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»Sach mal, Heike, wat is hier denn auf einmal los?« Thies staunt über den reich gedeckten Frühstückstisch.

»Wieso?«, fragt die Frau des Fredenbüller Polizeihauptmeisters mit gespielter Unschuldsmiene.

»Na ja, statt Sechskorn-Müsli auf einmal Sechskorn-Brötchen.« Thies beißt in das knusprige, mit Mettwurst vom Biohof Brodersen belegte Brötchen. »Jo, kann man essen.« Aus Thies’ Mund ist dies das höchste Kompliment.

»Dat is der neue Bäcker von Hansen in Schlütthörn, das heißt, dat is nich mehr Hansen, sondern jetzt … wie war das?« Heike überlegt. »Steuerbord? Nee … Backbord!«

»Fast besser als Hansen früher«, konstatiert Thies mit vollem Mund.

»Dein Brötchen, dat is ’n ›Blanker Hans‹, und dies hier heißt ›Kliffkante‹.« Heike hat die Produktpalette der »Küstenbäckerei Backbord« schon voll drauf.

Als sie grade ein weiteres Brötchen aus dem Korb nimmt, klingelt Thies’ Handy. Nicole ist dran. Im Hintergrund sind Imbissgeräusche aus der »Hidden Kist« zu hören.

»Wo bist du, Thies?«

»Wieso? Zuhause beim Frühstück.«

»Seit wann frühstückst du zuhause?«

»Ja, Heike hat Brötchen besorgt von diesem neuen Bäcker …« Weiter kommt er gar nicht. Die Kommissarin unterbricht ihn sofort.

»Bäcker ist ein gutes Stichwort. Thies, wir haben einen Toten, sieht aus wie ein Bäcker.«

»Mord?« Von einem Moment zum anderen fährt Leben in den Fredenbüller Polizeihauptmeister.

»Das werden wir uns vor Ort ansehen, deshalb rufe ich an.«

»Wo?«

»Bei Dossmann, da ist gerade die Sperrmüllabfuhr …«

»Hat er seine alte Hühnerhalle jetzt auf ’n Sperrmüll gestellt, oder was?«

Nicole geht auf den Spruch nicht weiter ein. »Da hängt ein Toter wohl schon halb in der Presse.« Nicole klingt gehetzt. »Ich bin noch in der ›Hidden Kist‹, aber gleich da.«

Der ehemalige Geflügelbaron Dossmann ist für die beiden Polizisten ein alter Bekannter. Gleich in ihrem ersten Mordfall hatten sie mit ihm zu tun. Und in einem anderen Fall hatte ein in Nordfriesland untergetauchter Mafioso in Dossmanns grausam überfüllter Hühnerhalle eine wilde Schießerei angezettelt, bei der das zerrupfte Federvieh gleich reihenweise zu Tode kam. Insbesondere Nicole ist nicht gut auf den ungehobelten Großbauern und früheren Funktionär des Geflügelzüchterverbandes zu sprechen.

Als Thies sich zu Fuß Dossmanns Anwesen nähert, sieht er schon den orangen Müllwagen an der Einfahrt stehen. Am Rand liegen mehrere Teile einer voluminösen Polstergarnitur und etliche Schrankelemente. Bei Dossmanns steht offenbar gerade ein Möbelaustausch ins Haus. Nicole ist auch bereits vor Ort. Von der »Hidden Kist« ist es nicht weit. Im Augenblick steht sie mit zwei Männern in Orange noch etwas ratlos vor dem offenen Heck des Wagens mit der großen Presse, die den eingeworfenen Sperrmüll gleich vor Ort zusammenquetscht.

Die Presse und auch der Motor des riesigen Fahrzeugs sind ausgestellt. Zwischen den beiden dicken Stahlplatten der Presse klemmt schon halb zerdrückt und in das Innere des Autos hineingezogen ein Polstersessel, Teil einer voluminösen Polstergarnitur in ockerfarben gewürfeltem Kunstsamt, die Thies und Nicole von früheren Befragungen im Hause Dossmann noch dunkel in Erinnerung haben. Aber den Sessel beachten sie gar nicht. Alle starren fassungslos auf die große alte, durch die Presse aufgebrochene friesische Truhe. Das Holz ist zersplittert, zwischen den zerborstenen Teilen liegt ein Mann, in einer weißen Jacke und einer schwarz-weiß kleinkarierten Bäckerhose. Ein Teil der Hose und das dazugehörige Bein sind von den stählernen Schaufeln der Presse bereits erfasst und nicht mehr zu sehen.

»Sieht tatsächlich nach ’nem Bäcker aus«, stellt Thies fest. »Aber von hier is der nich.«

»Ist Ihnen gar nicht aufgefallen, dass in der Truhe einer drin ist?« Die Kommissarin sieht die beiden Männer von der Abfallwirtschaftsgesellschaft Nordfriesland kurz an, dann wieder auf die karierte Hose.

