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Der Major ist es gewohnt, etwas später zur Arbeit zu erscheinen. Das »Café Bellissimo« in Bad Harzburg öffnet auch erst ab elf Uhr seine Pforten. Und für die aktuellen, banalen Arbeiten im Keller der Bäckerei, die Grabung des Tunnels, fühlt er sich ohnehin nicht zuständig. Außerdem könnte er sich dabei sein englisches Jackett schmutzig machen. Major Horst hat das große Ganze im Blick. Um sich darauf zu konzentrieren, braucht er ein ausgiebiges Frühstück am späteren Vormittag. Er sitzt in karierter Weste und mit frisch gekämmtem Toupet an dem mit Fredenbüller Spezialitäten reich gedeckten Tisch. Während die anderen Mitglieder von Scholles Gang auf Klappliegen und Luftmatratzen in der Wohnung über der Bäckerei schlafen und Samira in ihrem Camper aus alten Zirkuszeiten übernachtet, hat sich Major Horst in Renates Fredenbüller Pension einquartiert. Renate ist glücklich, nach langer Flaute endlich mal wieder einen Feriengast zu beherbergen. Sie verwöhnt den etwas seltsamen Mister Hazelspoon mit Deichkäse vom Biohof Brodersen und selbst eingemachter Hagebuttenmarmelade. Die altmodischen Umgangsformen ihres Gastes gefallen ihr. Und irgendwie wird sie das Gefühl nicht los, den Herren früher schon mal im Fernsehen gesehen zu haben.

»Verehrte Frau Renate, ob ich Sie wohl um eine weitere Tasse Kaffee bitten dürfte?«, säuselt dieser mit angedeutet englischem Akzent.

»Na klar, kommt sofort, und vielleicht noch ein zweites schönes Bioeichen, Mister Hasel … ähh … spleen?«

»Sie haben ganz recht, verehrte Frau Renate, warum eigentlich nicht.« Er zwinkert ihr durch seine gelbgetönte Riesenbrille zu, und gut fünf Minuten später eilt die Fredenbüller Pensionswirtin mit einem weiteren Ei heran und schenkt ihm aus der Thermoskanne Kaffee nach. Horst widmet sich währenddessen der Lektüre des ›Nordfrieslandboten‹.

Nach dem Frühstück stattet Horst Hazelspoon der Schlütthörner Bankfiliale einen Besuch ab. Wencke Petersen ist dort nach wie vor Filialleiterin. An zwei Tagen in der Woche ist neuerdings ein weiterer Mitarbeiter vor Ort. René Sobrinski kümmert sich um die Anlageberatung für Privatkunden. Die Nordfriesische Raiffeisenbank hat jetzt auch eine Abteilung für Investment Banking. Bei nordfriesischen Großbauern, Fährreedern und bei Windkraftinvestoren liegen beträchtliche Gelder brach, an denen die Eigentümer und auch die Bank verdienen könnten.

»Wir sollten mal dran denken, Ihr Depot etwas umzuschichten«, lautet Sobrinskis Standardsatz. Da ist der Major ganz seiner Meinung. Nichts anderes haben er, Scholz und seine Gang vor.

Heute möchte Horst aber erst mal nur ein Schließfach anmieten und sich dabei vor allem in den Räumlichkeiten der Bank umsehen. Im Schalterraum stehen nur ein Kasten mit einer Hydrokultur und eine Seniorin mit Rollator vor dem Geldautomaten. Als der Major den Raum betritt, wird er gleich von Wencke und Sobrinski taxiert. Der Mann ist den beiden unbekannt. Aber der englische Maßanzug könnte auf ein Wertpapierdepot mit Beratungsbedarf hinweisen.

»Was können wir denn für Sie tun?«, kommt Wencke Petersen auf ihn zu.

»Sobrinski«, stellt sich der Jungbanker mit dem gegelten Haarkamm und der orangen Krawatte, dem Markenzeichen der Raiffeisenbanken, vor.

»Hazelspoon.« Der Major blickt sie durch die gelbe Brille aus den leicht vorstehenden Augen an. »Well, Sie haben hier doch sicher auch Schließfächer?«

»Haben Sie denn ein Konto bei uns oder einer anderen Raiffeisenbank?« Dabei weiß Wencke sehr genau, dass dieser seltsame Herr im großkarierten Jackett zumindest in ihrer Schlütthörner Filiale kein Konto hat. »Oder wollen Sie bei uns erst mal ein Konto eröffnen, Herr Hazel … ähhh …?«

»… spoon. Hazelspoon. Zunächst mal ein Schließfach.« Der Major streicht sich vorsichtig über sein künstliches Haarteil.

