Endlich konnte er sitzen. Der Zaun zur Straße, sah er von seinem neuen Posten aus, hatte über den Winter rostige Stellen bekommen. Aber das brauchte ihn jetzt nicht mehr zu kümmern.

Er solle sich das gut überlegen, hatte Grosz ihm zu bedenken gegeben, ob er wirklich die Villa verkaufen und selbst als Mieter ins untere Stockwerk ziehen wolle. Du bist dann in deinem eigenen Haus nur mehr zahlender Gast und dem neuen Besitzer und seinen Launen ausgeliefert.

Er hatte gern jeden Morgen über den Tiergarten geblickt, über die Baumkronen, die um diese Jahreszeit, noch ohne Laub, in der Ferne zu lichtgrauem Gespinst verwischten. Das würde ihm fehlen. Dafür sah er nun den Weg, der sich zwischen den dunklen Stämmen in Richtung Luiseninsel einfädelte. Für seinen Spaziergang brauchte er nur noch über die Straße zu gehen.

Wenn er den Stuhl noch etwas weiter ans Fenster rückte, konnte er durchs Gartentor spähen. Gerade ging eine junge Dame mit einem verschleierten Hütchen vorbei. Na sowas, das war doch die Tochter von Friedländers.

Die Villa hatte sein Vater erbaut. Und so ging er mit dem Erbe um. Aber was hätte er machen sollen? Sich von seinen Kunstsammlungen zu trennen war ihm noch viel schwerer gefallen. Ein Stück nach dem anderen hatte er weggegeben, er hatte nicht die Wahl gehabt, und im letzten Herbst, als eine Taxifahrt am Morgen noch zwei Billionen kostete und am Mittag schon drei, verkaufte er alles, was er noch besaß, Gemälde, Skulpturen, ohne weiter zu zögern, ins Ausland. Das Einzige, was sie damals aus dem schneller und immer schneller sich drehenden Strudel retten konnte, der sie alle, Händler wie Fabrikanten, Arme wie Reiche, in die Tiefe riss, waren Devisen.

Gebrüder Simon konnte er auf diese Weise am Leben halten, und sein früheres Privatmuseum hatte ja seit heute wieder einen Bewohner. Der Umzug war keine große Sache gewesen. Der Einzige, den er angestrengt hatte, war er selbst, obwohl er nicht viel mehr gemacht hatte, als im Weg zu stehen.

 

»Wo soll das hin?«

Edi stand mit einer Holzkiste unterm Arm in der Zimmertür.

»Sagen Sie bloß, die war noch in der Kammer. Stellen Sie sie auf meinen Schreibtisch. Aber vorsichtig!«, rief er ihm noch nach.

Mit einem Mal war er wieder hellwach.

Edi kam, um sich zu verabschieden.

»Ich denke, das war’s«, sagte er, den Arm schon in der Jacke.

»Warten Sie.« James zog aus seiner Brieftasche einen Geldschein. »Für die Schlepperei.«

»Herr Simon, das nehme ich nicht an.«

»Ich bestehe darauf. Spendieren Sie Ihrer Frau was Schönes. Gleich um die Ecke, am Potsdamer Platz, gibt es ein neues Tanzlokal. Dort können Sie Ihre Erika mal ausführen.«

»Ich bitte Sie, Herr Simon.«

»Das sind nagelneue Rentenmark. Ich verspreche Ihnen, der Schein ist auch morgen noch was wert.«

»Vielen Dank«, sagte Edi.

Endlich nahm er den Schein.

Allein schon wegen Leuten wie Edi war es ein Glück, dass er Gebrüder Simon über die Runden gebracht hatte. Der war ein prima Chauffeur, kannte sich mit den Launen seines Benz aus und in Berlin sowieso, aber abgesehen davon hielt James ihn für eine rechte Pflaume. Eine neue Anstellung hätte Edi so schnell nicht gefunden.

 

Der gute Mann hatte die Kiste wie aufgetragen auf den Schreibtisch gestellt. James suchte in der Schublade den Brieföffner und fuhr damit unter den zugenagelten Deckel.

Da war sie schon, die blaue Krone. Er zupfte das Stroh

Vorsichtig hob er den Kopf heraus.

Jetzt brauchte er sie vor niemandem mehr zu verstecken. Demnächst eröffnete im Neuen Museum die neu präsentierte ägyptische Sammlung, mit der Königin. Nach zwölf Jahren! Dass er das noch erleben durfte. Zwischenzeitlich hatte er nicht mehr daran geglaubt.

Ganz selbstverständlich, als wäre nichts dabei, würde sie der neu gestalteten Ausstellung angehören.

