das wohl. Erst gestern hatte Martha geschrieben und ihre Zeilen hatten besorgt geklungen. Sie halte es für angeraten, dass Agnes ihren Aufenthalt etwas früher als geplant beende. Dr. Grünbaum solle sie sich anschauen.

»Du bist die schönste Frau hier, die ich sehe«, begrüßte er sie.

»Danke«, sagte sie und errötete leicht. »Und danke für die Einladung.«

»Ist dein Ludwig nicht eifersüchtig?«

»Der?«

»Was machte er heute Abend?«

»Was wohl? Er sitzt in dieser Kaschemme am Schöneberger Ufer, wo er sich mit seinen Kollegen trifft. Es ist wie eine Hafenbar, in der Matrosen die Zeit totschlagen, bis sie wieder in See stechen können.«

Er lachte. Borchardts Situation war allerdings nicht zum Lachen. Seit Jahren wartete er darauf, nach Ägypten zurückzukehren, um dort seine Grabungen wieder aufzunehmen. Zwischenzeitlich hatte er angefangen, eine Baugeschichte des Alten Ägypten zu schreiben, aber das Vorhaben kam nicht recht voran. Emilie klagte häufig, wie übellaunig er sich benahm. Natürlich genoss sie Abende wie diesen, endlich kam sie mal raus.

Zwischen den Grüppchen kam jemand auf sie zu. Es war Grosz.

»Hallo, das ist aber eine schöne Überraschung«, sagte er und küsste Emilie die Hand.

»James, ich gratuliere dir zu deiner Begleitung.«

Und zu Emilie sagte er: »Falls wir uns nicht mehr sehen, grüßen Sie mir bitte Ihren Mann.«

Das Gemurmel verstummte.

James saß neben Emilie und dachte an die Begegnung mit Grosz, vorhin auf der Treppe. Dieser Seitenblick, den Grosz ihm zugeworfen hatte, während er zu Emilie sagte: »Grüßen Sie mir Ihren Mann.« Er hatte die Botschaft genau verstanden. Vor zwei Tagen hatte Grosz ihm einen Kontakt in den Louvre vermittelt, zu einem Monsieur Dupoint, den brauchte er nur anzuschreiben.

Tatsächlich fand James Grosz’ Vorschlag gar nicht mehr so aberwitzig. Aber so einfach, wie Grosz sich das vorstellte, war das nicht. Für ihn hing so viel an dieser Königin, und er wollte, dass sie in Berlin blieb.

Auf jeden Fall hatte Grosz’ Vorstoß ihn wachgerüttelt. Es konnte nicht auf ewig so weitergehen, dass die Büste im Depot blieb. Sie gehörte in die Ausstellung. Er musste Borchardt davon überzeugen, die Frage war nur, wie.

Er sah zu Emilie, die aufmerksam den Versen horchte. Sie hatte Parfüm aufgelegt, nur einen Hauch. Vielleicht sollte ich sie um Rat fragen, dachte er.

 

In der Pause herrschte aufgekratzte Stimmung. Es wurde viel gelacht, alle stießen auf den Neuanfang an. Wieder

Die Zeit der Romane sei vorbei, zitierte sie ihn, und sie wusste zu berichten, dass er an einem Essay über die Lage der Juden in Deutschland schrieb. Grosz wollte sofort mehr darüber wissen, denn antisemitische Angriffe hatte auch er als Anwalt zu erleiden, und so sprachen sie bis zum dritten Klingeln über Der doppelte Spiegel, so der geplante Titel von Georg Hermanns Buch.

Eilig begaben sie sich wieder auf ihre Plätze, für den zweiten Teil des Dramas.

Ein wenig benommen von den gewaltigen Versen traten sie zwei Stunden später ins Freie, wo anders als in Aischylos’ Orestie die Rachegötter nicht verstummen wollten. Ein Freikorps zog gerade durch die Straße und brüllte: »Tod den Sozialisten!« Als der Radau vorbei war, fragte James seine Begleiterin, ob er sie noch auf ein Glas Wein einladen dürfe.

 

Im Café Victoria wurde gerade ein Tisch frei. Zum Glück, denn Friedländers hatten ihnen schon zugewinkt und angeboten, dass sie sich zu ihnen setzten.

»Emilie, ich möchte mit dir reden.«

Sie sah ihn an, ein wenig erschrocken.

