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Die Sonne ist hinter dem Deich untergegangen. Samira sitzt in ihrem Wohnwagen aus längst vergangenen Zirkustagen. Sie ist richtig erledigt von dem Job in der Bäckerei. Dass sie dort die Tage hinter der Ladentheke stehen muss, davon hatte ihr Scholle nichts erzählt. Bengali-Yoga war dagegen eine leichte Übung, und damals im »Zirkus Zamproni« hatte sie tosenden Applaus bekommen. Den darf sie an der Theke der Küstenbäckerei »Backbord« nicht erwarten. In der Bäckerei fühlt sie sich nicht mehr wie Samira, sondern wieder wie Sandra.

›The Winner Takes It All‹ scheppert es aus dem alten Kassettenrecorder durch den noch älteren Zirkuswagen mit der abgeblätterten Aufschrift. Das Gerät steht seit Jahrzehnten hier im Wagen, und die ABBA -Kassette steckt schon immer in dem Rekorder. Andere Musik hat es hier noch nie gegeben. Immer nur ABBA , ›Super Trouper‹, ›Take a Chance‹ und immer wieder ›The Winner Takes It All‹. Die ehemalige Artistin hat bereits mehrere Whiskey Sour intus. Sie singt laut mit und wirft die frisch frisierte rote Mähne. »I don’t wanna talk, about things we’ve gone through …« Für einen Moment fühlt sie sich wie in den farbigen Scheinwerferkegeln auf der sandigen Arena des »Zirkus Zamproni«. Sie sieht die im Licht blitzenden Messer ihres Partners auf sich zufliegen. Sie hört das Raunen und ein paar erschreckte Schreie der Zuschauer im Rund und den tosenden Applaus, wenn sich »Zorro und Samira« mit großer Geste vor ihrem Publikum verbeugten. Sie waren die Stars vom »Zamproni«. Die Leute kamen nicht wegen des blöden Clowns oder des vom Zirkusdirektor durch die Manege dirigierten lahmen Lamas. Sie muss nur an diese traurige Szenerie denken, schon rutscht sie wieder in whiskeyselige Melancholie.

Was will sie hier eigentlich mit Scholle und diesen trüben Tassen? Scholle ist ja ein netter Kerl, aber »das Hirn«? Seit mehreren Wochen schaufeln sie sich durch die Erde, ohne zu wissen, wo genau sie rauskommen. Ein durchgeknallter Sprengstoffexperte will alles in die Luft jagen. Der Tresorknacker ist mitten im Entzug. Und der selbsternannte Major in seinem albernen karierten Anzug bastelt Modelle aus Salzteig. Was soll dabei rauskommen? Liegen in dem Tresor der Bank zu Pfingsten überhaupt diese sagenhaften Einnahmen der Fährreederei, oder hat sich das Superhirn das nur alles ausgedacht? Zahlt es sich überhaupt aus, dass sie sich wochenlang in der Bäckerei die Füße platt steht? Als Bäckereifachverkäuferin hat sie diesen Job nicht angetreten.

Und auch sonst hat sie ein komisches Gefühl. Was war das für eine seltsame Frau, die anfänglich immer wieder vor der Bäckerei aufkreuzte, aber nie in den Laden hineinkam? Als Sandra sie draußen ansprechen wollte, drehte sie sich um und verschwand sofort. Wer war das? Was wollte die hier vor der Bäckerei? Und was vor allem war das für ein Skelett, das die Jungs in der Wand der Backstube gefunden hatten? Samira hat ja viel übrig für verrückte Geschichten und verrückte Typen. Aber Scholle und seinen Komplizen fehlt irgendwie die Aura.

Zwischen zwei Songs ist kurz das schrille Piepen eines Austernfischers zu hören. Das Licht des aufgehenden Mondes streift das kleine Wohnwagenfenster. Nach der Hälfte ›Waterloo‹ spult sie die Kassette zurück auf Anfang. Bei ›The Winner Takes It All‹ fühlt sich Sandra dann schon wieder wie Samira. Und dann bringt der Song sie auf eine Idee. Ehe sie sich von dem Superhirn und den anderen Blitzmerkern mit müden Almosen abspeisen lässt, sollte sie lieber erst mal selbst zugreifen. Warum sollte ihr Anteil nicht ein bisschen höher sein als der der Schatzgräber im Backstubentunnel? Vielleicht sollte er sogar wesentlich höher sein.

»So the winner takes it all, and the loser has to fall.«

Samira tanzt durch den alten Camper. Und dann erscheint wie aus dem Nichts plötzlich ein Gesicht in dem kleinen Fenster. Es sieht eher aus wie eine Fratze. Hat sie zu viel getrunken, oder träumt sie?

»Though it’s hurting me, now it’s history.«

Und dann ist ihr das vom Mond beschienene Gesicht auf einmal sehr vertraut. Die langen, straff zurückgekämmten tiefschwarzen Haare, die ebenso dunklen, scharf rasierten Koteletten und der Fu-Manchu-Bart.