 

Und genauso hatte er auch davon erfahren. Es war an einem Dienstag gewesen. Das wusste er noch genau, denn dienstags las er immer die Handelsberichte in den britischen Zeitungen.

Er saß also im Café Victoria und studierte im Manchester Guardian die Quotierung der Baumwolle an der Liverpooler Börse. Zwei Tische weiter nahm eine elegante Dame mit hauchdünnen Strümpfen und violetten Schuhen ihren Kaffee, deren schlanke, von Riemchen umschlossene Fesseln ihn weit mehr faszinierten als die eng gedruckten Zahlenkolonnen. Verschanzt hinter der Zeitung widmete er sich in aller Ausführlichkeit dieser Attraktion.

Von Zeit zu Zeit blätterte er um. Auf diese Weise kam er irgendwann zu den Vermischten Seiten, und dort traf ihn wie aus dem Nichts der strenge Blick einer Frau. Es war keine andere als seine Königin. Ihm wurde ganz anders, als er den Bericht daneben las. Das Neue Museum in Berlin werde demnächst einen noch nie ausgestellten

Aber dann sah er sich noch einmal das Foto an. Die Abbildung der Büste war grobkörnig, in Schwarz-Weiß. Ihre Umrisse, ihre Gesichtszüge waren gut zu erkennen, aber ohne die blaue Krone, ohne den farbenprächtigen Halsschmuck, ohne das Lippenrot zeigte die matte Abbildung auf dem billigen Zeitungspapier letztlich nicht mehr als eine Skulptur, wie es viele gab.

Er ließ die Zeitung sinken, um sie sogleich wieder hochzunehmen und sich noch einmal zu versichern, ja, das war sie, keine andere, und das Wiedersehen löste in ihm nun eine solche Erleichterung aus, eine solche Freude, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie die hübsche Frau ihren Kaffee gezahlt hatte und gegangen war.

Schäfer jubelte die Königin also der Welt unter.

Auf so eine Idee, diese Schönheit mit einem verwaschenen Bild einzuführen, musste man erst einmal kommen, dachte er, und ihm fiel die Geschichte des Königs ein, der sich als Bettler verkleidet unters Volk mischt, weil er unerkannt bleiben will.

Es konnte durchaus sein, dass Schäfer diesen Effekt gar nicht beabsichtigt hatte. Aber das spielte keine Rolle. Wenn die Königin sich auf diese Weise ins Bewusstsein einschlich, waren sie gerettet. Dann würde ihr tatsächlicher Auftritt nurmehr ein kleiner überfälliger Schritt sein.

James strich über das Foto. Der Zauber der ersten Begegnung stieg in ihm auf, sie auf seinem Schreibtisch,

Es war eine Sensation.

Aber nicht nur das. Der Ausgräber Howard Carter war nach seiner jahrelangen Suche so hoch verschuldet, dass er das Exklusivrecht an der Berichterstattung über die Öffnung der Totenstätte an die Londoner Times verkauft hatte. Zusammen mit den Archäologen und Arbeitern drangen Reporter ins Innere der Grabkammer vor, die bis oben hin vollgerammelt war mit Statuen, Möbeln, Schmuck, mit den großartigsten Kunstgegenständen. Die Fotografen schossen bewegende Fotos, auch von dem Mumienschrein aus massivem Gold. Weiter hielten sie mit ihren Kameras fest, wie der Schrein geöffnet wurde, und dann der Sarg. Ihre Blitzlichter kannten keinen Respekt, und die Welt verfolgte mit angehaltenem Atem das Spektakel.

Da konnte Schäfer in Berlin getrost die Büste einer Königin ausstellen.

 

James stellte die Kopie auf den Kaminsims. Zwei Wochen waren es noch bis zur Ausstellungseröffnung. Dank Schäfers Vorarbeit würde die Schöne die Dunkelheit abstreifen wie nebenbei, nonchalant, als glitte ihr der Mantel von der Schulter.

Und dennoch. Dieser Kopf war nicht seine Königin. Sie tat nur so. Er nahm ihr das Lächeln nicht ab, es wirkte aufgesetzt. Es fehlte das Hintergründige. Auch die Farben hatten nichts Subtiles. Aus diesem Werk sprach nicht die Hingabe des Künstlers, nicht seine Verehrung, nicht sein Blick auf diese Frau. Dieser Kopf aus Kunststein war eine gut gemachte Attrappe, weiter nichts. Diesem Exemplar hätte er auch gleich, dachte er, wie der Kopie für den Kaiser ein zweites Auge hinzufügen lassen können.

In dem Augenblick schepperte es ganz fürchterlich. Einer Ahnung folgend lief James in die Küche. Tatsächlich, dort stand Therese mit den Händen vorm Gesicht, der ganze Boden lag voller Scherben.