»Geht es um Agnes?«

»Nein«, sagte er. »Um deinen Mann.«

Er nahm einen Schluck Wein und überlegte, wie er anfangen sollte. Seit Jahren verweigerte Borchardt jedes

»Pass auf«, sagte er, fast verschwörerisch leise, und nahm ihre Hand. »Es geht um die Königin.«

»Bitte, James. Lass mich damit in Ruhe.«

Sie zog ihre Hand zurück.

»Emilie, bitte. Hör mir einfach zu. Ich habe niemanden, dem ich meine Lage erklären kann. Du bist die Einzige. Die Königin steht seit fast acht Jahren im Depot. Heute wurde das Schauspielhaus eröffnet, das Leben beginnt wieder. Sie muss ans Licht, sonst wirft man uns irgendwann noch dunkle Machenschaften vor. Ich muss etwas unternehmen, und ich möchte das ungern ohne Ludwigs Einverständnis tun. Verstehst du?«

Sie seufzte.

»Ich habe schon ein paar Mal versucht, das Gespräch darauf zu lenken. Aber Ludwig reagiert jedes Mal so panisch, als würde ich ein Furunkel anstechen.«

»Ich weiß. Aber meinst du, das ist bei mir anders?«

»Vielleicht kannst du bei ihm vorfühlen.«

»Vorfühlen?«

Emilie schaute ihn entgeistert an.

»Du bist seine Frau.«

»Ja, eben. Ich leide unter seiner Laune am meisten.«

»Gut, also euren Haussegen sollst du deswegen nicht gefährden.«

»Ach, James …«

Emilie wirkte auf einmal sehr traurig.

Dann sah sie ihn an.

»Emilie, danke.«

Wieder nahm er ihre Hand. Diesmal ließ sie ihn gewähren.

Als wäre Emilie kurz woanders gewesen und wieder aufgewacht, fragte sie plötzlich, ob sie sich nicht noch zu Friedländers setzen wollten. Sie wirkte auf einmal ganz aufgeräumt und fing gleich an zu plaudern. Frau Friedländer wollte wissen, ob sie mit ihren Kontakten nach Ägypten eine Ahnung habe, wo man Mumienpulver beziehen könne, das solle ein wirksames Mittel gegen Rheuma sein. Da konnte Emilie ihr bedauerlicherweise nicht weiterhelfen. Herr Friedländer beugte sich zu James und erklärte, er wisse aus sicherer Quelle, dass die Briten noch vor Jahresende die Handelsblockade aufheben würden, dann sei das Schlimmste überstanden. Ja, ja, sagte James. Er wollte zahlen.

»Herr Simon?«

»Frau Schneider!«

Er hatte sie gar nicht erkannt, unter dem Zylinderhut.

»Sie wollen doch nicht schon gehen!«

Friedländers verabschiedeten sich.

»Das dürfen Sie mir nicht antun«, sagte Frau Schneider. »Bitte, kommen Sie noch zu uns an den Tisch, nur kurz. Heute ist mein Geburtstag. Ihre Begleitung hat sicher nichts dagegen, nicht wahr?«

»Herzlichen Glückwunsch!«

Schon saßen sie in der Runde ausgelassener Frauen. Eine von ihnen, dem Gespräch nach eine Schaffnerin,

Frau Schneider bestellte eine weitere Runde, und dann ereignete sich etwas, womit er niemals gerechnet hätte. Frau Schneider hielt eine Rede auf ihn: »Lieber Herr Simon«, sagte sie und hob das Glas, »ich hatte nie die Gelegenheit, Ihnen das zu sagen. Aber heute ist mein Geburtstag, und ich traue mich. Im Haus Kinderschutz, das Sie geschaffen haben, haben so viele Kinder Rettung gefunden. Viele von ihnen führen dank Ihrer Hilfe nun ein selbstbestimmtes Leben. Herr Simon, das ist ein großes Geschenk.«

»Das ist so wundervoll«, rief Emilie ihm ins Ohr, während die Frauen jubelten, »aber warum hast du nie davon erzählt?«

In dem Lokal verstand man kaum noch ein Wort.

Er nickte und rückte noch ein Stück näher an Emilie heran.

»Kannst du dir vorstellen, dass ich mir als Kind immer gewünscht habe, ich wäre arm?«, sagte Emilie, erhitzt vom Alkohol, den Mund ganz nah an seinem Ohr. »Die armen Kinder durften so viel. Sie durften auf der Straße spielen. Ich musste immer Klavier üben.«

»Ich habe mich als Junge auch lieber bei den Arbeitern im Stofflager herumgetrieben.«

»Wirklich?«

»Da gab’s Stullen. Bei meinem Vater eins mit dem Stock.«

Emilie lachte.