»Is eigentlich normal.« Der kleine Mann in Orange zieht an seiner Zigarette.

»Das finden Sie normal?« Die Kommissarin ist entrüstet.

»Wir sagen immer, gebündelt hinlegen, nicht einzeln. Und die Schränke als Ganzes zusammenlassen, weil, dat is für uns dann einfacher zu laden. Dann kann ich das mit dem Kollegen in einem hier hinten in die Sammelwanne reinschmeißen, und die hydraulische Presse nimmt sich das gleich, und der Fall is erledigt.« Der Mann scheint die Situation noch gar nicht ganz realisiert zu haben.

»Für uns ist dat sauberes Arbeiten«, schaltet sich sein Kollege ein. »Manche nehmen die Möbel auseinander, und dann bleibt die Hälfte auf der Straße liegen. Nich schön fürs Straßenbild. Und wir dürfen dann alles einsammeln.«

»Aber hier war alles vorbildlich hingestellt«, stellt der kleine Dicke klar.

So genau wollen Thies und Nicole es eigentlich auch nicht wissen. Aber für die beiden Sperrmüllleute gibt es kein Halten mehr. Offenbar versuchen sie damit ihren Schock über den grausigen Fund zu kompensieren. Vor allem wollen sie klarstellen, dass sie keine Schuld am Tod des Bäckers trifft.

»Wir fahren alles ab, was am jeweiligen Tag bis sieben Uhr zur Abholung bereitgestellt und für die Restmülltonne zu sperrig ist.«

»Diesen Klopper von Polstersofa kriegst ja nich in die Tonne rein.« Der Kleine in Orange zeigt auf den ausladenden Dreisitzer in gewürfeltem, nicht mehr ganz taufrischen Kunstsamt.

»Is euch nich aufgefallen, dat die Kiste schwer war? Da war schließlich einer drin«, unterbricht Thies ihn.

»Wir nehmen alles mit, was nich länger als zwei Meter und nich schwerer als siebzig Kilo is, dat is so festgeschrieben. Und viel schwerer war er auch nich.«

»Dat wiegen wir nich nach«, ergänzt sein Kollege großzügig. »Wir wollen auch eine reibungslose Abholung gewährleisten.« Die beiden tun so, als seien Thies und Nicole zur Müllberatung gekommen.

»Ganz so reibungslos ist es hier ja offensichtlich nicht gelaufen«, geht Nicole jetzt dazwischen.

»Wieso, dat war alles normaler Sperrmüll. Nur gefährliche Stoffe, Chemikalien, Farben und so weiter müssen extra, und Elektrogeräte, dat geht alles gesondert zum Recycling.« Nicole muss gleich an Antjes ausrangierte Fritteuse denken. Doch der kleine Dicke ist mit seiner Einführung in die Welt der Abfallentsorgung noch nicht fertig. »Aber er hier gehört eindeutig nich dazu.«

»Dat is dann … na ja … ein Fall für die thermische Verwertung«, erklärt sein Kollege.

»So weit sind wir noch nich«, unterbricht Thies ihn jetzt. »Erst mal muss da die Spurensicherung ran.«

Die Kommissarin hat schon das Handy gezückt, um den Gerichtsmediziner und die Kollegen von der Kieler Kriminaltechnik nach Fredenbüll zu beordern.

Die beiden Männer in Orange interessiert das wenig. »Wir müssen dann auch langsam mal weiter.« Der kleine Dicke ist schon auf dem Weg zum Fahrerhaus des Müllwagens.

»Halt! Stopp!« Der Fredenbüller Polizeihauptmeister pfeift ihn gleich zurück. »Hier geht im Augenblick überhaupt nichts weiter. Es geht schließlich um Mord.«

»Wir haben noch ’ne Tour, sonst bleibt hier der ganze Sperrmüll auf der Straße stehen«, protestiert der andere Müllmann. »Wie sieht denn das aus? Und wieso überhaupt Mord?«

»Ja, wat denn, meinst du, der Bäcker hat sich da zum Sterben in’ Schrank gesetzt?« Thies schüttelt den Kopf. »Mann, Mann, Mann.«

»Wie haben Sie den Toten überhaupt entdeckt?«, will Nicole wissen.

»Na ja.« Der Dicke tritt seine Zigarette aus. »Wir haben den Schrank da zu zweit reingeworfen.«

»Ordentlich mit Schwung. War ja nich ganz leicht.«

»Und dann hab ich aus dem Fahrerhaus die Presse angefahren, und dann hat mein Kollege auch schon geschrien.«

»Ich hab gleich gesehen, dass da einer im Schrank sitzt. Ich dachte, ich guck nich richtig.«

Zu ihrer nächsten Frage kommt die Kommissarin gar nicht. Mit wiegenden Schritten kommt Ex-Geflügelbaron Dossmann die lange, von Thujen gesäumte Auffahrt herunter.

»Gibt dat hier Probleme mit unserm Sperrmüll?«, blökt der ehemalige Großbauer.