Als sie ihn bemerkte, zuckte sie zusammen.

»Die gute Terrine! Herr Simon, ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte. Wenn ich das nur wiedergutmachen könnte!«

»Aber Therese. Das ist doch kein Unglück.«

Sie bückte sich und begann, die Scherben einzusammeln. Während sie ihm den gebeugten Rücken mit den gekreuzten Schürzenbändern zuwendete, schniefte sie leise. Noch die winzigsten Splitter versuchte sie aufzuklauben.

»Therese, bitte, stehen Sie auf. Sie schneiden sich noch«, sagte er.

»Therese, weinen Sie nicht um die Terrine. Sie hat nur Platz weggenommen, und große Einladungen werde ich auch nicht mehr geben.«

Wahrscheinlich weinte sie auch gar nicht um die Terrine, dachte er da, sondern genau deshalb. Weil das Haus immer seltener mit Glanz und Leben erfüllt gewesen war, schon lange bevor Agnes krank wurde. Auch um Agnes weinte sie natürlich, die wenige Wochen nach Dr. Grünbaums Diagnose im Stockwerk über ihnen gestorben war. Und wer weiß, vielleicht weinte sie auch um ihn. In den letzten Jahren hatte er einiges wegstecken müssen.

Er ging zu ihr. Unter seinen Sohlen knirschte es.

Therese drehte sich weg. Die Küche wirkte so duster, so eng, verglichen mit dem lichten Obergeschoss. Daran änderte auch nichts, dass er den Herd für Therese hatte umsetzen lassen, weil es ihr Herd war, den sie kannte, und wahrscheinlich wollte sie auch deshalb keinen neuen, weil der Geld gekostet hätte. Das einzige Fenster zeigte auf das graue Pflaster im Hof, wo die Aschetonnen standen.

»Ich hätte mir für Sie eine freundlichere Aussicht gewünscht«, sagte er und zog den Vorhang zurecht.

»Das macht mir nichts aus.«

Er hätte ihr gern geholfen und auch ein paar der Scherben aufgehoben, die auf dem glatten Terrazzo bis unter den Eisschrank gesprungen waren. Aber das machten seine Knie nicht mehr mit.

Endlich erhob sie sich und kippte die Scherben in den Abfalleimer. Etwas umständlich nahm sie die Schürze ab, dann wischte sie sich in einer raschen Bewegung übers Gesicht und folgte ihm.

 

»Bitte«, sagte er und bat Therese in sein neues Arbeitszimmer, das mehr einem Möbellager glich. Auf dem Boden lagen Aktenbündel, der Teppich war voller Stroh. Beim Anblick der Kisten fiel ihm ein, dass er noch immer nicht Borchardts Schrift gelesen hatte. Etwa zeitgleich zu dem Artikel im Guardian hatte Schäfer Borchardt über die geplante Ausstellung in Kenntnis gesetzt, und da dieser dann ohnehin nichts mehr dagegen ausrichten konnte, lieferte er bald darauf pflichtschuldig seinen noch immer ausstehenden Bericht über die Königin. Porträts der Königin und so weiter, als James diesen Titel las, befielen ihn sogleich die schlimmsten Ahnungen. Wieso dieser Plural, Borchardt würde sich doch nicht schon wieder drücken, dachte er nur. Um sich das zu Gemüte zu führen, musste er einen guten Moment abwarten, an dem er sich gewappnet fühlte für was auch immer.

Nur, dieser gute Moment war nie gekommen, stattdessen hatte ihm die Inflation schlaflose Nächte bereitet, die Sorge um die Firma, darüber, wie alles weitergehen sollte. Er hoffte, der Umzug jetzt war eine Art Schlussstein.

Im Regal lagen ein Schraubenzieher und irgendwelche Arbeitshandschuhe, von Edi wohl.

»Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«

»Wer ist sie?«

»Eine dreitausend Jahre alte ägyptische Königin.«

Therese hob erschrocken die Hände. Die zerdepperte Terrine steckte ihr noch in den Knochen.

»Keine Sorge. Es ist nur eine Kopie.«

»Sie ist so schön. Das kann ich gar nicht glauben, Herr Simon.«

»Sie müssten erst die Echte sehen …«

»Ist die etwa anders?«

»Sie ist wie nicht von dieser Welt. Schön sind die Schönheiten des Aton. Die Schöne ist gekommen.«

Therese verstand offensichtlich kein Wort.

»Das ist ihr Name.«

»Hat sie in echt gelebt?«, fragte sie.