Und wenn sie ihn fand?

»Ich glaube, wir sollten langsam gehen.«

»Wenn wir wüssten, was noch alles wird«, sagte Emilie, als sie wieder auf der Straße waren.

Sie standen einfach da, während wenige Schritte vor ihnen ein Mann abgeführt wurde. Ein Kommunist, als solchen beschimpften ihn die beiden Uniformierten.

Ihm fiel nichts ein, was er Emilie sagen sollte, außer Plattitüden, aber warum etwas sagen, das war nicht wichtig, er und sie, sie hatten einander, gaben sich Halt, er ihr und sie ihm, und alles, die Lichter, die aufgeladene Stimmung in den Straßen, die Euphorie dieser Nacht, wurde eins, und dann umarmte er sie.

Er sah dem Taxi noch lange nach, in dem sie nach Hause fuhr.

 

In den Tagen danach war James guter Stimmung. Er wunderte sich selbst darüber, denn außer dass er Emilie ins Vertrauen gezogen hatte, hatte sich nichts verändert. Ob sie etwas zuwege brächte, musste man sehen. Offenbar war der Druck doch größer gewesen als von ihm angenommen. Das zumindest genügte ihm als Erklärung für seinen seltsamen Überschwang, und so beschäftigte ihn

Alles würde gut werden. Es war, als hätte sich ein Pfropfen gelöst, und Borchardt würde das sicher genauso empfinden. Was für eine Erlösung, wenn sie erst wieder miteinander reden würden!

Borchardt hatte seit dem Fund der Königin wahrhaft viel durchgemacht. Angefangen hatte es mit dem neuen Direktor des Service des Antiquités. Pierre Lacau hieß er, und Borchardt beschrieb ihn von Beginn an als einen missgünstigen, knausrigen Mann. Man hatte ihn zwangsweise aus Paris nach Kairo versetzt. Zu allem Unglück war er ein Revanchist, einer von denen, die meinten, ein Leben lang Rache für Sedan üben zu müssen.

Das bekamen die deutschen Archäologen auch gleich zu spüren. Der Krieg hatte noch kaum begonnen, da veranlasste Lacau, dass Borchardt und seine Kollegen unter dem Vorwand des Spionageverdachts ausgewiesen wurden. Er selbst schiffte sich gleich darauf nach Frankreich ein. Möglichst viele boches abknallen – das schien Lacaus Devise zu sein.

1915 reiste Lacau zurück nach Kairo, und was war seine erste Anordnung? Er ließ das Grabungshaus sprengen, das Borchardt in Theben als Herberge für Archäologen aus der ganzen Welt gebaut hatte. So wurde es zumindest berichtet. »Ich bin natürlich selbst schuld«, kommentierte Borchardt bitter, »warum habe ich es auch Deutsches Haus getauft?«

Im Jahr darauf wurde die Villa der Borchardts auf der Insel Gesireh beschlagnahmt, einschließlich des benachbarten Forschungsinstituts.

Und dennoch schien das nicht alles zu sein. Möglicherweise machte Borchardt noch etwas anderes zu schaffen, das weniger leicht zu greifen war. James wusste nicht, woran genau er seine Ahnung festmachte, aber er spürte, dass Borchardt ein Stachel im Fleisch saß. Und der hatte, wenn er richtiglag, nichts mit Lacau und dessen offenkundiger Feindseligkeit zu tun, sondern mit Gaston Maspero. Dreißig Jahre war Maspero Direktor der Altertümerverwaltung gewesen, davor Leiter des Kairoer Museums. Borchardt verdankte seinen gesamten Werdegang in Ägypten Maspero. Und dieser Mann, dessen Aufgeschlossenheit gegenüber Wissenschaftlern aus anderen Ländern den französischen Nationalisten noch nie geschmeckt hatte, sah sich zunehmend mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert. Ihm seien gegen Ende seiner Amtszeit bei den Fundteilungen schwere Fehler unterlaufen, hieß es über ihn. Er sei nachlässig gewesen. Aus Freundschaft gar?