»Unsere Schließfächer sind im Augenblick offenbar heiß begehrt. Ein anderer Kunde …« Sie unterbricht sich selbst. »Der hat auch kein Konto bei uns, sondern wollte nur das Fach.« Wencke kommt das etwas seltsam vor. Was sind das für Gelder oder Wertsachen, die die Herren hier in der Provinz deponieren wollen? Denn dieser Hazelspoon kommt nicht aus Schlütthörn und auch nicht aus Fredenbüll oder Neutönninger Siel. Und der andere Mann ebenfalls nicht.

»René, kannst du mit Herrn Hazelspoon mal hinuntergehen?« Wencke nickt ihrem Kollegen zu, der sich eigentlich für die Anlageberatung zuständig fühlt und nicht für diese Art Hilfsdienste.

»Wir müssen noch eine Sekunde warten, es ist noch ein anderer Kunde unten bei den Schließfächern.«

»Herr Sobrinski wird Ihnen ein Schließfach zeigen, und anschließend müssen wir dann noch ein paar Formalitäten erledigen.«

Gut, dass er seinen Ausweis dabeihat, denkt Horst, und zwar den richtigen, den ein alter Freund ihm in einer versteckten Kellerwerkstatt auf Sankt Pauli auf den Namen Hazelspoon ausgestellt hat.

In dem Augenblick kommt der andere Kunde die Treppe aus dem Kellergeschoss in den Schalterraum. Für einen kurzen Moment stehen sich der Major und der Mann gegenüber. Horst starrt den anderen durch seine gelbgetönte Brille an. Irgendwie kommt ihm der tiefschwarze messerscharf rasierte Kotelettenbart bekannt vor. Und auch der andere mustert den Major mit stechendem Blick aus seinen stahlblauen Augen. Es ist nur ein kurzer Moment, dann wendet sich der Mann ab, nickt Sobrinski kurz zu und verlässt eilig die Bank.

Sobrinski geht mit dem Major hinunter in die Kellerräume der kleinen Filiale. Sie kommen gleich an dem großen Haupttresor vorbei. Horst, der Major, wirft im Vorbeigehen einen interessierten Blick auf den Geldschrank mit dem Zahlenrad und dem Drehkreuz zum Öffnen. Die Marke erkennt er gleich, ein »Kellner«, nicht das allerneuste Modell, aber die genaue Baureihe kann er auf die Schnelle nicht einordnen. Doch er meint, den Typ der Zahlenräder identifizieren zu können. Eine lösbare Aufgabe für Rusty und sein Stethoskop, hofft Horst.

»Den benötige ich im Augenblick nicht.« Er deutet auf den chromblitzenden Tresor und verzieht die Mundwinkel zu einem Grinsen. »Da liegen vermutlich die Gelder Ihrer Großkunden und Ihre eigenen Barreserven?«

»Ein sicherer Tresor. Aber unter uns, Sie würden sich wundern, wie wenig da zurzeit drin liegt.« Sobrinski streicht sich den Haarkamm nach oben.

»Mir reicht fürs Erste ein kleines Schließfach. Es geht um ein paar Papiere.«

Während Sobrinski ihm ein Schließfach öffnet, versucht Horst sich in den Räumlichkeiten zu orientieren. Wo genau würde ihr Tunnel in die Kellerräume der Bank stoßen? Vermutlich kommen sie hier in diesem Raum mit den Schließfächern heraus. An einer Wand steht ein Element mit einer kleinen Tischfläche und einer Art Bord darüber. Es sieht aus, als könnte man dieses Element verrücken. Daneben hängt das Plakat der Raiffeisenbanken: Wir machen den Weg frei! Horst ist sich auf einmal sicher, dass sie an dieser Wand mit dem Tunnel herauskommen müssten.

Bankmann Sobrinski zieht eine Kassette aus dem Schließfach. »Dann lasse ich Sie mit Ihrem neuen Schließfach mal alleine.« Er verabschiedet sich zögernd.

Der Major beginnt sofort, den Raum abzuschreiten und sich alles genaustens anzusehen. Er macht schnell ein paar Fotos und untersucht das Tischelement. Und dann hat der Major eine Idee. Er schiebt die leere Kassette in das Schließfach zurück, schleicht sich vorsichtig zu dem großen Tresor, macht auch davon noch ein Foto und gibt Wencke und Sobrinski Bescheid, dass sein Fach verschlossen werden kann. Jetzt weiß er, wie sie vorgehen. Jetzt hat er einen Plan, den genialen Plan für den Coup. Der Major ist mit sich selbst zufrieden. Eine Bank ist doch etwas anderes als bei Buttercremetorte Bad Harzburger Witwen zu trösten.