»Sicher. Man weiß recht viel von ihr. Sie wurde häufig abgebildet. Wie sie im Garten spaziert. Mit ihren Töchtern auf dem Schoß. Wie sie ihrem Gemahl den Arm reicht. Wie sie auf einem Streitwagen steht …«

»So was hat sie gemacht?«

»Offenbar. Ihre letzten Jahre geben den Wissenschaftlern Rätsel auf. Es kam wohl zu einem Umsturz. Dabei wurde alles zerstört. Sogar die Erinnerung an sie.«

»Und wieso gibt es dann noch diese Büste?«

»Sie stand in einem Bildhaueratelier. Dreitausend Jahre lang.«

»Und Sie sind der Prinz, der sie wachgeküsst hat?«

Therese sah ihn schelmisch an, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass sie auf Märchen nicht mehr reinfiel.

»Stimmt. Sie wollten dann auch hinfahren, war es nicht so?«

»Ja, genau.«

»Wir alle hätten Ihnen das so gegönnt.«

»Ja, das habe ich verpasst. Aber es war schon wichtig, dass ich mit Agnes nach Bad Kissingen zur Kur gefahren bin. Wissen Sie, manchmal denke ich, damals fing das bereits an mit ihrer Krankheit.«

»Ich kenne wirklich niemanden wie Sie.«

»Der sich seine Versäumnisse so gut schönreden kann?«

»Immer denken Sie nur an die anderen.«

»Das stimmt nicht. Ich habe schon auch in Luxus gelebt.«

»Wo Sie gerade das mit dem Luxus ansprechen …«

Therese sah ihn an und gleich wieder weg.

»Ich will sagen … Wenn …«

»Was wollen Sie mir sagen, Therese?«

»Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie sich meinetwegen was abknapsen. Wenn es eng wird, dann entlassen Sie eben Ihre alte Therese. Machen Sie sich meinetwegen keinen Kummer. Ich schlage mich schon durch.«

Deswegen war sie vorhin so aufgewühlt gewesen. Therese hatte Angst. Alle hatten sie Angst. Die Inflation war zwar fürs Erste gebannt. Wenn bald die neue Währung kam, die die Mark an den Dollar band, würde sie auch nicht mehr so schnell davongaloppieren. Nur die

Er nahm Thereses knochige Hand.

»Therese, Sie werden in meinem Haus immer Ihren Platz haben. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

Zu jeder Silbe schüttelte er ihre Hand.

Therese machte große Augen, solche Worte war sie nicht gewohnt.

»Ohne Sie, Therese, würde ich doch keinen einzigen Tag überstehen«, sagte er und griff noch fester diese nach wie vor kräftige Frauenhand. »Haben Sie im Ernst gedacht, ich könnte Sie fortschicken?«

Therese schüttelte zaghaft den Kopf, und als er sah, wie sich ihre Gesichtszüge entspannten, wusste er, dass sie genau das gedacht hatte. Sie wirkte wieder wie ein Mädchen.

»Ihre Königin ist schon sehr schön. Aber sie sieht mir nicht so aus, als würde sie sich für Sie am Markt nach Teltower Rübchen anstellen. Oder was meinen Sie?«

Therese kicherte. Das machte ihn ganz beschwingt.

»Wenn im Neuen Museum bald die Ausstellung eröffnet wird, mit der echten Königin, wollen Sie da nicht mitkommen?«

»Ich bin Ihre Haushälterin«, sagte sie und war auf einmal ganz entrüstet.

»Und deshalb sollen Sie nicht ins Museum gehen?«

 

Therese kam dann doch nicht mit. Aber in den Tagen bis dahin veranlasste James, dass die Aschetonnen einen

 

Wer ihn am Ende zur Eröffnung der Ausstellung begleitete, war Grosz, der zur verabredeten Uhrzeit in seinem Wagen vorfuhr.

»Nervös?«

»Ich freue mich! Ich kann dir gar nicht sagen, wie!«

So groß war seine Freude, dass er am Morgen zum ersten Mal seit dem Umzug wieder Geige gespielt hatte.

»Ist sie gut präsentiert?«

»Du, ich habe sie noch nicht gesehen. Ich lasse mich überraschen.«

»Hoffentlich fällst du nicht tot um«, sagte Grosz, nachdem er seinem Chauffeur das Ziel genannt hatte. Er trug nagelneue kalbslederne Handschuhe und sah wie immer sehr elegant aus.

»Ich habe schon anderes überlebt.«

»Das Museum soll nicht wiederzuerkennen sein. Keine Kulissenmalerei mehr. Kein Hokuspokus. Nüchtern. Hochmodern.«

»Weißt du, in meinem Alter erwarte ich gar nicht mehr, dass die Welt und ich noch zueinander passen«, sagte er und sah in den Verkehr, wo nur die elektrische Straßenbahn geradeaus fuhr. Fuhrwerke, Automobile, Fahrräder wechselten ständig die Spur.