Allein diese Möglichkeit, dass irgendwer sich zu einer Mutmaßung veranlasst sehen könnte, musste den aufrechten Borchardt in Qualen stürzen. James war sich fast sicher, das war der eigentliche, der verborgene Grund, warum Borchardt sich scheute, die Königin öffentlich zu zeigen. Er hatte Angst vor dem Gift des Neids. Aber das half nicht weiter, im Gegenteil. Denn wie ein arabisches Sprichwort sagte, das Koldewey in einer Sitzung einmal

Es spielte auch keine Rolle, dass Borchardts Befürchtungen objektiv gesehen kaum nachvollziehbar schienen. Da war zum Beispiel Borchardts Kollege Hermann Junker, der die großartige Statue des Hemiunu in das Museum seiner Heimatstadt Hildesheim gebracht hatte. Dieser Wesir aus dem Alten Reich hatte vermutlich den Bau der Cheopspyramide verantwortet. Sein überlebensgroßes Bildnis überwältigte in seiner Archaik, und es gab kein zweites dieser Art. Es war Kairo entgangen, und nichts war geschehen.

 

Eine knappe Woche war seit dem Theaterabend vergangen. James las gerade Marthas letzten Brief, in dem sie noch einmal bestätigte, dass Agnes die Rückfahrt allein antreten wollte. Da klopfte Therese und teilte ihm mit, Emilie Borchardt bitte darum, ihn zu sprechen.

»Ist sie hier?«

»Ich habe sie hereingebeten. Sie wartet im Salon.«

»Sagen Sie ihr bitte, ich komme gleich.«

Er ging noch kurz ins Badezimmer, um sich wenigstens eine Schleife umzubinden. Es erstaunte ihn, dass Emilie ihn persönlich sprechen wollte. In zwei Tagen, an Güterbocks Geburtstag, hätte er Borchardt ohnehin getroffen. Offenbar wollte sie ihm selbst von ihrem Erfolg berichten. Er freute sich über dieses Zeichen ihrer Verbundenheit, und so zog er auch noch ein frisches Hemd an. Der Kampf mit den Manschettenknöpfen war gewonnen, die Schleife gebunden, und dann zupfte er

Die Hand am Geländer ging er nach unten. Wie verzückt sie gewesen war bei ihrem ersten Besuch, als frisch verheiratete Frau des in seine Abenteuer verliebten Borchardt, von den Raumfluchten dieser Villa, den Kunstwerken, dem Flair einer stabilen Existenz.

Im Salon erwartete ihn eine vollkommen aufgelöste Emilie.

»Emilie? Was ist denn passiert?«

»Entschuldige, dass ich unangemeldet komme.«

»Bitte, setz dich doch.«

»Danke, James.«

Das einzige Helle an ihr war der Ehering.

»Es geht um Ludwig.«

»Ist ihm etwas zugestoßen?«

Sie schüttelte den Kopf, um das zu verneinen, und gleichzeitig wohl auch, um ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen.

»Hast du mit ihm gesprochen?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»James«, sagte sie und sah ihn an, »es ist alles zu Ende. Kairo wird die Grabungskonzession für Amarna an die Britische Grabungsgesellschaft vergeben.«

»Was sagst du?«

»Kairo vergibt die Grabungskonzession an die Egypt Exploration Society.«

»Das kann nicht sein, Emilie.«

Sie kämpfte mit den Tränen.

»Emilie«, redete er auf sie ein und bemühte sich um einen beschwichtigenden Ton. »So einfach geht das nicht. Die Grabungslizenzen wurden zu Beginn des Krieges nur eingefroren. Die Lizenz für Tell el-Amarna läuft noch immer auf meinen Namen.«

Er hatte das gesagt, um Emilie zu beruhigen. In Wahrheit war an diese Verabredungen niemand mehr gebunden. Lacau konnte sich darüber hinwegsetzen. Er konnte alles, wie schon mehrfach bewiesen.

»Wenn Ludwig nicht wieder nach Amarna kann …«

Mehr brachte sie nicht heraus, nur noch Tränen.

Letztlich war mit so etwas zu rechnen gewesen. Weder Frankreich noch Großbritannien wollten nach diesem Krieg mit Deutschland noch viel zu tun haben. Und beide Länder bestimmten nach wie vor in Ägypten die Politik. Warum sollten sie eine so prominente Ausgrabungsstätte wie Tell el-Amarna einem deutschen Forscher überlassen?

Er ging zu Emilie und strich ihr über den Rücken. Sie weinte und weinte. Er reichte ihr sein Taschentuch, und sie nahm es an.