»Bitte keine Witze darüber, an manchen Tagen fühle ich mich auch so.«

»Fesch siehst du aus mit deiner neuen Brille. Bist du aus eigenem Antrieb zum Optiker gegangen?«

»Helene ist mitgekommen.«

»Gute Tochter. Sag mal, und Borchardt? Hat er sich abgefunden, dass seine Königin aus ihrem Kellerverlies entlassen wird?«

»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist er froh, dass er wieder in Ägypten sein kann.«

»Du wahrscheinlich auch.«

James schwieg, und er dachte an Kairo, wo auf den Straßen angeblich noch viel weniger voranging als hier. Borchardt berichtete, dort herrsche im Verkehr noch nicht einmal Einigkeit über die Richtung. Dass die Königin jetzt in die Ausstellung kam, hatte er nicht gut aufgenommen. Seine Situation in Ägypten schilderte er weiterhin als fragil. Allerdings hatte Borchardt auch eine selbstquälerische Seite. Gegen allen Rat war er nach Amarna gefahren. Wie es ihm dort ergangen war, ließ sich nur vermuten. Borchardt hatte über diesen Aufenthalt auffallend wenig geschrieben, ganz so, als wäre ihm vor Kummer die Tinte verklumpt.

Doch, eines hatte er berichtet, dass der britische Grabungsleiter seine Einteilung in Planquadrate nutzte.

»Borchardts Antrittsbesuch bei Pierre Lacau scheint gar nicht so schlecht verlaufen zu sein«, sagte er zu Grosz. »Lacau empfing ihn wohl sehr freundlich.«

»Er hat Borchardt sogar angeboten, dass er weiter an dem Katalog für das Museum in Kairo arbeiten kann.«

»Dann ist doch alles bestens.«

James ließ das so stehen. Er war es leid, Borchardt vor Grosz zu verteidigen. Grosz hielt Borchardt für egozentrisch, für jemanden, der um alles Wind machte, damit die anderen nach seiner Pfeife tanzen mussten. Aber so war Borchardt nicht. Vielmehr gab es gute Gründe, warum er dem Frieden nicht traute. Bei seiner Rückkehr nach Kairo hatte er die Räume seines Instituts beinahe verwüstet vorgefunden. Es gab Hinweise, dass Lacau schon dabei gewesen war, die Immobilie zu verkaufen.

»Eines jedenfalls steht fest«, sagte er zu Grosz. »Borchardt ist ein exzellenter Wissenschaftler. Und solange das etwas zählt, wird sich auch alles wieder einrenken.«

»Das wünschen wir uns alle, nicht wahr?«

Vor dem Brandenburger Tor standen irgendwelche Corpsstudenten und demonstrierten für die Freilassung dieses Münchener Putschisten. James war das nicht geheuer. So einen Brandstifter musste man ernst nehmen, wohingegen Grosz sagte, dass zu viel Aufmerksamkeit solchen Subjekten mehr Bedeutung verschaffte, als ihnen zustand. Eine schwierige Frage. Grosz und er lagen hier wie oft auseinander, wie damals bei dem Attentat auf Walther Rathenau. Während er den Trauerzug als ermutigendes Zeichen gewertet hatte, dass die Menschen zu ihrer Republik standen und sich zu diesem Staatsmann bekannten, hatte Grosz in der Tatsache, dass ein paar

Ab wann wurde aus einzelnen Ereignissen eine politische Bewegung? Oder war das schon falsch gedacht, weil ein Vorfall nie nur für sich, sondern immer auch für etwas Größeres stand, das sich im Verborgenen zusammenbraute?

Der Verkehr stockte. Sie kamen keinen Meter voran.

»Kannst du erkennen, was dort vorn los ist?«

»Es geht sicher gleich weiter.«

»Wir kommen noch zu spät.«

»James, wir haben noch fast eine halbe Stunde.«

»Auf meiner Uhr sind es noch zwanzig Minuten.«

»Sind wir vielleicht doch ein wenig nervös?«

 

Auf den ersten Blick wirkte das Museum wie immer, abgesehen von dem Trubel. Die Mitglieder der Kunstvereine, die zur Eröffnung der neuen Räume geladen waren, die Angehörigen der Akademie, Professoren, Privatgelehrte, Schöngeister jeglicher Couleur, sein Freund Güterbock natürlich und die meisten anderen aus der Orient-Gesellschaft drängten sich im Foyer.

Direktor Schäfer, zur Feier des Tages mit orangefarbenem Einstecktuch, begrüßte ihn überfreundlich.

»Die gesamte Presse ist da, auch aus dem Ausland. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich bin.«

Huldschinsky führte seine Tochter am Arm, vielmehr die Tochter ihn. Aus einer Gruppe Leute, die James nicht zuordnen konnte, nickte ihm der unvermeidliche

»Guten Tag, Herr … von Bode.«

»Guten Tag, Herr Simon«, sagte Bode und betonte jedes Wort.

Sie beide mussten neu lernen, einander zu begegnen. James das »von«, das ihm nicht über die Lippen wollte, und Bode, dass Herr Simon, obwohl Jude, eine Respektsperson war.

»Ich freue mich für Sie über diesen großen Moment«, sagte Bode.

Vor kurzem war Bode der Deutschnationalen Volkspartei beigetreten und gehörte nun also offiziell zum judenfeindlichen Lager.

»Danke, Herr von Bode. Zuspruch von Ihrer Seite weiß ich besonders zu schätzen.«

In dem Augenblick stürmte Heinrich heran. Wie es sich für einen guten Geschäftsmann gehörte, war er knapp dran. Seit bald zwei Jahren versuchte er sich als Juniorpartner. James hätte seinem Sohn für den Einstieg eine einfachere Zeit gewünscht.

»Schön, dass du es geschafft hast. Wie wir beide wissen, bist du heute Abend die eigentliche Hauptperson. Stimmt’s, mein Sohn?«

»Vater, ich bitte Sie. Darf ich Ihnen Lilli vorstellen?«

Ein blasses Wesen mit einer Vogelfeder auf dem Kopf trat hinter Heinrich hervor. Seine weiblichen Errungenschaften wurden immer jünger und immer dünner. Oder lag das an dem Kleid? Alle Frauen trugen jetzt solche Kleider, alle steckten in solchen schmalen Säcken. Crêpe

Im Geschiebe der Menge waren sie zum neu gestalteten Amarna-Hof vorgedrungen. Früher hatte ein gewaltiges Reliefband die Blicke nach oben gezogen, der Untergang Pompejis, aus der Sicht von Schievelbein. Nun war dort ein Glasdach eingezogen, das ein milchiges Licht verbreitete.

Viel mehr gab es nicht zu sehen. Die Wände waren tatsächlich einfach weiß. Um Genaueres zu erkennen, hielten sich in dem Saal auch zu viele Menschen auf. Vor allem dort, wo immer wieder kurz ein hoher kantiger Glassturz hervorragte, herrschte ein riesiges Gedränge.

Grosz war unauffindbar. Bei der Dichte an Mandanten konnte der hier wahrscheinlich einen halben Bürotag nebenbei erledigen. Heinrich war mit seiner Flamme ebenfalls verschwunden.

Alle zog es zu der einen Vitrine.

Das Murmeln lag drumherum wie eine Wolke.

So lange hatte er auf diesen Moment gewartet, und jetzt war er da. Wie man sie wohl beleuchtet hatte?

»Herr Simon?«

Ein hochgewachsener Herr mittleren Alters, helle Augen, Stutzer, trat an ihn heran.

»Arndt mein Name. Vom Tageblatt.«

»Angenehm.«

»Aber natürlich.«

»Das ist sehr freundlich«, sagte der Reporter und nahm Block und Stift zur Hand.

»Haben Sie sich die Büste denn schon angesehen?«, wollte James wissen.

»Ja. Herr Schäfer ermöglichte uns gestern einen Pressetermin. Ein Glück, bei dem Rummel heute muss man doch die ganze Zeit zu Boden schauen, damit einem niemand auf die Zehen tritt.«

James lachte.

Immer mehr Menschen scharten sich um die Vitrine. Die neu Hinzugekommenen reckten sich ungeduldig auf den Zehenspitzen. Aber die Vorderen wollten nicht weichen.

»Haben Sie mit so einem Andrang gerechnet?«, fragte der Reporter und wies auf die Menge.

»Das ist schon erstaunlich. Aber dass diese Schönheit niemanden kaltlassen würde, ja, damit habe ich gerechnet.«

»Herr Simon, Sie sind der Finanzier der Grabungen, die die Deutsche Orient-Gesellschaft in Tell el-Amarna durchgeführt hat. Erzählen Sie uns ein wenig darüber. Wo kommt diese Büste auf einmal her?«

»Nun …« Er überlegte kurz. »Ich möchte nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht. Die Büste kommt nicht auf einmal her. Wie Sie sich denken können, erfordert es sorgfältige Vorbereitung, ein solches Stück in eine Ausstellung einzugliedern. Ich gratuliere dem Direktor

»Ein paar Worte vielleicht zur Vorgeschichte?«

»Ich wüsste nicht, was ich darüber viel sagen soll. Jetzt ist sie hier. Und darüber bin ich sehr glücklich. Die ägyptische Sammlung lag mir immer besonders am Herzen. Und mit diesem Stück hat sie … Sie sehen ja selbst …«

Inzwischen hatten sich zwei Aufseher nach vorn gearbeitet und forderten einzelne Besucher auf, nicht zu lang vor der Vitrine zu verweilen.