»Ich bestelle uns einen Tee.«

Sie nickte.

Leise ging er hinaus. Im Flur war es kühl, und er atmete tief durch. Natürlich weinte Emilie nicht nur

Als er zurückkam, ließ Emilie das Taschentuch im Ärmel verschwinden.

»Therese wird den Tee gleich bringen«, sagte er.

»Entschuldige, James.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

»Von mir aus sollen sie unsere Villa auf Gesireh einkassieren. Sollen sie alles behalten. Nur nicht Amarna. Amarna, das ist für Ludwig … Er kennt dort jeden Stein. Er hat die ganze Stadt vermessen, jeden Grundriss aufgenommen und in seinen Plan eingezeichnet. Die Oberpriesterstraße. Er war es, der sie so genannt hat. Er gräbt sie jedes Jahr ein Stück weiter aus, Zentimeter um Zentimeter. Er wollte dort noch so vieles finden.«

»Er hat dort schon einiges gefunden«, sagte er.

Aber das wollte sie nicht hören.

»Du kennst ihn«, sagte sie. »Er gibt nichts auf, das er einmal begonnen hat. Wenn sie ihn wenigstens die Oberpriesterstraße fertig ausgraben lassen. Das können sie doch nicht machen. Das ist grausam.«

»Warten wir erst einmal ab. Erst müssen sie mir die Grabungslizenz entziehen, vorher können sie sie nicht neu vergeben.«

»Es wird so kommen. Du wirst sehen.«

Sie tat ihm leid. Er hätte gern bessere Argumente angeführt, um sie aufzumuntern.

»Mir kommt es vor, als würden sie an Ludwig ein Exempel statuieren. Erst die Sprengung des Grabungshauses, dann beschlagnahmen sie sein

Therese brachte den Tee. Er reichte Emilie den Zucker. Die Tasse klingelte, während sie umrührte. Sie geriet mit dem Finger an das Porzellan und zuckte zurück. Vorsichtig hob sie die Tasse und pustete über die heiße Fläche. Der Dampf entspannte ihre Züge.

Sie bemerkte seinen Blick.

»Sie wissen überhaupt nicht, was sie an Ludwig haben. Ohne ihn wäre Amarna längst geplündert worden – und sie bestrafen ihn. Er rettet ihnen diese Stadt. Er entwendet doch nichts.«

»Hm.«

»Siehst du das etwa anders?«

»Ich denke an die Königin.«

»Denkst du immer nur an die Königin?«

»Man muss davon ausgehen, dass Lacau von ihr weiß.«

Er sah Emilie an.

Sie schwieg.

Angesichts dieser neuen Wendung war es undenkbar, dass Emilie mit Borchardt in Ruhe redete und ihn möglicherweise von seiner sturen Haltung abbrachte. Das schied hiermit aus. Andererseits machte diese neue Eskalation deutlich, dass die Königin sie immer mehr in Bedrängnis brachte und es kein Entkommen gab, weder für Borchardt noch für ihn.

Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

»Ich sage dir jetzt etwas, was ich eigentlich für mich behalten wollte. Grosz, du weißt schon, den wir im Theater getroffen haben …«

»Er hat mir kürzlich einen Vorschlag gemacht. Eigentlich hatte ich mich wegen etwas anderem an ihn gewendet. Ich hatte in einer Finanzierungsfrage seinen Rat gesucht. Er ist ein hervorragender Wirtschaftsanwalt.« Emilie sollte nicht wieder annehmen, dass er immer nur an die Königin dachte. »Er brachte die Idee auf, ich könnte die Königin an den Louvre verkaufen.«

»Was?«

Emilies Stimme überschlug sich fast.

»Keine Angst. Ich habe das nicht vor. Aber …«

Er setzte sich wieder zu ihr.

»Es ist mir ernst, wir müssen eine Lösung finden. Entweder wir stellen sie in Berlin aus …«

»Nein! Nicht jetzt! Dann ist die Grabungslizenz garantiert verloren.«

»… oder ich gebe sie an den Louvre.«

»Nein!«

»Nein? Vielleicht ist die Idee gar nicht so schlecht. Dann lassen die Franzosen deinen Ludwig wieder graben. Wenn ich ihnen das als Bedingung stelle, dann …«

Es riss ihn erneut aus seinem Sessel.