»Übertrifft die ägyptische Sammlung Berlins mit dieser einzigartigen Büste nun die des Louvre?«

»Sie werden verstehen, dass ich mich nicht befugt sehe, dazu eine Aussage zu treffen.«

»Macht diese Büste Sie stolz?«

»Stolz? Sie macht mich glücklich.«

»Noch eine letzte Frage: Es kursieren Gerüchte, dass die Büste, die wir hier in der Vitrine sehen, gar nicht die echte ist.«

»Ach ja?«

»Manche behaupten, das Originalstück sei aus Sorge vor Reparationsforderungen Frankreichs im Depot gelassen worden. Können Sie dazu etwas sagen?«

»Ich würde sagen, das ist blanker Unsinn.«

 

Nach fünf mageren Jahren als Republik hatten die Berliner wieder eine Königin. Alle verehrten sie. Die Fachwelt stand kopf. Zeitschriften widmeten ihr eigene Nummern,

In Ägypten fiel die Reaktion anders aus. Wie von Borchardt vorausgesehen, stellte man dort Fragen. Wie, bitte, war Berlin zu dieser Büste gekommen? Und wie von Borchardt ebenfalls vorausgesehen, fand man darauf keine Antwort.

Stattdessen fingen ein paar Kollegen im Museum in Kairo an, Borchardt mit halb scherzhaften, halb bissigen Bemerkungen zu traktieren. Sag mal, sprachen sie ihn an, hatten die vom Service des Antiquités bei der Fundteilung Datteln auf den Augen? Oder, bei einer anderen Gelegenheit: Gib’s zu, vor der Fundteilung hast du deine bunte Königin mit Schlamm zugeschmiert.

Borchardt ließ das über sich ergehen, und da es bei den Sticheleien blieb und sie sich nicht zu Unterstellungen verdichteten, schien schließlich auch er mit der Königin seinen Frieden gemacht zu haben.

 

In der vorletzten Kiste wurde James fündig. Der 44. Band der Wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft lag gut versteckt unter Plutarchs Heiterkeit der Seele, ungelesen, so wie er aus der Leipziger Druckerei gekommen war. Das Bücherregal einzuräumen konnte warten, jetzt wollte er sich endlich Borchardts Schrift vornehmen, seinen Bericht über die Königin, wie er als ihr Ausgräber sie sah.

Draußen fiel leichter Regen, als James es sich in seinem Lesesessel bequem machte. Die Brille zu putzen war ihm inzwischen zum Tick geworden. So war das im Alter,

Borchardt begann mit den Weltereignissen, als Erklärung dafür, warum sein Bericht leider erst jetzt erscheinen könne.

So, so, die Weltereignisse, dachte er und sah in den Garten hinaus, wo es von den Rhododendren tropfte. Waren die also auch mal zu etwas gut.

Direkt im Anschluss überschüttete Borchardt ihn, James Simon, mit Dank. Grenzenlos sei seine Großzügigkeit, las James. Die Grabungen habe alle er bezahlt und die Funde den Museen geschenkt.

Schon gut, schon gut.

Er hatte die Hand schon an der Brille und konnte seinen Drang gerade noch bezwingen. Die Anschaffung hatte sich wirklich gelohnt. Mit den stärkeren Gläsern waren die Buchstaben gestochen scharf.

Doch kaum las er weiter, stutzte er. Borchardt nannte die Teilungsurkunde vom 20. Januar 1913 und ging noch einmal ausführlich darauf ein. Warum machte er das? Ein diffuses Unwohlsein beschlich ihn, bevor er begriff, dass Borchardt die Ausgewogenheit der Teilung herausstellen wollte. Offenbar war das sein oberstes Anliegen. Darum galt seine Schrift auch nicht der Königin, sondern den beiden Hauptfunden, die in der Urkunde den

Im Vorgarten glitzerten die nassen Grashalme. Eben noch Regen, jetzt Sonne.

Borchardt begann mit dem Klappaltar. Als würde er noch einmal dorthin zurückkehren, erzählte Borchardt, wie er und seine Arbeiter an einem heißen Dezembertag unter dem Schutt eines Hauses den Klappaltar bargen. Mit der Rückseite nach oben habe er dagelegen, zwischenzeitlich als Arbeitsunterlage zweckentfremdet, mutmaßte Borchardt und beschrieb dann die Reliefarbeit, die beim Umdrehen vollkommen unversehrt zum Vorschein gekommen war.