»Was willst du von mir?«, fragte er, schroffer als beabsichtigt. Vorbei an der Pendeluhr, vorbei an dem Blumenbouquet von van Husum, lief er wie ein Getriebener durchs Zimmer. »Sag mir, was soll ich machen?«

»Bitte, James …«

Sie war blass, starrte auf den Boden.

»Ludwig ist vollkommen verzweifelt.«

Er ging schneller.

»Ich bin gekommen, weil …«

Er wollte nichts mehr hören.

»Weil das auch dich angeht, James. Weil ich dir vertraue. Darum bin ich gekommen.«

Wie sollte er ihr böse sein? Er setzte sich wieder zu ihr.

»Verzeih mir, Emilie. Ich habe überspannt reagiert. Es tut mir leid.«

»Ach, James.«

»Emilie, sag mir nur eines: Willst du mit deinem Mann wieder nach Ägypten? Willst du das?«

Sie sah auf ihre Hände, die sich in ihrem Schoß verkrampften, sich ineinanderkrallten, als suchten sie etwas, um sich festhalten. Aber da war nichts, das ihr Halt geben konnte, nichts außerhalb von ihr selbst.

»Ja«, sagte sie, leise und gleichzeitig bestimmt.

»Dann will ich alles dafür tun, um euch zu helfen.«

»James, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

Als Emilie fort war, riss er sich die Schleife weg.

 

Die Scham begleitete ihn überallhin. Wenn er im Salon saß und die Zeitung aufschlug, bleckten ihn die Folgen der Konferenz von Locarno an, aber mit seinen Gedanken war er nicht in Schlesien, das über seine Zugehörigkeit nun selbst bestimmen sollte, oder in Elsass-Lothringen, das jetzt französisch war; er war bei Emilie, die genau hier gesessen hatte, in dem Sessel, in dem sonst Agnes saß, und die er so harsch behandelt hatte. Dabei

 

Er blieb nun jeden Abend als Letzter in der Firma, so lang, bis seine Augen ihn zum Aufgeben zwangen. Die wirtschaftliche Lage war mittlerweile katastrophal. Die Entente transportierte weiter massenweise Industriemaschinen aus Deutschland ab. Zurück blieben ausgeweidete Fabriken. Kapital floss ab. Die Währung brach ein, so dass er auf dem Weltmarkt kaum mehr einkaufen konnte. Seine Bank ließ sich die Erhöhung des Kontokorrentkredits teuer bezahlen.

Am Abend vor Agnes’ Rückkehr trug er Therese auf, trotz des Spargebots zu heizen. Die Verabredung mit Grosz zum Musizieren hatte er abgesagt, denn er wollte allein sein.

Bis tief in die Nacht saß er in seinem Arbeitszimmer und studierte die Kontoauszüge, die jede Woche tiefer ins Minus reichten. Immer wieder wanderte sein Blick zu dem leeren Viereck, das sein Vermeer auf der roten Seidenbespannung hinterlassen hatte. Wenn er wieder einmal etwas zu verkaufen habe, jederzeit gern, hatte Herr Haberstock gesagt, bevor er gegangen war, mit federndem Schritt, wie einer, der wusste, er würde wiederkehren.

Wo sie nun wohl waren, die Magd und ihre Dame? Er rief sich ihre Gesichter in Erinnerung, in denen er so oft

Er blickte auf die Stelle auf seinem Schreibtisch, wo sie gestanden hatte, damals, bei der ersten Begegnung mit ihr, und er schob die Kontoauszüge weg und versuchte, sie sich zu vergegenwärtigen. Als müsste etwas von ihr in diesem Zimmer geblieben sein, wie der Duft eines Parfüms, wenn eine Frau schon lange gegangen war, suchte er nach allem, was von ihr noch in seinen Sinnen war. Ihre Schönheit, die Milde, welche die Strenge ihres edlen Gesichts untergrub. Den Zauber, als er sie endlich zu sehen bekommen hatte. So viel war seither geschehen. Und dann dachte er an Agnes, der es schlecht ging.

Ihm war sehr bang.

 

Als Agnes am nächsten Mittag ankam, erkannte er sie kaum wieder. Ihr Gesicht spannte über dem Schädel. Die beiden Aussparungen im Knochen waren auffälliger als die fiebrigen Augen, der eckige Kiefer, das Nasenbein. Er traute sich gar nicht, sie in den Arm zu nehmen. Sie wollte das auch nicht. Sofort ausgehen wollte sie. In ein Restaurant. Ins Theater.

»Ich ziehe mich nur um«, sagte sie.