Der König und die Königin, die einander gegenübersitzen und ein Dreieck bilden zusammen mit der Sonnenscheibe, mittig platziert über ihnen. Ihre Strahlen zwingen das Bild in eine strenge Symmetrie, die allerdings gebrochen wird von den Prinzessinnen, die ihre Eltern auf Trab halten. Die Älteste hat von ihrem Vater gerade Ohrringe geschenkt bekommen und lässt ihre Schwester daran spielen, derweil die Jüngste auf Mutters Schoß sitzt.

Borchardt schilderte die Szene mit einer Einfühlung, als säße er mittendrin. In dem bescheidenen Ton hörte James wieder die Stimme des Mannes, der nur seiner Arbeit verpflichtet war, ohne davor oder dahinter. Das zu lesen war ihm die größte Freude.

Borchardt merkte den Eltern ihren Stolz an, der jüngsten Prinzessin ihre Ungeduld, er wusste über die Machart der Thronsessel Bescheid, und sogar das Gras

 

Eine Amsel hüpfte durchs Gras. James blätterte um.

Beschreiben nützt nichts. Ansehen.

James bekam Herzklopfen, denn das war die Lösung, und er putzte seine Brille.

Als Erstes beschwor Borchardt noch einmal den Mittag des 6. Dezembers 1912 herauf. Die Hitze, und dann, wie eine Fortsetzung der von der Sonne verursachten Taubheit der Sinne, ihre vollkommene Sprachlosigkeit, als die Büste aus dem Sand kam. Das Fehlen des Auges, das sie veranlasste, den gesamten bereits abtransportierten Schutt wieder herbeizuschaffen, um alles akribisch zu durchsieben.

Das Material der Augeneinlage war Bergkristall, wie Fachleute anhand des rechten, des vorhandenen Auges mittlerweile herausgefunden hatten, und die dahinterliegende Pupille, so vermutete man, bestand aus dunklem Holz.

Was Wissenschaftler an einem einzigen Gegenstand untersuchen konnten, erstaunte James immer wieder. Wieder einmal dachte er, wie anders Borchardt doch war als er. Ein Architekt, ein Systematiker, der sich ganz auf die technische Beschreibung der Büste beschränkte. Als wäre sie eine Truhe, ein Objekt wie jedes andere, das der Forscher unter die Lupe nahm.

Bei dem Klappaltar hatte Borchardt sich einen persönlicheren Ton erlaubt. Das fiel James auf, und da fragte er sich, ob Borchardt wirklich mit allem im Reinen war

Dieses Objekt also, las er, bestand aus weißem, etwas ins Graue gehenden, nicht sehr hartem Kalkstein mit stellenweisem Gipsüberzug. Der Hautton war durch fein verteilten Rötel und rosa gefärbtes Kalkspatpulver hergestellt worden. Das warme, tiefe Blau der Krone wiederum aus mit Kupferoxyd gefärbter, gepulverter Glasfritte. Das Gelb, das den ursprünglich aus Gold gefertigten Halsschmuck nachahmte, bestand aus Auripigment beziehungsweise Schwefelarsen, und das Schwarz der Lidumrahmung war Kohle, gebunden mit Bienenwachs.

Es gab auch eine Fußnote dazu, deren Schrift er allerdings selbst mit neuer Brille kaum entziffern konnte. In ihr stand, mit welcher Methode die Wissenschaftler das herausgefunden hatten. Sie hatten eine winzige Materialprobe erhitzt und anhand des Schmelzpunktes und des Geruchs das Bienenwachs ermittelt.

Sie maß 48 Zentimeter in der Höhe.

Nun, dafür brauchte man nur einen Zollstock anzulegen. Aber dann folgte etwas, das James interessant und zugleich ernüchternd fand: Die Suche nach der linken Augeneinlage schien deshalb erfolglos geblieben zu sein, weil es nach jüngeren Erkenntnissen nie eine gegeben hatte. Keine Reste eines Bindemittels, keine Leimspur, noch nicht einmal eine Aufrauung zur Vorbereitung einer Befestigung hatten die Wissenschaftler in der leeren Augenhöhle gefunden.

Auch wenn er sich das ungern zugab, war James ein wenig enttäuscht.

Aber dann, auf der letzten Seite, blinzelte der gute Borchardt doch noch hinter der Maske des unantastbaren Wissenschaftlers hervor. Er schrieb, die ägyptischen Bildhauer hätten so gut wie nie den Versuch unternommen, in den Gesichtern ihrer Kunstwerke irgendeine Gemütsbewegung oder überhaupt eine Bewegung zum Ausdruck zu bringen. Dieses Gesicht aber sei der Inbegriff von Ruhe und Ebenmaß.

Ruhe, die hatte Borchardt jetzt wirklich verdient.

Zufrieden schloss James das Heft.