 

Der Arzt blieb lang. Mit jeder Minute, die der Zeiger der Kaminuhr weiterrückte, wurde James’ Atem ruhiger, wurden seine Arme auf der Lehne schwerer, und sein Blick verlor sich auf dem runden Tischchen mit den Intarsien, das in dem Kabinett stand, seit er denken konnte. Wie als Kind zählte er die hellen und die dunklen Rhomben, die einen Stern ergaben oder einen Kompass, und wie als Kind kam er immer wieder auf ein anderes Ergebnis. Hier hatte seine Großmutter mit ihrem Stickzeug gesessen und dem kleinen James Geschichten erzählt, von Tieren, die sich in Menschen verwandeln, und von Menschen, die zu Tieren werden. Er hörte noch immer ihre warme, mit dem weichen Schlesisch vermählte Stimme. Aus Kirschbaum war der Tisch, und er hatte wirklich etwas von dem Kirschbaum im Garten seiner Großmutter in Posen, mit seinem mittigen Bein, das sich unten in alle Richtungen spreizte.

Agnes hatte sie gemocht, seine Großmutter Adolphine. In ihrer Gesellschaft hatte sie sich wohlgefühlt. Manchmal, im Sommer, hatten sie ein paar Tage bei Adolphine in Posen verbracht, und dort, weit weg von den Empfängen, den Einladungen, hatte Agnes sich hinausgewagt aus ihrem Käfig, ihrem ständigen Drang nach Geltung. Ganze Nachmittage hatten sie Kirschen entkernt, für Adolphine, und er hatte Agnes währenddessen von den Streichen erzählt, die er mit seinen Schwestern dort getrieben hatte, und von dem

Als Dr. Grünbaum herauskam, bat er James um ein Gespräch. Im Salon, außer Hörweite von Agnes, sprach er offen. Es sei doch keine chronische Entzündung, wie er lange gehofft habe, sondern Krebs.

»Wie lange hat sie noch zu leben?«

»Das weiß man nicht. Es kann sehr schnell gehen. Ich habe ihr ein Mittel gegeben, damit sie zur Ruhe kommt. Sie wird jetzt schlafen. Wenn etwas ist, rufen Sie mich sofort. Ansonsten werde ich morgen wieder nach ihr sehen.«

»Danke, Herr Dr. Grünbaum.«

»Sie dürfen mir glauben, ich hätte Ihnen gern etwas anderes gesagt.«

Es regnete, als er den Arzt zur Tür brachte. James wollte ihm einen Schirm borgen, was Dr. Grünbaum ablehnte, ebenso seinen Chauffeur.

»Ich bitte Sie, machen Sie sich keine Umstände.«

Als er Dr. Grünbaum verabschiedet hatte, war das Haus von einer eigenartigen Stille erfüllt, als würden die Möbel, die Bilder, als würde alles sich dezent zurückziehen, um in seiner Beständigkeit nicht grob zu wirken.

»Ich muss noch etwas Dringendes erledigen. Können Sie so lange bei ihr bleiben? Ich beeile mich auch.«

»Selbstverständlich, Herr Simon.«

Es regnete noch immer, als er durch die Straßen eilte, die leer waren und grau, und der Wind schnitt ihm ins Gesicht und der kalte Regen, aber das machte ihm nichts aus.

Als er die Arkaden vor dem Neuen Museum erreichte, klappte er den Schirm zu. Dann ging er hinein.

 

Lange war er nicht mehr hier gewesen. Gleich neben dem Foyer lag der erste ägyptische Saal. Wie ewige Wächter standen die großen Statuen auf ihren Podesten. Manchen fehlte ein Arm, anderen der Kopf, aber ihre Körper aus Granit schimmerten wie junge Haut. Zwischen ihnen entdeckte er in einer kleinen Vitrine den Kopf aus grünem Schiefer, er stellte einen hohen Beamten aus der Spätzeit dar und war einer seiner ersten Ankäufe für Adolf Erman gewesen. Ein paar Schritte weiter traf er auf die grazile Königin aus Eibenholz, die ohne jede Ermüdung, aufrecht wie am ersten Tag, die Sonnenscheibe auf dem Kopf trug.

Er betrachtete die kleine Figur, deren goldene Ohrringe vor dem dunkelbraunen Holz besonders warm glänzten, und auf einmal dachte er, der Beschenkte war

Er lief durch alle Räume, vorbei an den Prinzessinnenköpfen aus Amarna mit den langgezogenen Hinterköpfen, an den Reliefs mit den Naturszenen, die Borchardt aus dem Sonnenheiligtum in Abu Ghurab hergebracht hatte, doch vor ihnen blieb er nicht mehr stehen, er war wegen etwas anderem hier.

 

Auf direktem Weg ging er zu Herrn Schäfers Büro und klopfte an.

»Herr Simon! Was verschafft mir die Ehre?«, begrüßte der ihn.

Für jemanden, der sein Leben mit Altertümern verbrachte, kleidete sich Schäfer sehr modern. Er trug einen Anzug mit auffallendem Karo.

»Meine Frau ist sehr schwer krank.«

»Das tut mir leid.«

»Ich muss auch gleich wieder zu ihr.«

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Herr Schäfer …«

»Entschuldigen Sie, Herr Simon, ich habe Ihnen gar keinen Stuhl angeboten. Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Danke. Wissen Sie, ich habe viel nachgedacht in der letzten Zeit.«

»Ja, natürlich.«

»Die Königin bereitet mir große Sorgen.«

»Inwiefern?«

»Insgesamt.«

»Sie ist bei uns gut aufgehoben. Möchten Sie sie sehen? Es ist nicht weit zu gehen. Ich zeige Sie Ihnen gern.«

»Sie sehen?«

»Kommen Sie, Herr Simon. Ich zeige Sie Ihnen.«

Ehe James etwas sagen konnte, nahm Herr Schäfer aus der Schublade einen Schlüsselbund und stand auf. James folgte ihm.

»Der Speicherschrank befindet sich im Keller«, erklärte Herr Schäfer und führte ihn die Treppe hinab.

»Geben Sie acht bei den Stufen, das Licht ist nicht besonders gut.«

Gänge mit vielen Türen, so viele Räume wie oben befanden sich noch einmal hier unten. Aus dem Halbdunkel schälten sich Regale, in denen verschiedenste Objekte lagen. Überall standen Kisten herum.

»Sind das alles Fundstücke?«

Sie gingen durch eine weitere Tür.

»Da wären wir.«

In dem nüchternen Raum standen mehrere Eisenschränke. Schäfer suchte an dem Bund den richtigen Schlüssel heraus und öffnete eine der schweren Türen. Kisten unterschiedlicher Größe befanden sich darin. Rechts unten eine mit der Aufschrift »Amarna«. Der Direktor bückte sich. Er schob die anderen Gegenstände im Schrank zur Seite, um die Kiste besser anfassen zu können, und schob sich die Ärmel hoch. Der Saum seiner Hose wischte über den nicht sehr sauberen Boden.

»Wissen Sie, was, Herr Schäfer …«

»Moment, ich habe sie gleich.«

»Bitte, machen Sie sich meinetwegen nicht die Mühe. Lassen Sie uns wieder nach oben gehen.«

Sie schwiegen, während Herr Schäfer alle Türen nacheinander wieder gewissenhaft verschloss und sie durch die Gänge zurück zum Ausgang des Kellers gingen.

»Jetzt wissen Sie zumindest, wo sie ist«, sagte Schäfer, als sie die Treppe hochstiegen. »Irgendwann wird das hoffentlich auch ein Ende haben, und wir müssen nicht mehr für unser wertvollstes Stück in den Keller steigen.«

Oben angekommen, streckte Herr Schäfer ihm die Hand hin.

»Herr Simon, es war mir eine Freude …«

»Herr Schäfer …«

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Sagen Sie es nur, ich erfülle Ihnen gerne jeden Wunsch.«

»Ich möchte, dass diese wunderbaren Dinge, die Sie für mich aufbewahren … Ich möchte sie nicht länger in meinem Besitz haben. Hier ist ihr Ort, und es ist an der Zeit, dass sie dem Museum auch gehören. Darum bin ich gekommen. Ich möchte alle meine Leihgaben in eine Schenkung umwandeln.«

»Alle?«

»Ja, alle.«

»Wollen wir in mein Büro gehen?«

»Danke, Herr Schäfer. Aber Sie werden verstehen, ich möchte wieder zu meiner Frau. Bitte setzen Sie für mich den Schenkungsvertrag auf.«

 

Als James aus dem Museum trat, hatte es zu regnen aufgehört. Es roch nach Herbst. Vom Lustgarten aus sah er noch einmal den Giebel des Neuen Museums hervorragen, und er fühlte tiefen Frieden.